ALL FALL DOWN
USA 1962
Mit Brandon De Wilde, Warren Beatty, Angela Lansbury, Eva Marie Saint, Karl Malden, Barbara Baxley u.a.
Drehbuch: William Inge nach einem Roman von James Leo Herlihy
Regie: John Frankenheimer
Studio: John Houseman Productions / MGM
Dauer: 110 min
Der Film lief im deutschsprachigen Raum 1962 unter dem abenteuerlichen Titel Mein Bruder, ein Lump in den Kinos.
Vorspann:
Clinton Willart (De Wilde), ein Student aus Ohio reist nach Florida, um seinen älteren Bruder Berry-Berry (Beatty) zu besuchen. Von diesem hatte die Familie schon lange kein Lebenszeichen mehr erhalten. Schnell wird deutlich, dass Clinton den älteren Bruder vergöttert; die Nachricht, dass Berry-Berry im Knast sitzt, steigert Clintons Bewunderung für den „Outcast“ noch um ein paar Grade.
Die Eröffnungssequenz in Key West, Florida, skizziert die Qualität der brüderlichen Beziehung: Der jüngere Clinton nimmt sich den grossen Bruder als mögliches Vorbild mit auf dem Weg zum Erwachsenwerden, bewundert dabei vor allem dessen vermeintliche innere Freiheit, dank der sich Berry-Berry auch von zwischenmenschlichen Konventionen losgesagt hat.
Im zweiten „Akt“ lernen wir das Elternhaus kennen. Clinton ist zurück in Ohio, wo er versucht, sein Verhalten dem des grossen Bruders anzugleichen und – allerdings zaghaft – „den Aufstand“ zu proben. Die Eltern, ein derangiertes Mittelschicht-Paar, taugen nicht als Vorbilder. Mutter Annabelle (Lansbury) ist neurotisch, besitzergreifend und dominant, Vater Ralph (Malden) zum resignierten Trinker geworden. „Der verlorene Sohn“ Berry-Berry wird auch von den Eltern idolisiert, allerdings blenden sie dessen Verhaltensschwierigkeiten vollständig aus.
Als mit Echo O’Brien (Saint) eine Freundin der Willarts zu Besuch kommt, zu der sich Clinton emotional stark hingezogen führt, bahnt sich eine Katastrophe an – denn auch Berry-Berry ist auf dem Weg ins Elternhaus…
Der Film:
Ich bin echt kein Freund psychologisierender Kinodramen, ganz besonders nicht, wenn sie dazu auch noch mit Symbolik aufgeladen sind. Es gibt aber Ausnahmen, und die finden sich allesamt im amerikanischen Kino der Fünfziger- und Sechzigerjahre. Die Amis können das einfach – meist steht bei ihnen nicht „das Leiden“ als solches im Zentrum, wie das im europäischen Film oft der Fall ist, sondern die Figuren und deren Beziehungsgeflecht. Und wenn diese Figuren dann auch noch mit derart starken Schauspielern besetzt sind wie im vorliegenden Film und auch die Dialoge stimmen, dann hat man mich „im Boot“.
All Fall Down ist wieder mal einer dieser geschmähten und deshalb vergessenen Filme, deren Neuentdeckung ich mir auf die Fahnen geschrieben habe. Von diesem hier bin ich fast restlos begeistert!
Er steht ganz in der Tradition der Tennessee-Williams-Verfilmungen und -stücke jener Zeit, in welchen die Handlungen der Figuren oft aus ihren familiären Hintergründen heraus psychologisch „erklärt“ werden. Auch hier geschieht dies, allerdings auf angenehm unaufdringliche Weise: Die Hinweise und psychologischen Zusammenhänge sind da, für jene, die sie zu erkennen vermögen. Diese Ebene wird nie überstrapaziert, die „Botschaft“ wird dem Zuschauer nicht mit dem Zeigefinger ins Auge gedrückt. Man kann die subtil platzierten Hinweise und Zusammenhänge sehen oder nicht. Wer sie sieht, der wird den Tiefgang des Films bemerken. Die anderen nicht.
Die Symbolik ist manchmal etwas stark präsent, aber ebenfalls ohne sich plump in den Vordergrund zu spielen. Drehbuchautor William Inge – wie Tennessee Williams ursprünglich ein Theaterautor – hat eine hervorragende Arbeit abgeliefert. Ebenso der Regisseur. Das familiäre Geflecht der Willarts wird im Roman ausführlich ausgebreitet. Der Film muss mit viel weniger auskommen. Inge und Frankenheimer gelingt das Kunststück, mit knappsten Mittel alle nötigen Hinweise zu geben. Es ist alles da – mal ist es ein Satz, mal ein Blick, mal ein Kamerawinkel – man muss es nur beachten. Die Zeit war damals allerdings noch nicht reif für dieses feinsinnige Drama, der Film wurde ein Flop (zur Rezeptionsgeschichte siehe letzter Abschnitt).
Die Romanvorlage stammt übrigens von James Leo Herlihy, dem Autor des Romans Midnight Cowboy, der 1969 mit Dustin Hoffman und Jon Voight verfilmt wurde.
