Anna Badora eröffnete als Direktorin des Volkstheaters die Saison mit einer eigenen Inszenierung. „Fasching“ von Gerhard Fritsch bot dem Publikum einen Abend mit Haken und Ösen.
Anna Badora gestaltete gemeinsam mit Roland Koberg die Bühnenfassung des Romans, der als Hauptwerk von Gerhard Fritsch gilt. Der Autor, Mentor zahlreicher Größen der deutschsprachigen Literatur in der Mitte des 20. Jahrhunderts, nahm sich 1969 das Leben. Als junger Mann im Kriegsdienst weitgereist, prägten ihn die Erlebnisse dieser Zeit. Sie waren es auch, die ihn zu „Fasching“ anregten, einem Sittenbild von duckmäuserischen Kleinbürgern, deren Schuld-Verdrängungsmechanismus sich letztlich letal auf die Hauptfigur Felix Golub niederschlägt. Gerhard Fritsch ist in Österreich und darüber hinaus wenig bekannt. Mit der Dramatisierung seines Romanstoffes, der bei der Erscheinung große Irritation auslöste, kommt Badora und Koberg ein großer Verdienst zu.
Fritsch steht mit seiner „österreichischen Nestbeschmutzung“ in einer Reihe mit Thomas Bernhard oder Fritz Kortner, dessen „Donauwellen“ im Mai dieses Jahres im Theater Spielraum gezeigt wurden. Allen drei Autoren ging es darum, hinter die Fassaden des Bürgerlichen zu blicken und Wendehälse- und Opportunistentum schonungslos aufzudecken. Dass sie damit beim Publikum keinen Beliebtheitspreis gewannen, versteht sich von selbst. Alle drei widmeten ihre Aufmerksamkeit den Kriegsereignissen und der Aufarbeitung oder vielmehr der schonungslosen Verdrängung von Mitschuld. Sie beschrieben damit eine Geisteshaltung, die Österreich bis zur Ära Waldheim nachhaltig prägte.
Felix Golub, ein junger Mann, der Angst hat, eingezogen zu werden, wird von der Miedermacherin und verwitweten Baronin Pisani kurzerhand in Mädchenkleider gesteckt. Als solches ist er ihr zu Diensten und gerät in die unangenehme Situation, dass sich ein Offizier in ihn verliebt. Nachdem es ihm gelingt, diesen zu überwältigen und mit einem Trick den Ort zu befreien, wird er von den Bewohnerinnen und Bewohnern an die Russen ausgeliefert. Nach 12 Jahren Gefangenschaft kehrt er in seine Heimat zurück. An einem nebligen Tag im Fasching.
Badora lässt atmosphärische Beschreibungen des Ortes oder auch von Begebenheiten, die nicht auf der Bühne gezeigt werden, vom Ensemble vortragen. In kurzen, abgehackten Sätzen, die von einem Mund zum anderen wandern, wird der Text von Fritsch so eher dekonstruiert als veranschaulicht. Die erste Reihe im Parkett dient während langer Strecken auch als Sitzplatz der „Faschingsgemeinde“, womit dem Publikum Mittäterschaft oder zumindest Mitwissenden untergeschoben wird. Immer wieder wendet sich das Ensemble direkt an die Zuseherinnen und Zuseher, der Funke der Betroffenheit springt dabei jedoch nicht wirklich über. Das Stück, das zwischen einer Groteske und einem veritablen Drama ständig changiert, nimmt im ersten Teil vor der Pause nur langsam Fahrt auf. Die Vorstellung der einzelnen Charaktere geschieht ein wenig hausbacken, das Bühnenbild (Michael Simon) wirkt, als ob es einem geringen Budget geschuldet wäre. Es besteht aus hin- und hergeschobenen Leinwänden, auf denen im Schwarz-Weiß-Modus einzelne Objekte, welche die jeweilige Szene beschreiben, zu sehen sind. Ein beinahe raumfüllender, architektonisch ausgearbeiteter weißer Rahmen, der je nach Gebrauch in die Tiefe der Bühne oder ganz nach vorne geschoben wird, fungiert als zusätzlicher Raum im Raum. Auf ihm stehend lässt sich trefflich deklamieren, dahinter wunderbar verstecken und mit ihm werden zugleich unterschiedliche Bedeutungsebenen markiert.
