Mein Corona-Senf IV

Mein Corona-Senf IV

So, die zweite Woche geht nach dem „Herunterfahren“ in der Praxis geht zu Ende. Bedeutet bei uns: Alle Vorsorgen ab dem 2. Lebensjahr und sonstige planbare Termine sind verschoben. Mit Erleichterung bekamen wir die Nachricht der Kassenärztlichen Vereinigung, dass die Zeitfenster, die es normalerweise für Vorsorgen gibt, bis zum Herbst ausgesetzt worden sind. Bedeutet, wir können alles verschobene hoffentlich im Sommer nachholen, und bekommen das auch bezahlt. Hoffen wir, dass der BOT im KV-Rechner das auch so sieht, wenn ich im September eine U8 bei einem Kind abrechne, das schon fünf Jahre alt ist ;-)… Aber Scherz beiseite: Hiermit geht ein großes Lob an die Kassenärztlichen Vereinigungen in Deutschland raus. Soweit meine interne Kinderarztbubble verkündet, bekommen die niedergelassenen ÄrztInnen sehr viel unbürokratische Unterstützung, vor allem Abrechnungsregularien werden gelockert. Ein Rettungsschirm für Honorareinbußen ist offiziell angekündigt. Mal sehen, wie es dann in realite aussieht.

Achso, liebe KV: Die vollmundig angekündigten Schutzanzüge nebst Mundschutz und Handschuhen sind weiterhin nicht angekommen, auch wenn bereits letzte Woche avisiert und Bedarf abgefragt. Unsere Ausrüstung in der Praxis ist mittlerweile auf zwei FFP2-Masken zusammengeschrumpft. Die Schutzbrillen können wir ja mehrfach verwenden. Freunde meiner Frau haben uns textile MNS genäht, wie allgemein bekannt und ausgeführt, sind diese aber letztendlich nur ein schlechter Spuckschutz für die anderen. Wir tragen sie aber inzwischen bei den Säuglingen, denen wir ja doch sehr nahe kommen. Die Eltern verstehen das und nehmen es dankbar an. Die Kleinkinder schauen etwas verunsichert. Vielleicht wird es ja doch die Mode der nächsten Wochen. Das Netz ist jedenfalls inzwischen voll mit Nähanleitungen.

Am Donnerstag habe ich mich dann mal komplett in Schutz eingekleidet. Nein, nicht zur Übung, sondern weil tatsächlich eine Einjährige mit Atemnot angekündigt war, Eltern beide ebenfalls krank, der Vater angeblich mit C-Kontakt. Sein Abstrich stand noch aus. Die bauliche Einteilung in unserer Praxis lässt es zu, dass wir die Familie komplett von anderen trennen können, sie gehen durch den Nebeneingang in unser Isolierzimmer, davor liegt ein Tisch mit Mundschutzen und Handschuhen, durfte die Mutter anziehen. Dem Kind kann man das nicht zumuten. Ich quetschte mich in den Schutzanzug, Handschuh, Brille, FFP-Maske. Das letzte Mal steckte ich zu Schweinegrippezeiten in so einem Ding. Bin ich wirklich so dick geworden? „Die müssen so sein, Du willst doch, dass sie hautdicht abschließen“, sagte meine Kollegin. Ja, danke.

Dem Kind gings dann doch ganz gut. Von der Atemnot war nur noch eine verstopfte Nase übrig, kein Fieber, die Kleine grinste mich an, als sehe sie tagtäglich Menschen in Schutzanzügen. Auch die begleitende Mutter wirkte nicht sonderlich krank, der Vater sei ja nur „zur Sicherheit“ zuhause und der Hausarzt habe ihn nur abgestrichen, weil „das sei ja so üblich“. Nein, dachte ich, ist es eigentlich nicht. Mit dem berichteten „angeblichen C-Kontakt“ bleibt man einfach zuhause. Punkt. Wie auch immer. Ich habe auf einen Abstrich beim Kind verzichtet, letztendlich hätte der keine Konsequenz.

Wie sieht es eigentlich hier in der Umgebung aus? Ich war bis Ende letzter Woche erstaunt, wie sehr sich die Menschen an die Auflagen halten, nur in der Familie oder maximal zu zweit nach draußen zu gehen. Beim Sonntagsspaziergang sahen meine Frau und ich auch nur Pärchen spazieren, jeder nahm gebührenden Abstand, man grüßte sich winkend und säuerlich lächelnd. Heute sieht es schon wieder anders aus: Samstag, die Temperaturen klettern auf über 18 Grad hier, jeder werkelt in seinem Garten, ok, aber es sind auf den Straßen hier im Neubaugebiet zumindest kleine Kindergangs unterwegs, ja, auch mehr als zwei und ja, auch mit den Nachbarkindern. Man kennt sich schließlich. Wenn sie an unserem Grundstück vorbeigehen, vereinzelt sich die Gruppe, man kennt schließlich den Kinderarzt (Spässle, der letzte Satz war Fake). Aber im naheliegenden Park mit Teichen und Lustschlösschen ist der Parkplatz bis auf den letzten Platz vollgefüllt. So vereinzelt kann man gar nicht laufen.

Ich habe inzwischen mein Medien-Menü heruntergefahren: Twitter reicht als Informationsquelle vollkommen aus (ohne Benachrichtigungen), meine Pushmeldungen habe auf die Tagesschau reduziert, sonst drehe ich noch völlig ab. Dass Boris Johnson positiv ist und Angie in Quarantäne ist scheinbar eine Meldung wert, die stündlichen Infektionszahlen sind mir aber zuviel. Die morgendliche Zeitung ist inzwischen nur noch halb so dick. Obligatorisch bleibt der NDR-Podcast mit Professor Drosten, vermutlich bekommt der Mann das Bundesverdienstkreuz mitsamt dem Grimme-Preis am Bande. Zur Stimmungsaufhellung genieße ich die tägliche Dosis „Fest und Flauschig“ auf dem Weg hin und zurück von Arbeit, dazu gönne ich mir hie und da einen Livestream, wie sie gerade viel und kostenlos zur Verfügung gestellt werden. So sah ich „Le nozze di Figaro“ der Stuttgarter Oper und so manches Konzert von Igor Levit (meist täglich via Twitter).

Bleibt gesund!

(Wer möchte: Die Kolumne im „Berliner Tagesspiegel“ gibt es jetzt zügig online. Hier die letzten zwei – „Jeder für sich – für alle“ und „Kinder ohne Schutzraum“.)


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