Ich finde es erstaunlich, wieviele Familien sich gar nicht mehr raustrauen. Also so gar nicht gar nicht. Das passt doch dann auch wieder nicht. In der Praxis beraten wir gerade viel, Patienten kommen eher wenige, das hatte ich die letzten Wochen schon mehrmals geschrieben, weil wir alle Termine verschoben haben.
Dennoch führen wir alle Vorsorgeuntersuchungen bis zur U6 durch, machmal auch noch eine U7, also bis zum ersten bzw. zweiten Lebensjahr. Dabei kommt es regelmäßig zu Fragen und Beratung rund um das Corona-Virus, vor allem die Jungeltern mit einem ersten Kind sind naturgemäß besonders besorgt. Die anderen mit Großfamilie haben sich sowieso eine nonchalante Art angewöhnt, mit der Situation umzugehen, denn den Großen fällt ohne Kindergarten oder Schule die Decke auf den Kopf, da sind alle froh, mal rauszugehen.
Der Papa des sechs Monate alten Säuglings fragt mich nach meiner Meinung zu den Auflagen der Kontaktsperre und des Hinausgehens. Er erzählt mir, dass der Besuch heute zur U5 in der Praxis das erste Mal ist seit drei Wochen, dass der kleine Henrik nach draußen kommt. „Mal von ein paar Minuten am offenen Fenster abgesehen.“ Das finde ich schon erschreckend, und wahrscheinlich ist das für das Kind auch nicht besonders gesund, ganz zu schweigen, was das intrafamiliär für einen psychischen Druck bedeutet. Der kleine Henrik hat noch einen fünfjährigen Bruder, der darf auch nicht raus. Papa erzählt, Lars sei entsprechend genervt, frage ständig nach dem Kindergarten, und die Bespassungsspiele gehen auch langsam aus. Man sitze vermehrt vor dem Tablet oder dem Fernseher.
Die Eltern haben Angst davor, dass das Virus beim Spaziergehen die Kinder befallen könne, Henrik hat einen angeborenen Herzfehler, nichts Gravierendes, aber „Herz“ ist für alle Eltern was Schlimmes. Ich versuche dem Vater zu vermitteln, wie wichtig eine tägliche Routine vor allem für den größeren Lars sei, wie sehr er es bestimmt genießen würde, wenn Papa mit ihm mal zum Kicken in der Garagenauffahrt antrete. Nein, das sei den Eltern zu gefährlich. Es könnten ja potentiell Ansteckende am Gartenzaun vorbeilaufen. Ich repetiere mein Drosten-Wissen von der Überlebensfähigkeit des Corona-Virus an der freien Luft, die Abstandsregel und die geringe Chance auf eine Infektion, wenn die Gartengucker nicht gerade demonstrativ über den Jägerzaun husten würden. Mal sehen, ob es wirkt.
Immer mehr tragen in der Praxis übrigens Mundschutz, wenn sie uns besuchen. Übrigens nur die Eltern. Die Kinder – auch die grossen – tragen keine. Die Eltern toppen das manchmal mit Einmalhandschuhen. Ein Vater trug beim Abholen einer Überweisung eine FFP2-Maske, die fMFA sollte den gelben Schein auf die Theke legen und dann einen Schritt zurücktreten. Hat sie gemacht.
Diese Woche hatte ich die ultimative Erkenntnis: Dank der Kindergärten- und Schulschließungen bekommen die Kinder auch keine anderen Viren mehr ab. Kein Durchfall, keine Bindehautentzündungen, kein Scharlach (= Bakterien), keine Hand-Fuß-Mund, alles bleibt aus. Bisher dachte ich, die Eltern melden sich nicht, weil sie mit den Kindern im Moment lieber keine Praxis besuchen wollen, aber nein, es gibt einfach weniger Ansteckungsmöglichkeiten. Epidemiologieforschung im Kleinen. Deshalb kann ich die Lockerung der Ausgangsbestimmungen, wie das inzwischen von manchen gefordert wird, um die Wirtschaft wieder anzukurbeln, nicht unterstützen. Kinder sind zwar wenig klinisch von Corona betroffen, aber übertragen und fröhlich austauschen würde sie es sehr wohl, sie sind die genuinen Multispreader, sie träfen in ihren Gruppen jeden Tag auf zwanzig oder dreißig Freunde, sie haben viel häufiger und intensiveren Kontakt als wir Erwachsene. Wie wollte man das dosieren? Und sind wir ehrlich: Die Dummen verstehen nur klare Ansagen, ausgesuchte Kontaktlockerungen z.B. für Prüfungsklassen oder nur für einzelne Grundschulklassen würde sofort zu mehr Mißbrauch und Laissez-faire führen.
Es ist weiterhin keine Lieferung von Schutzausrüstung durch die Kassenärztliche Vereinigung angekommen. Man beliefere zunächst die Notfallambulanzen, völlig ok, dann die Versorgerpraxen wie Haus- und Kinderärzte. So wurde es bereits vorletzte Woche kommuniziert, Anfang dieser Woche kam die Mail, die Lieferungen haben begonnen. Ich warte geduldig.
Zum Ausklang heute noch ein wenig Musik, die ärzte, Michael Stipes, das Lumpenpack und ein Link zu meinem neuen Corona-Lieblingslied (via Spotify, der Tipp kam von der Fidi+Bumsi-Playlist der Herren Schulz und Böhmermann):
Bleibt gesund!
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