Mehr Zeichentrick: Von Existentialismus, Krieg, Fremdheit und parallelen Universen

Im Gegensatz zu anderen angekündigten Fortsetzungen, die in diesem Blog nie das digitale Tageslicht erblicken durften, gibt es hier nun den zweiten Teil meines Plädoyers für gehaltvolle Zeichentrickfilme. Und Achtung, er ist ein wenig länger geraten. Es wird auch wieder teilweise gespoilert, wer das nicht will, vermeide jeweils die mittleren Bereiche der Beiträge.
Weil die Welt aber so schnelllebig ist, gibt es eine kleine Änderung zur Ankündigung aus dem ersten Beitrag zu diesem Thema: Ich werde mir Prinzessin Mononoke, ein Klassiker der japanischen Zeichentrickfilmkunst, für später aufheben und das Augenmerk stattdessen auf einen aktuelleren Titel richten. Aber beginnen wir mit…

Waking Life (2001)

Cover of

Cover of Waking Life

Eigentlich ist dieser Eintrag ein wenig geschummelt, denn Waking Life ist nicht wirklich komplett als Zeichentrickfilm entstanden. Technisch gesehen wurde der gesamte Film tatsächlich mit echten Menschen und normalen, billigen Kameras gedreht, bevor er in mühevoller Kleinarbeit und mit Hilfe einer Technik, die sich Rotoscoping nennt, von Zeichnern am Computer per speziell angefertigter Software quasi nachgezeichnet wurde. Dieselbe Technik verwendete Linklater dann später nochmal für den auf einer Geschichte von Philip K. Dick basierenden Film A Scanner Darkly. Soviel zur Technik, doch worum geht’s?

Nun, eigentlich um alles. Und nichts. Vom Plot reist ein junger Mann, einen Namen erfährt man nicht, durch eine Welt, die sich als Traumwelt entpuppt und die ihn zu Gesprächen mit oder Dialogen zwischen diversen zum Teil bekannten Individuen verhilft. Die Themen sind dabei breit gestreut, es geht um Realität, um Existenzialismus, Posthumanismus, luzide Träume, Philosophie, den amerikanischen Staat. Wir begegnen so unter anderem dem Regisseur Steven Soderbergh, den Schauspielern Ethan Hawke und Julie Delpy (in einer Szene, die dem Linklater-Film Before Sunrise nachempfunden wurde), dem Chemiker Eamonn F. Healy oder den Philosophen Louis H. Mackey und David Sosa. Wem die Namen nichts sagen, braucht keine Angst haben, Vorkenntnisse sind eigentlich nicht notwendig. Aber der Film verlangt schon mächtig Aufmerksamkeit, mal so eben nebenbei lässt sich Waking Life kaum begreifen, selbst auf deutsch. Die anspruchsvollen Themen werden überaus phantasievoll visualisiert, die Tatsache, dass sich der Protagonist in einer Traumwelt befindet, haben die Animatoren auf die Spitze getrieben, die gesamte Welt wabert und wankt immerzu, die Farben wechseln aufgrund von Emotion oder Aktion und der Stil bleibt über weite Strecken so inkonsistent wie die Story, die man beim ersten Schauen womöglich noch sucht. Es ist schwer diesen Film in Worte zu fassen und insofern ist er definitiv nur für überschaubares Publikum überhaupt interessant. Was durchaus Schade ist, denn nie zuvor hat ein Film (geschweige denn ein Animationsfilm) so tief schürfende Themen angepackt und so überzeugend visuell verpackt. Man kommt sicherlich wegen des Visuellen in den Film und muss sich selbst die Frage stellen, ob man wegen oder trotz der Themen dabei bleibt.

Auch ich finde den Film schwierig, die Bilderwelt ist berauschend aber gewöhnungsbedürftig und es ist nicht überraschend, dass man den Film nicht ohne Weiteres in einer Sitzung durchbekommt. Hier wird nichts Seichtes, nichts Action-lastiges, keine Hollywood-Hausmannskost, ja vielleicht nicht mal Unterhaltung geboten. Aber trotz allem ist der Film in jeder Hinsicht besonders und in vielen Dingen einzigartig. Das fanden auch die Kritiker und daher liegt die Wertung von Rottentomatoes bei 80%, metacritc kommt auf 82 Punkte. Nur wegen der fantasievollen Traumwelten allein lohnt es, sich mal einen Ruck zu geben und  einen Blick zu riskieren. Und sich zu fragen, wie real die eigene Realität eigentlich wirklich ist…

The Place Promised in Our Early Days (2004)