John Frankenheimer war beim Dreh 31 Jahre alt. Nach einigen aufsehenerregenden Arbeiten für das Fernsehen war All Fall Down sein dritter Kinofilm – und der erste von drei Spielfilmen, die er alle 1962 drehte (die anderen beiden waren The Birdman of Alcatraz und The Manchurian Candidate). Zusammen mit Kameramann Lionel Lindon und den Art Directors E. Preston Ames (An American in Paris) und George W. Davis (The Time Machine) schafft Frankenheimer im Haus der Willarts eine beklemmende, beengende Atmosphäre, welche die Derangiertheit der Familie über die verdrehte Architektur und die chaotische Einrichtung sicht- und spürbar macht.
Und er findet Bilder, die einen noch heute treffen wie ein Schlag aus heiterem Himmel. Etwas wie die Liebessequenz zwischen Berry-Berry und Echo etwa habe ich zuvor noch nicht gesehen: Sie ist gleichzeitig zärtlich-berührend, fiebrig-delirierend und jagt einem doch Schauer des Entsetzens über den Rücken. Wie sein Kollege Elia Kazan arbeitet Frankenheimer mit extremen Nahaufnahmen von Gesichtern, ein Stilmittel, das den Schauspielern alles abverlangt.
Und die geben alles!
Die gesamte Crew ist hervorragend – ausnahmslos. Das Talent, das hier versammelt wurde, ist geradezu atemberaubend. Keiner fällt auch nur im Geringsten ab – All Fall Down gehört für mich zu den Filmen mit der kompaktesten Ensembleleistung.
Allen voran muss Angela Lansbury erwähnt werden – sie gibt die neurotische Annabelle geradezu beängstigend echt. Da ist jede Gesichtsmuskelzuckung am richtigen Platz. US-Kritiker bemängeln Lansburys überangestrengten Südstaaten-Slang. Natürlich ist die britische Mimin vom linguistischen Standpunkt aus gesehen eine merkwürdige Wahl für diese Rolle; doch wir Europäer bemerken eventuell falsche Betonungen nicht und können uns ganz auf die grandiose Leistung der Aktrice konzentrieren – und darüber staunen. Annabelle ist die zentrale Figur des Dramas, um sie, die Monster-Mutter, dreht sich im Grunde alles, sie ist der Ursprung des Tragödie. Alle anderen Familienmitglieder reagieren auf ihre Weise auf ihre psychischen Übergriffigkeiten: Der ältere Sohn Berry-Berry, indem er vor ihr in die Unerreichbarkeit flüchtet; die psychische Unabhängigkeit jedoch erreicht er nie, und so ist er ein Zerrissener zwischen Flucht und unstillbarer Sehnsucht nach der Mutter, eine Zerrissenheit, die ihn zum Getriebenen macht. Warren Beatty schafft in diesem seinem dritten Kinofilm das Kunststück, die Zerrissenheit spürbar zu machen, er spielt Berry-Berry mit unstetem Blick, als gehetzten, im Innersten verletzlichen Halbstarken, der nicht weiss, wohin er gehört und was er in der Welt soll. Vater Ralph flüchtet ebenfalls vor Annabelle, allerdings in die psychische Isolation und in den Alkohol. Ralph ist die Figur, die am einfachsten gestrickt ist, auch die liebenswerteste. Karl Malden spielt ihn, als hätte er nie andere Rollen gespielt. Er verschmilzt derart mit Ralph Willart, dass man glauben möchte, er spiele sich selbst. Der jüngere Sohn Clinton, die eigentliche Hauptfigur des Films, hat die höchste Präsenzzeit im Film. Clinton wird gerade erwachsen und sucht seine Rolle im Leben. Ihm leiht der früh verstorbene Brandon De Wilde sein Gesicht. Er spielt Clinton mit einen erstaunlichen Mischung aus Unsicherheit und Gefestigtheit. Man zweifelt keinen Moment daran, dass Clinton als einziger „gesund“ aus dem Drama hervorgeht und seinen Platz im Leben findet. Im Grunde steckt der ältere Bruder Berry-Berry genau im selben Prozess wie Clinton. Doch im Gegensatz zu diesem steckt Berry-Berry darin fest – seit Jahren, und es gibt keine Hoffnung für ihn, da jemals heraus zu kommen.
All Fall Down ist ein bitterer Film über die fragilität menschlicher Beziehungen. Ich halte ihn für ein Meisterwerk, das im Schatten von Frankenheimers anderen Filmen schmählich vergessen worden ist.
Abspann:
-Brandon De Wilde kennen Westernfreunde als Junge Joey aus George Stevens Shane (dt.: Mein grosser Freund Shane, 1953). Vor und nach All Fall Down war er in Philip Dunnes Blue Denim (dt.: Die Unverstandenen, 1959) mit Carol Lynley zu sehen und in Martin Ritts Hud (dt.: Der Wildeste unter tausend, 1963) an der Seite von Paul Newman. De Wilde verstarb 1971 im Alter von 30 Jahren an den Folgen eines Autounfalls.
