«Mehrheit der Opfer des Terrors sind Muslime»

«Mehrheit der Opfer des Terrors sind Muslime»

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Interview in «Zürich West» mit dem ehemaligen Auslandskorrespondenten Ulrich Tilgner.

Zuerst veröffentlicht in «Zürich West» vom 19. Januar 2017.
Interview als PDF lesen.

Welchen Einfluss hat der Islam auf die Schweiz? Der Nahost-Experte Ulrich Tilgner sprach über Flüchtlinge, Terror und was in Zukunft auf Europa zukommt.

Ulrich Tilgner, ist die Angst vor dem Islam berechtigt?
Die Angst vor dem Islam halte ich für völlig unberechtigt. Das wäre, wie wenn im Orient gefragt würde, ob die Angst vor dem Christentum berechtigt ist. Es gab historisch die Kreuzzüge, es gab den Vormarsch der Osmanen bis fast nach Wien. Gegenseitige Ereignisse in der Geschichte, die Traumata ausgelöst haben, die bis heute wirken. Das, was dem Islam angelastet wird, widerfährt ihm meiner Meinung nach weitgehend zu Unrecht. Das sind alte Ängste, die jetzt nach aussen projiziert werden, weil gerade viele Muslime kommen.

Wir müssen uns also nicht fürchten?
Nein, vor dem Islam nicht. Ich glaube, dass Terrorismus und Islam niemals gleichgesetzt werden dürfen. Es ist eine bestimmte Spielart des Islams, den sich Terroristen zunutze machen können.

Was meinen Sie mit Spielart?
Mein einfachstes Beispiel ist immer, dass der Islam, genau wie das Christentum oder das Judentum, den Täter bestrafen will. Das Beduinenrecht, also das orientalische Recht der Wüste und der Stämme, ist das Recht, dass man Vergeltung übt am anderen Stamm. Entweder an der Täterin oder dem Täter oder an einem anderen Mitglied des anderen Stammes. Stichwort Blutrache. Aber das sind alte Rechtsformen, die mit dem Islam wenig zu tun haben.

Wie reagieren die geistlichen Führer des Islams auf den Terrorismus?
Viele der Prediger sind entsetzt über das, was passiert, und sie distanzieren sich. Nur einige wenige tun dies nicht. Das sind die von Saudi Arabien beeinflussten Wahhabiten oder die Salafisten, bestimmte Rechtsschulen, die eine Vermischung zwischen Islam und Stammesrecht gemacht haben.

Dieses Rechtsverständnis hat also nichts Grundsätzliches mit dem Islam zu tun, sondern mit einer Art Splittergruppe.
Ja, das kann man so sagen. Das ist genauso, wie wenn man bestimmte christliche Sekten mit dem gesamten Christentum gleichsetzen würde. Sobald einer beansprucht, dass er ein Muslim ist, dann wird gesagt, die Muslime denken so. Wenn irgendeine christliche Sekte etwas sagt, dann würde man nicht darauf schliessen, dass alle Christen so denken.

Welchen Einfluss hat der Islam auf die Schweiz?
Es wird zunehmend Muslime in der Schweiz geben. Ich glaube jedoch, der Islam wird bei den Gläubigen eine abnehmende Rolle spielen. Genauso wie auch das Christentum immer stärker zur Privatsache wird. Beim Islam wird das ähnlich verlaufen. Die westliche Lebensart führt dazu, dass die Leute aufgenommen werden, sich in den Alltag einfügen und die Religion an Wichtigkeit verliert.

«Die Schweiz muss natürlich fürchten, dass ihr Reichtum irgendwann nicht mehr wachsen wird.»

Weshalb nimmt die Wichtigkeit der Religion ab?
Das liegt an der westlichen Lebensweise. Sie stellt das Individuum in den Mittelpunkt und dieses ist nicht mehr religiös geprägt. Meine Urgrossmutter hat noch Kopftuch getragen, meine Grossmutter manchmal – das waren Bäuerinnen. Das Kopftuchtragen kommt ja nicht aus dem Orient, das haben viele gemacht und heute ist es einfach nicht mehr üblich. Warum soll also der Wandel im Islam in die andere Richtung führen?