Cover of

Cover of The Place Promised in Our Early Days

Erst vor wenigen Wochen hab’ ich diesen Film während der Vorbereitung für den ersten Beitrag dieser Reihe überhaupt gefunden, er landete sogleich auf meiner Leihliste. Vor ein paar Tagen dann lag die Disc im Postkasten. Animes haben mich schon immer fasziniert, zu Schulzeiten liefen im Frühprogramm regelmäßig Serien wie Mila Superstar oder Die Macht des Zaubersteins und meist blieben zwischen dem Frühstück und dem Gang zum Bus 15 bis 20 Minuten Zeit für die Glotze. Aber erst als Erwachsener wurde ich auf die großen Erfolgsgeschichten wie Neon Genesis Evangelion oder eben Anime-Spielfilme wie Das Schloss im Himmel, Only Yesterday oder Chihiros Reise ins Zauberland aufmerksam. Auffällig ist das breite Themenspektrum und die vielen unterschiedliche künstlerischen Stile mit denen die Geschichten erzählt werden. Die Japaner, so muss man wohl konstatieren, haben die Möglichkeiten des gezeichneten Films sehr viel sorgfältiger und weiter entwickelt als der europäische Zeichentrickfilm.

The Place Promised in Our Early Days spielt in einer alternative Zeitlinie, Japan wurde nach dem zweiten Weltkrieg geteilt, der Süden ging an die USA (die Allianz) während die Union (wahrscheinlich die Sowjetunion) die nördliche Insel Hokkaido beanspruchte. Dort begann man auch mit dem Bau eines riesigen Turms, der scheinbar allen Rätsel aufgibt.
Die Jungen Hiroki und Takuya bauen in ihren Sommerferien an einem Düsenflugzeug, der “Bella Ciela”. Bald lernen sie das Mädchen Sayuri kennen, alle drei gehen auf dieselbe Schule. Man freundet sich an und die Jungs beschließen, wenn das Flugzeug fertig ist, zusammen mit Sayuri nach Hokkaido zum Turm zu fliegen. Leider verschwindet sie eines Tages spurlos und bald darauf trennen sich auch die Wege der beiden Jungen, weil sie die Trauer nicht verwinden können.
Drei Jahre später arbeitet der talentierte Takuya bereits als Physiker im Labor der Allianz (gesponsert von der NSA) und beforscht Paralleluniversen. Offenbar ist dort bekannt, dass der Turm als eine Art Tor zu einem Paralleluniversum dient und im Umkreis von zwei Kilometern die Materie mit Parallelmaterie “ersetzt” hat. Die Frage ist, warum nur zwei Kilometern?
Hiroki ist derweil in Tokio und leidet unter Depressionen. Er trifft in seinen Träumen auf Sayuri und nimmt die Suche nach ihr wieder auf, nachdem er einen Brief von ihr bekommt. Sayuri wird allerdings nicht, wie man vermuten könnte, vermisst, sondern befindet sich in einem Krankenhaus, weil sie an unerklärlicher Narkolepsie leidet und seit ziemlich genau drei Jahren nicht mehr aufgewacht ist. Den Brief an Hiroki und Takuya hatte sie noch vorher geschrieben. Sie wird ins Allianz Labor verlegt, weil man an eine Verbindung zum Turm und den Paralleluniversen glaubt.
Die Spannungen zwischen der Allianz und der Union wachsen weiter und es sieht stark nach Krieg aus. Weil man in dem Turm eine Waffe sieht, soll er im Falle einer Kriegserklärung der Union schnellstens vernichtet werden. Auch Sayuri ist mit dem Turm verbunden: Ihr Großvater hat ihn gebaut und nur ihr Koma begrenzt den Wirkungsradius. Er vergrößert sich weiter, wenn Sie zu Bewusstsein kommt.
Takuya erfährt wo Sayuri ist, er trifft Hiroki bei ihrem noch immer unfertigen Sommerprojekt und sie müssen sich entscheiden, ob Sie die Welt retten oder lieber Sayuri. Oder gibt es eine Möglichkeit, beides zu tun?