–Warren Beatty trat zuvor in José Quinteros Film The Roman Spring of Mrs. Stone (dt.: Der römische Frühling der Mrs. Stone, 1961) auf, einer Tennessee Williams-Verfilmung mit Jante Leigh in der Hauptrolle. Danach hatte er die männliche Hauptrolle in Robert Rossens Lilith (1964), neben Jean Seberg und Peter Fonda.
–Angela Lansbury war zuvor 1961 an der Seite von Elvis Presley im Kino zu sehen – in Norman Taurogs Musical-Comedy Blue Hawaii! Nach All Fall Down arbeitete sie erneut mit John Frankenheimer zusammen und spielte in dessen The Machurian Candidate (dt.: Botschafter der Angst, ebenfalls 1962) eine ähnliche Rolle wie im Vorgängerfilm.
–Karl Malden drehte im Vorjahr mit Delmer Daves Parrish (dt.: Sein Name war Parrish), wo er einen Bösewicht spielte. Nach All Fall Down arbeitete er im selben Jahr gleich nochmals mit John Frankenheimer zusammen und spielte den Gefängniswärter in The Birdman of Alcatraz (dt.: Der Gefangene von Alcatraz).
–John Frankenheimer drehte im Jahr zuvor The Young Savages (dt.: Die jungen Wilden) mit Burt Lancaster. 1962 drehte er hintereinander drei Meisterwerke: All Fall Down, The Birdman of Alcatraz und The Manchurian Candidate.
–William Inge war Theaterautor, mehrere seiner Stücke wurden von anderen Autoren für den Film bearbeitet, z.Bsp. Come Back, Little Sheba (dt.: Komm zurück, kleine Sheba), oder Bus Stop. Fürs Kino schrieb er lediglich drei Drehbücher: Splendor in the Grass (dt.: Fieber im Blut, Elia Kazan, 1961, ebenfalls mit Warren Beatty), All Fall Down (1962) und Bus Riley’s Back in Town (dt.: Widersteh, wenn du kannst, Harvey Hart, 1965), letzteres allerdings unter dem Pseudonym Walter Gage. Fürs Fernsehen schrieb Inge wesentlich mehr Originalrehbücher.
Sein Drehbuch zu Splendor in the Grass gewann 1961 den Oscar.
1973 setzte der depressive Autor seinem Leben ein Ende.
Rezeption:
All Fall Down kam bei seinem Kinostart nicht gut an. Bosley Crowther von der New York Times verdammte den Film in Bausch und Bogen, schimpfte Warren Beattys Figur einen Unsympathen, der den ganzen Film kaputt mache. Völlig unglaubwürdig fand er deshalb die Zuneigung, die ihm von praktisch allen anderen Filmfiguren entgegengebracht wird. „Deshalb funktioniert der ganze Film nicht“, lautete sein Fazit. Warren Beatty bezichtigte er, Marlon Brando und James Dean zu kopieren.
Auch das Publikum mochte Frankenheimers Film offenbar nicht – an den Kinokassen erlitt er einen Verlust von über 1 Million Dollar. Immerhin war er 1962 anlässlich der Filmfestspiele in Cannes für die goldene Palme nominiert (gewonnen hatte dann das brasilianische Drama O Pagador de Promessas (dt.: Fünfzig Stufen zur Gerechtigkeit) von Anselmo Duarte.
Ich behaupte, der Film war seiner Zeit voraus und wurde nicht verstanden. Aus meiner Sicht kann Berry-Berrys Verhalten, das im Film nie erklärt wird, erst heute zumindest ansatzweise interpretiert werden, nachdem viele Erkenntnisse der Psychologie ins Allgemeinwissen übergegangen sind. Sein dysfunktionaler Charakter kann heute definitiv als krank und somit tragisch erkannt werden. Das damalige Publikum scheint er hauptsächlich verunsichert zu haben. Der äusserst merkwürdige Name „Berry-Berry“ weckt Assoziationen zur Krankheit „Beri-Beri“, die unter anderem emotionale Störungen und sensorische Aussetzer auslöst – also genau Berry-Berrys Hauptprobleme. Dieser Umstand ist m.E. ein sicherer Hinweis für die Richtigkeit der „Krankheits-Theorie“.
All Fall Down ist ein meisterhafter, vielschichtiger Schauspielerfilm, der durchaus eine deutsche DVD- oder Blu-ray-Veröffentlichung verdient hätte. Hierzulande war er nicht mal auf VHS erhältlich.
In den USA erschien er als “DVD on demand” innerhalb der Reihe Warner Archive Collection.
Der klassische Film, anderswo gebloggt
A Modern Hero, G.W. Pabsts einziger, 1934 in den USA gedrehter Film bespricht Patrick Holzapfel innerhalb der Pabst-Reihe des Blogs Jugend ohne Film.
Macbeth (USA 1948) von Orson Welles widmet Hoffmann von den Drei Cinéasten einen kurzen Artikel.
L’amore difficile (dt.: Erotica, 1968) ist ein italienisch-deutscher Episodenfilm mit erotischen Geschichten. Der Blog L’amore in Citá widmet ihm eine azsführliche Beschreibung.