Man hat aber den Eindruck eines stärker werdenden Islams.
Der Islam ist bei vielen Muslimen ein Symbol gegen die Verwestlichung, gegen die Überfremdung aus dem Westen. Der Westen tritt ja im Orient nicht mit einem wirtschaftlichen Erfolg auf, sondern mit bestimmten kulturzersetzenden Formen. Die Leute suchen in der Flucht zum Islam eine Alternative. Sie werden sehr schnell feststellen, dass es nicht funktioniert.

Woher kommt die Angst vor dem Islam?
Die Schweiz muss natürlich fürchten, dass ihr Reichtum irgendwann nicht mehr wachsen wird. Deshalb sucht man sich einen Sündenbock. Am einfachsten sind das die Leute, die von aussen kommen und einem das, was man hat, streitig machen. Aber die Probleme liegen ganz woanders.

Wo liegen denn die Probleme?
Die Franzosen haben begriffen, dass es auch ein gutes Stück ihr eigenes Problem ist. Die ersten Anschläge waren direkt aus Syrien organisiert, jetzt sind die Täter eher die in Frankreich geborenen Muslime, die nicht integriert sind.

Der Terror ist also hausgemacht.
Richtig. Bei zunehmender Verarmung auf der einen Seite und sehr konzentriertem Reichtum auf der anderen Seite werden Kleinkriminelle zu Terroristen. Die Ursachen liegen in der westlichen Gesellschaft. Wenn das begriffen wird, dann gibt es auch die Hetze gegen den Islam nicht mehr.

Wie hoch ist die Chance auf einen Anschlag in der Schweiz?
Die Terrororganisation IS hat auf die Schweiz praktisch keinen Einfluss. Von den Schweizern, die zum IS gegangen sind, wurde mindestens die Hälfte getötet. Die meisten sehen, dass es kein Weg ist. Wenn drei bis vier Überzeugungstäter zurückkehren und vom Nachrichtendienst nicht erfasst werden, dann wird es ein oder zwei Anschläge geben. Damit muss man rechnen. Die Wahrscheinlichkeit, durch einen Falschfahrer auf der Autobahn getötet zu werden, ist trotzdem viel höher, als durch einen Anschlag. Es ist falsch, wenn man so tut, als würde der IS bald mit grossen Aktionen in Bern, Basel und Zürich auftreten. Es kann sein, ich halte es aber für unwahrscheinlich.

Weshalb wurden Frankreich und Deutschland zum Ziel des IS?
Diese Länder führen Krieg gegen den IS. Die Schweiz führt keinen Krieg. Wenn Franzosen oder Deutsche gegen den IS kämpfen, sind sie Helden, wenn sie für den IS kämpfen, sind sie Kriminelle. In der Schweiz ist das nicht so.

Der Anschlag in Berlin zu Weihnachten hat auch die Schweiz stark erschüttert. Wie konnte es dazu kommen?
Deutschland hat mehr attentatsbereite Individuen als die Schweiz. Das liegt daran, dass die Deutschen sich am Krieg gegen den IS mit Aufklärungsflugzeugen beteiligen. Die Gefährdungslage der Schweiz ist eine andere als die der anderen europäischen Staaten.

Steckt wirklich immer der IS hinter den Anschlägen?
Ich glaube, dass die Steuerung durch den IS da ist. Er ist die Bezugsorganisation. Aber man kann ja heute im Internet sehr schnell Anleitungen für Attentate finden. Wer dann einen Anschlag verübt, wird sich auf den IS beziehen. Die Bedeutung, die man einzelnen Attentaten beimisst, ist viel grösser, als sie selbst eigentlich haben. Jeden Tag gibt es in Deutschland drei Anschläge auf Asylunterkünfte, nur redet man nicht darüber. Aber wenn es einen Terroranschlag gibt, dann redet man Wochen.

Hat diese Wahrnehmung auch mit der Nähe der Anschläge zu tun?
Das ist ja das Traurige. In Bagdad gibt es dauernd Anschläge. Die Mehrheit der Opfer des Terrors sind Muslime. Jeder, der nicht gemeinsame Sache mit den Terroristen macht, ist in deren Augen ein legitimes Ziel.

«Die Menschen in Afghanistan, Pakistan, Syrien und Afrika müssen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie losziehen.»

Welche Rolle spielen aus Ihrer Sicht die Flüchtlinge?
Das Asylproblem hat mit dem Terrorismus gar nichts zu tun. Leute, die ihr Land aus Angst und Not verlassen, hat es schon immer gegeben. Früher konnte man nach Amerika einreisen und war willkommen, heute wird man abgelehnt. So haben sich die Zeiten geändert. Dass Terror und Flüchtlinge zusammengemengt werden, ist eine neue Erscheinung. Das hat auch mit dem Stand unserer Gesellschaft zu tun.