Als Science-Fiction-Geek muss man schon mal sagen, dass da in der Story reichlich aufgefahren wird. Dafür sind Anime ja unter anderem auch bekannt. Und trotz dieser Themenlage und der Geschichte vor einer alternativen Zeitlinie geht es um ganz simple Dinge wie Freundschaft, Zukunft, die menschliche Existenz. Das funktioniert, weil die liebevollen Charaktere einem schnell ans Herz wachsen. Und auch wenn der Schluss meiner Meinung nach ein bissl dick aufgetragen ist, der Film ist definitiv einen Blick Wert. Das finden auch die Kritiker mit einer Wertung von 80% bei Rottentomatoes. Auf der Disk gibt’s außerdem eine kleine aber sehr interessante Einführung ins Japanische. Ich finde ja, Filme tauchen im Sprachunterricht noch viel zu selten als Hausaufgabe auf. An dieser Stelle übrigens mal ein Danke an Frau Winter, die uns im Englischunterricht damals den Papagei-Sketch von Monty Python vorgespielt hat. Ich hab’ ihn leider erst Jahre später lustig gefunden. *g*

Die letzten Glückwürmchen (1988)

Grave of the Fireflies (Hotaru no Haka, 1988)

Grave of the Fireflies (Hotaru no Haka, 1988) (Photo credit: quicheisinsane)

Anime sind nicht nur gut, wenn sie mit fiktiven historischen Hintergründen arbeiten. So spielt dieser Film, basierend auf dem Roman Das Grab der Leuchtkäfer von 1967, in der Endphase des zweiten Weltkrieges in Japan. Ich würde sagen, dass man ihn als Anti-Kriegsfilm bezeichnen kann, der sich zwar mit erwachsenen Themen beschäftigen, aber durchaus auch kindgerecht ist. Das darf in den Kommentaren auch gerne diskutiert werden.

Protagonist ist der vierzehnjährige Junge Seita, der sich um seine vierjährige Schwester Setsuko kümmert. Beide kämpfen ums Überleben, nachdem ihre Mutter bei einem Bombenangriff stirbt. Ihr Vater ist bei der japanischen Marine und somit im Krieg. Sie kommen bei ihrer Tante unter, die sich nur widerwillig um sie kümmert, Seita aber nötigt den Kimono seiner Mutter für Reis zu verkaufen. Seita beschafft außerdem von ihm zuvor versteckte Nahrungsmittel und teilt alles bis auf eine Dose Fruchtbonbons mit der Tante.Wegen der immer geringeren Rationen, die sie bekommen, werden die Kinder für die Tante mehr und mehr zur Last, was sie auch ganz offen sagt. Sie arbeiten nicht für ihr Essen.
Darum beschließen sie eines Tages von dort fortzugehen, außerhalb der Stadt kommen Sie in einem Bunker unter und müssen sich fortan selbst versorgen. Um Nacht Licht zu haben fangen Sie Glühwürmchen ein, müssen aber entsetzt feststellen, dass diese am nächsten Tag tot sind. Auch die Versorgung ist schwierig, denn trotzdem Seita ausgebombte Häuser durchsucht und Nahrung von den Feldern stiehlt, reicht das Essen bald nicht mehr für beide. Als Seita seine kränkelnde Schwester zum Arzt bringt, stellt dieser nur fest, dass sie unter starker Unterernährung leidet, bietet aber keine Hilfe an. Seita holt daraufhin in Panik das letzte Geld vom Konto seiner Mutter um damit Nahrungsmittel zu kaufen. Er erfährt, dass Japan kapituliert hat und das auch sein Vater sehr wahrscheinlich tot ist. Er kehrt zu Setsuko zurück, die vor Hunger schon halluziniert, und kocht für sie noch ein Essen, aber sie stirbt wenig später. Mit Hilfe einiger Vorräte eines Bauern, richtet Seita ein Feuerbestattung aus und trägt die Asche zusammen mit einem Foto seines Vaters in der Bonbondose. Er hat allen Lebensmut verloren und stirbt letztendlich ebenfalls.

Es macht wenig Sinn eine so herzzerreißende Geschichte einfach nachzuerzählen, denn die Tiefe liegt in den großartigen Bildern, die der Film für diese Tragödie findet. Wenn jemand ernsthaft Zweifel an der emotionalen Wirkung animierter Filme hat, dann ist Die letzten Glühwürmchen wohl das beste Gegenbeispiel. Der Kontrast zwischen aufkeimender Hoffnung und dem realen Abgrund, dem die Charaktere zu entfliehen versuchen zieht sich durch den gesamten Film und schaukelt sich immer weiter hoch. Der Film beginnt eigentlich am Ende, die Story wird also posthum von Seita erzählt, so dass von vornherein klar ist, wie der Film enden wird. Trotzdem legt sich über diese Grundtragik eine Schicht nach der anderen. Nur wenige Realfilme zeigen den Krieg auf diese Art und Weise und richten sich dennoch auch oder gerade an Kinder. Wohlgemerkt nicht wegen der Filmform sondern der dargestellten Lebenswelt von Kindern. Mir fällt spontan nur Der Junge im gestreiften Pyjama ein, dessen Problemstellung natürlich eine ganz andere ist. Dies ist ein großartiger, zeitloser Film und die Bewertung von 96% bei Rottentomatoes unterstreicht lediglich, dass man diesen Film gesehen haben sollte und wenn es das einzige Anime ist, was man je anschaut. Unbedingt empfehlenswert!

