Mehrdimensionale Gerechtigkeit

Von Modesty

Wenn die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft nach Gerechtigkeit fragt, kann man ganz sicher sein, dass am Ende irgendein Scheiß dabei heraus kommen wird, der keinesfalls das abbildet, was die Leute auf die Frage, was denn gerecht sei, tatsächlich geantwortet haben. Die Pressemitteilung der INSM ist entsprechend ein Spitzenprodukt an Verdrehung und Schönsprech – aber genau das ist ja die Aufgabe dieser Lobby- und Propaganda-Organisation.

Und weil doch tatsächlich fast 70 Prozent (also unerwartet viele) der Befragten finden, dass es in Deutschland nicht gerecht zuginge, haben die Profi-Kommunikatoren einfach “unterschiedliche Gerechtigkeitsdimensionen” definiert. Denn wenn man die ganze empfundene Ungerechtigkeit in den richtigen Dimensionen betrachtet, sieht alles gleich schon gleich viel gerechter aus. Dann kommt nämlich heraus, dass doch nur relativ wenige Menschen konkret nach Verteilungsgerechtigkeit verlangen – und das ist gut so, denn umverteilen ist ja so ziemlich das allerletzte, was einem neoliberalen INSMler in den Sinn käme.

Huch, ist die Gesellschaft ist ja ungerecht: Schöne bunte Bilder von der INSM.
Rechnen können die auch nicht: Wenn in der oberen Schale 2 Männchen sitzen, dann müssten in der unteren 9 sitzen, wenn man die Prozentzahlen ernst nähme.

Im Gegenteil, je ungerechter die Gesellschaft, desto dynamischer geht es darin zu, weil es ein Wahnsinnsgefälle zwischen den Millionengehältern von Managern und den Hungerlöhnen etwa bei den Amazon-Leiharbeitern und ihren Aufpassern und entsprechend starke Spannungen gibt. Dynamik ist immer wieder was ganz Tolles, darauf steht die INSM. Dynamik ist nämlich gut für die Wirtschaft, weil die einen richtig Reibach machen können, für den sich die anderen halb bis ganz tot schuften müssen, ohne dass man ihnen groß was abgeben müsste – schon weil die unglaublich dynamische Krisensituation in EUROpa für Nachschub an billigen und willigen Arbeitskräften sorgt. Das ist zwar genau das, was viele Leute nicht gerecht finden, aber die sind noch in der falschen Dimension.

Die INSM heraus nämlich auch gefunden, dass es den Leuten unheimlich wichtig ist, dass die Leute von ihrer Arbeit leben können müssen – und, noch wichtiger, dass die Leute, die nicht arbeiten, auch weniger Geld bekommen, als Leute, die jeden Tag arbeiten gehen. Daraus folgt logischweise: Wer nicht arbeitet, muss auch nicht genug zum Leben bekommen. Noch logischer: Die Hartz-Reformen waren eindeutig der richtige Weg, um mehr Gerechtigkeit herzustellen!

Und dann wird gleich noch mal betont, dass große Einkommensunterschiede an sich von den meisten gar nicht als dermaßen problematisch empfunden werden – eigentlich würden sich die Leute gar keine egalitäre Gesellschaft wünschen, sondern soziale Unterschiede akzeptieren – zumindest solange irgendwie ein sozialer Ausgleich erfolgte. Hierüber ist die INSM nicht so happy, weil die Leute als sozialen Ausgleich höhere Steuern für Unternehmer, einen höheren Spitzensteuersatz oder eine Vermögenssteuer gut fänden. Deshalb lässt sie diese Dimension im Folgenden einfach weg. Stattdessen wird die Lieblingsdimension “Chancengerechtigkeit” in den Fokus gerückt.

„Bildung ist vorsorgende Sozialpolitik: Deutschland leistet sich zu viele Schulabbrecher und Menschen ohne abgeschlossene Ausbildung. Mehr Gerechtigkeit entsteht durch gleiche Bildungschancen. Hier muss die Politik ihren Ankündigungen endlich Taten folgen lassen, statt auf rückwärtsgewandte Steuerdiskussionen oder populistische Umverteilungsforderungen zu setzen.“

Chancengerechtigkeit ist eine besondere Form der Ungerechtigkeit, weil ja klar ist, dass nicht jeder, der eine Chance hat, diese auch nutzen kann. Wenn man 100 Bewerber auf einen Job hat, die alle eine Eins im Abitur und ihr Studium mit Auszeichnung abgeschlossen haben, hat jeder eine faire Chance. Aber trotzdem bekommt am Ende nur einer den Job und 99 gehen leer aus – nach Ansicht der INSM ist das aber total gerecht. Und Steuerdiskussionen sind total von gestern – da gab es nämlich höhere Spitzensteuersätze und so weiter. Aber hier hat die INSM ja segensreich für die Besserverdiener gewirkt, das will sie sich jetzt nicht kaputt machen lassen. Und Umverteilungsforderungen sind ja eh reiner Populismus, hier sollte doch jede Partei inzwischen wissen, dass die gegen den Willen der INSM niemals durchgesetzt werden können. Die Wähler dieser Parteien haben das übrigens schon begriffen und gehen deshalb auch gar nicht mehr wählen.

Klassenkampf müssen die am oberen Ende der wunderbaren Dynamikskala allerdings keinen fürchten, weil eine relevante Mehrheit der Menschen die immer und immer wiederholte Geschichte von der klassenlosen Gesellschaft, in der es jede und jeder in Freiheit und Marktwirtschaft zu etwas bringen kann (sofern sie oder er irgendeinen brauchbaren Abschluss geschafft haben) dermaßen verinnerlich haben, dass sie tatsächlich entgegen jeder praktischen Erfahrung weiterhin daran glauben wollen. Das ist allerdings kein Verdienst der INSM, sondern der durchschlagende Erfolg unseres Bildungssystems, in dem man alles lernt, was man für das Leben als erfolgreicher deutscher Untertan so braucht – und eben nicht selbst zu denken.