Das heisst, man möchte vor allem den Wohlstand erhalten und keine Flüchtlinge.
Man möchte einfach die guten Flüchtlinge. Den Professor aus Damaskus, mit zwei schönen Töchtern, die beide Universitätsabschlüsse haben. Das ist der ideale politische Flüchtling. Doch es fliehen auch viele Menschen vor dem Terror, die nicht Professoren sind. Es laufen ja nicht die Terroristen weg.

Die meisten Flüchtlinge sind also keine Terroristen.
Nein, nicht die meisten, sondern 99 Prozent. Der Flüchtlingsstrom ist nur das Vehikel, mit dem einzelne Terroristen nach Europa gelangen. Die Terroristen würden auch andere Wege finden. Die Flüchtlinge kommen nach Europa, denken, hier ist es besser, und werden wie Terroristen behandelt. Die verstehen ja die Welt nicht mehr.

Wie könnte man das ändern?
Mit einer klaren Regelung für Einwanderung und für politisches Asyl. Die Menschen in Afghanistan, Pakistan, Syrien und Afrika müssen wissen, worauf sie sich einlassen, wenn sie losziehen. Die Staaten müssen sehr viel tun, dass sie die Aufnahme und die Verfahren transparent machen. Menschen aus dem Orient, die nach Kanada, Australien, Neuseeland oder in die USA emigrieren wollen, wissen genau, wen die Behörden akzeptieren und wen nicht.

Wo liegt der Unterschied zu Europa?
Die Länder, die ich erwähnt habe, sind Einwanderungsländer. Nach Europa flieht man, weil es dort besser ist, aber man weiss gar nicht, worauf man sich einlässt. Die Europäer müssen eine klare Einwanderungspolitik entwickeln.

Eine Politik, die für alle in Europa gilt?
Wenn die Europäische Union das im Gleichschritt schafft, dann wäre das ja toll, aber ich sehe das nicht. Deutschland müsste da vorangehen. Die Asylpolitik wird offiziell nicht geändert. Trotzdem werden die Flüchtlinge nicht mehr durchgelassen und hängen in Italien oder der Türkei fest. Deutschland will nicht aufhören mit der Willkommens-Kultur, weil das so schön ankam auf der Welt, gleichzeitig aber zeigen, dass es nicht mehr klappt. Beides geht nicht.

Müsste man das mit Kampagnen im Internet und Fernsehen machen?
Das wäre eine Möglichkeit. Wenn die Regeln klar sind, wird die Magnetwirkung von Deutschland schwächer werden. Und die Schweiz liegt eben auf dem Weg. Wenn man dann schon mal nach Zürich gekommen ist, bleibt man eben dort.

Wird sich die Lage in den nächsten Jahren wieder entspannen?
Nein. Jetzt ist Europa mit den politischen Flüchtlingen und den Folgen von fehlgeschlagenen militärischen Interventionen in Afghanistan, Irak und Syrien konfrontiert. Künftig werden die Menschen aus Afrika kommen – wegen des gewaltigen Bevölkerungswachstums und des Klimawandels, also auch Klimaflüchtlinge. Am Südrand der Sahara gibt es jetzt schon neun Millionen Flüchtlinge. Völkerwanderungen gab es immer. So lange es Europa so gut geht und anderen Staaten schlecht, wird es einen Bevölkerungstransfer geben.

Zur Person
Der deutsche Journalist Ulrich Tilgner berichtete bis 2014 über 30 Jahre lang als Korrespondent unter anderem für ZDF und das Schweizer Radio und Fernsehen aus dem Nahen und Mittleren Osten. Seit 2015 ist der 69-jährige Nahostexperte pensioniert. 2003 erhielt er den Hanns-Joachim- Friedrich-Preis für Fernsehjournalismus. (pw.)

31. 1., 20 Uhr, Podium mit Ulrich Tilgner und Reinhard Schulze: Ist die Angst vor dem Islam berechtigt?. Normales Ticket 27 Franken, Studenten/AHV 16 Franken. Erhältlich bei Ticketino.com, Réception Hotel Spirgarten oder Abendkasse. Theater Spirgarten, Lindenplatz 5, 8048 Zürich.



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