Berlin/Islamabad – Kurz vor der Wahl des neuen Parlaments glaubt die Mehrheit der Afghanen nicht an ein faires Votum – trotz aller Versicherungen der eigenen Regierung und zahllosen hoffnungsvollen Aussagen der internationalen Gemeinschaft. Für den Urnengang am Samstag rechnen nur 36 Prozent mit einer transparenten Abstimmung. Trotzdem wollen 70 Prozent der Wähler bei der Bestimmung der 249-köpfigen Kammer ihre Stimme abgeben.
Die dramatischen Zahlen über die Haltung der Afghanen zur Demokratisierung gehen aus einer Umfrage der Konrad-Adenauer-Stiftung hervor. Gemeinsam mit der Kabuler Universität hatte sie in den Wochen vor dem Urnengang rund 5000 repräsentativ ausgesuchte Afghanen aus fünf verschiedenen Provinzen befragt.
Die Ergebnisse illustrieren neben den gravierenden Zweifeln an einer freien Wahl auch das tiefe Misstrauen der Afghanen in die schwache Regierung von Hamid Karzai, der im November 2009 trotz Wahlfälschungen erneut als Präsident vereidigt worden war. Durch die Umfrage wird sichtbar, wie wenig Rückhalt der vom Westen unterstützte Präsident und mit ihm die ganze politische Klasse im Land bei den Wählern noch haben.
Rückschlag für die Kabuler Regierung und für die USA
Ganze 65 Prozent der Befragten verneinten, dass sie mit der Arbeit von Karzai zufrieden seien. Noch schlechter schnitt das Parlament ab: Nur 30 Prozent sagten, sie seien mit der Arbeit der Abgeordneten einverstanden. Bei der von Karzais Team massiv gefälschten Wahl vergangenes Jahr konnte der Amtsinhaber nach seinen Berechnungen 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Besonders in der Hauptstadt ist das Misstrauen groß: In Kabul sind 91 Prozent aller Befragten mit der despotischen Regierungsführung unzufrieden.
Der Beinahe-Zusammenbruch der Kabul-Bank, aus deren Reserven sich Verwandte und Freunde Karzais schamlos bedient hatten, dürfte den Frust gegenüber dem Palast noch einmal vergrößert haben. Zudem blockierte der Präsident trotz aller gegenteiligen Versprechungen des Westens weiter jegliche Ermittlungen gegen korrupte Minister und seine Vertrauten im Regierungsklüngel.
Die Umfrage ist ein herber Rückschlag, nicht nur für die Kabuler Regierung. Vielmehr belegen die Zahlen den immensen Frust der Afghanen neun Jahre nach Kriegsbeginn. Im Jahr 2010, in dem die von den USA angeführten westlichen Nationen vor allem über den Zeitpunkt ihres Abzugs reden, sieht die Realität vor Ort düster aus. So oft die internationale Gemeinschaft die anstehende Wahl als weiteren Meilenstein zur Demokratisierung Afghanistans bezeichnet, so eindeutig illustrieren die Zahlen, wie wenig die Afghanen selbst daran glauben.
Mehrheit befürwortet Machtbeteiligung der Taliban
Neben der Haltung zur Demokratie liefert die Umfrage weitere Einblicke in das Meinungsbild Afghanistans:
- So bejahten 74 Prozent der Befragten, dass mit den Taliban verhandelt werden solle. In den östlichen Provinzen, wo der Krieg besonders heftig geführt wird, befürworteten sogar bis zu 90 Prozent Gespräche mit den Militanten, in Kabul waren es immer noch 62 Prozent. Im Landesdurchschnitt sagen 61 Prozent, dass man die Taliban an einer künftigen Machtstruktur beteiligen sollte.
- Der Arbeit der Schutztruppe Isaf, derzeit mit 150.000 Mann in Afghanistan stationiert, stellten die Befragten nur ein mittelmäßiges Zeugnis aus. Jeder Zweite gab an, die internationale Schutztruppe Isaf nicht als Garantin für Sicherheit in Afghanistan zu empfinden.