Persepolis (2007)

Persepolis (film)

Persepolis (film) (Photo credit: Wikipedia)

Dieser Film basiert auf der gleichnamigen autobiografischen Graphic Novel von Marjane Satrapi. Zugegeben, der Sprung zum Animationsfilm liegt hier durchaus nahe, der visuelle Stil existiert ja schon. Aber worum geht’s eigentlich…

In Persepolis folgen wir Frau Satrapi als Protagonistin in der Erinnerung zurück in ihre Kindheit im Iran 1978. Wir erleben den politischen Umbruch nach der Flucht des Schah und die Aufbruchstimmung nach Ausruf der Islamischen Republik. In der Familie freut man sich über die Freilassung des kommunistischen Onkels. Aber schnell kehrt sich die Freude um, die Politik auf Basis des Islams führt zu einer Stimmung der Unterdrückung in der Familie. So kann Marjane nur heimlich Hard Rock hören oder an der übrigen Popkultur ihrer Zeit teilnehmen. Ihre willensstarke Großmutter unterstützt sie in ihrer Haltung. Die Gefahr wird allen präsent, als der Onkel mit kommunistischer Vergangenheit eben deswegen hingerichtet wird. Aufgrund der Kämpfe während des ersten Golfkriegs und wegen des offenen Konfrontationskurs ihrer Tochter, beschließen ihre Eltern Marjane auf eine Schule in Österreich zu schicken. Hier ist sie zwar die Außenseiterin, findet bald aber Freunde und verliebt sich sogar. Die Beziehung verläuft aber leider nicht glücklich und stürzt die junge Frau in eine Depression, durch die sie alles um sich herum, Schule, Wohnung und Freunde, aufgibt und auf der Straße lebt. Erst als sie schwer krank in einem Krankenhaus landet, beschließt sie 1987 in den Iran zurückzukehren. Sie beginnt zunächst ein Studium an der Kunsthochschule, findet eine neue Beziehung und heiratet schließlich. Doch nachdem die Ehe zerbricht und es eine gewaltsame Razzia gibt, beschließt die Familie, dass Marjane den Iran für immer verlassen soll, damit sie nicht an die iranischen Behörden gerät. Sie geht nach Frankreich, bekennt sich aber weiter offen zu ihrer iranischen Heimat.

Persepolis beweist: Ja, Zeichentrick kann auch biografisch sein. Und gleichzeitig stärkt der Film den ebenfalls oft gescholtenen Comics den Rücken, denn auch dieses Medium wird wegen seiner etablierten Stereotypen oft unterschätzt. Auch da gibt’s es mehr als nur Batman und Superman. (Wobei selbst die eine massive Evolution hinter sich haben.) Aber dabei vergisst man oft Werke wie Art Spiegelmans Maus, dessen Stil Persepolis offenbar stark beeinflusst hat. Die reduzierte Darstellung, in weiten Strecken nur in schwarz-weiß, steht wiederum im krassen Gegensatz zu aufgeregten Anime oder klassischem (Disney-)Zeichentrick für Kinder. Und von dieser Kombination sind wohl auch die Kritiker begeistert, so steht Persepolis bei Rottentomatoes auf 96% und bekommt von metacritic.com 90 von 100 Punkten.

Epilog

Das waren sieben recht unterschiedliche Beispiele für Zeichentrickfilme, die anders sind. Es gibt noch zig weitere, allen voran die ausgezeichneten Studio Ghibli Produktionen wie Das fliegende Schloss oder Chihiros Reise ins Zauberland. Ghost in the Shell fehlt ebenfalls auf der Liste. Vielleicht mache ich die zehn irgendwann voll.
Und auch im Fernsehen hat sich Zeichentrick in ‘erwachsenen’ Genres etabliert, man denke an Die Simpsons, Southpark oder Family Guy.  Wie schon zu Anfang angedeutet finden Comics derzeit im großen Blockbusterkino statt, erst nächste Woche erreicht uns Christopher Nolans dritter Dark Knight. Was spricht dagegen, dass auch gezeichnete Filme die Tiefe und Bandbreite erreichen, die wir in der heutigen Realfilmlandschaft finden? Meiner Meinung nach nichts, Filmemacher (insbesondere europäische) müssen lediglich mutiger im Umgang mit dem Medium werden und ihm so die Möglichkeit geben zu wachsen. Braucht es mehr als gute Geschichten, starke Charaktere und Anspruch?

 

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