In den vergangenen Monaten hatte sich die Truppe unter der Führung der USA eine neue Strategie auferlegt. Demzufolge sollte der Schutz der Bevölkerung besonders in den Städten neben dem Kampf gegen die Taliban höchste Priorität haben.
Genutzt hat das offenbar noch nichts. Die fragile Sicherheitslage ist die größte Sorge der Isaf vor den anstehenden Wahlen. Bis heute wurden schon drei Kandidaten für die Wahl ermordet, viele weitere Helfer starben bei Anschlägen und gezielten Angriffen. Nach massiven Drohungen der Taliban werden mehr als 25 Prozent aller geplanten Wahllokale erst gar nicht öffnen.
Bedenken über massive Wahlfälschungen
Westliche Geheimdienste rechnen fest damit, dass die Taliban den von internationalen Medien stark beobachteten Wahlgang für ihre brutale Propaganda und Anschläge nutzen werden. Die Bedrohung durch die Taliban und die stark eingeschränkte Bewegungsfreiheit in Afghanistan haben die Wahl schon jetzt massiv beeinflusst. Selbst in den Provinzen rund um die Hauptstadt Kabul konnten Kandidaten kaum Werbung für sich machen, zu gefährlich sind Überlandfahrten und öffentliche Auftritte. Im Süden und im Osten des Landes fand so gut wie gar kein Wahlkampf statt.
Schon jetzt stapeln sich Hunderte von Beschwerden bei der zuständigen Kommission – doch ob die Einwände der Kandidaten Erfolg haben, ist ungewiss. Die westlichen Truppen wollen sich am Wahltag trotzdem eher im Hintergrund halten, da die Wahl zumindest symbolisch ein erfolgreicher Testlauf für die im Aufbau befindlichen afghanischen Sicherheitskräfte sein soll. Zwar haben Nato-Einheiten in den vergangenen Tagen Gruppen mutmaßlicher Attentäter festgenommen oder getötet, doch am Wahltag setzt die Nato auf das vielbeschworene „afghanische Gesicht“ rund um die Wahllokale.
„Lokale Sicherheitskräfte werden für ein sicheres Umfeld verantwortlich sein“
Wird der Urnengang von Anschlägen und Übergriffen überschattet, wäre das ein weiterer herber Rückschlag für den zur Schau getragenen Optimismus der westlichen Verbündeten. Der Oberkommandierende der Nato-Truppen versprach den Einwohnern des krisengeschüttelten Landes denn auch die Unterstützung der internationalen Soldaten. „Die Wahlen werden von den Afghanen organisiert und geführt, die lokalen Sicherheitskräfte werden für ein sicheres Umfeld und die Bewegungsfreiheit der Wähler verantwortlich sein“, sagte US-General David Petraeus SPIEGEL ONLINE. „Doch die Isaf wird die afghanischen Partner so unterstützen, dass die Menschen ihre Stimme abgeben können.“
Außer den Sicherheitsrisiken werden auch Bedenken über Wahlfälschungen lauter. Landesweit tauchten Tausende von gefälschten Wahlkarten auf. Aus Pakistan war zu hören, Parlamentskandidaten seien selbst ins Nachbarland gekommen und hätten paketweise Wahlkarten drucken lassen. Mit den bei den letzten Wahlen fälschlich ausgestellten Wahlkarten für sogenannte Geisterwähler addieren sich die neuen Imitationen zur enormen Summe von bis zu drei Millionen Wahlberechtigungen, was einem Sechstel aller möglichen Stimmen entspräche.
Theoretisch, so jedenfalls die Optimisten unter den Beobachtern, sind die gefälschten Wahlkarten zwecklos. Da jeder Wähler nach der Stimmabgabe eine nicht abwaschbare Markierung am Zeigefinger erhält, sollen mehrfache Stimmabgaben nicht möglich sein. Die Erfahrungen aus den vergangenen Jahren aber zeigen, dass dieses Kontrollinstrument kaum Wirkung zeigt. Die großen Zweifel der meisten Afghanen, ob diese Wahl wirklich frei, gleich und gerecht sein wird, scheinen mehr als berechtigt zu sein.
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