Eine der besten Ideen der Inszenierung, Felix Golub sowohl von Nils Rovira-Muñoz als auch dem Puppenspieler Nikolaus Habjan spielen zu lassen, hat nur einen kleinen Schönheitsfehler: Der deutsche Nachwuchsschauspieler geht mit seinem heimatlichen Akzent, in dem er „pardong“ und „gucken“ so ganz und gar mit hochdeutscher Zunge intoniert, nicht als Österreicher durch. Ein kleiner Schönheitsfehler, dem man dem jungen Mann gern nachsieht. Zumal das Stück, sieht man von einigen Österreich-Hinweisen ab, thematisch auch in Deutschland spielen könnte. Rovira-Muñoz Interpretation des Sensibelchens, das sich nicht als Kanonenfutter einsetzen lassen will und zum Schluss wie Michael Kohlhaas das Opfer seiner eigenen Unbeugsamkeit wird, ist ansonsten untadelig. Nikolaus Habjan verkörpert Golub als Kind, Jugendlicher und auch die visualisierte innere Stimme des jungen Mannes. Er verzaubert das Publikum mit seiner an der Hüfte aufgesetzten Puppe ganz und gar. Durch seine sanfte Stimme und die Konzentration, die er auf das innere Geschehen von Golub legt, schafft er kostbare Augenblicke in dieser Inszenierung. Man fühlt seine Bedrängnis, in die er als Kind beim Stechschrittüben geriet und man leidet mit ihm im Schlussbild während seiner eigenen Erkenntnis, dass es doch besser gewesen wäre, bei allem mitzumachen, anstatt gegen den Strom zu schwimmen.
Adele Neuhauser in der Rolle von Vittoria Pisani agiert wie ein Dragoner in Frauenkleidung. Herrschsüchtig, angsteinflößend und schwer zu durchschauen, ist sie Retterin und Verdammnis in einer Person. Die Schauspielerin, vielen als Tatort-Kommissarin Bibi Fellner bekannt, mimt jene zentrale Figur in dem Stück, welche aufgrund ihres Berufes aber auch ihrer Anziehungskraft Männern gegenüber, sowohl Geheimnisträgerin als auch Autoritätsperson des Ortes ist. Ihre Macht nutzt sie dabei schamlos aus. Das trockene Spiel, das sie, wie auch die anderen Ensemblemitglieder auf der Bühne zeigt, lässt nur selten andere erkennbare Emotionen als Gemeinheit, Niedertracht und Machtbesessenheit zu. Nicht wirklich hilfreich, um den Charakter ausreichend erklärbar zu machen. Stefan Suske, ihr hörig, möchte Felix Golub zu seinem Nachfolger als Stadtfotograf ernennen. Auch er hat erst im zweiten Teil des Abends die Chance, seine Beweggründe, warum er von der Frau nicht loskommt, emotional sichtbar zu machen. Vieles, was im überlangen ersten Teil nicht nur von ihm gesagt wird, kommt plattitüdenhaft und verzerrt den Text von Fritsch an vielen Stellen ins flache Plakative. Eine sicherlich bewusste Entscheidung, die dazu beiträgt, die Figuren wie Stereotype wahrzunehmen. Stefanie Reinsperger wird als dralle Braut von Felix mehr vorgeführt, als dass sie diese auch in allen Facetten in gewohnter Manier ausspielen kann. Trotz der Überzogenheit, die sie von der Regie aufgesetzt bekommt, schafft sie es, ihre Rolle dennoch so anzulegen, dass man in ihr einen Menschen aus Fleisch und Blut mit Freude, Sorge, Ängsten und auch Nöten erkennt. Als Bindeglied zwischen Golub und der verlogenen und bösartigen Gesellschaft wird an ihr die charakterliche Vielschichtigkeit und Anpassungsfähigkeit eines Menschen am besten von allen begreifbar.
Alle anderen Schauspielerinnen und Schauspieler (Christoph Rothenbuchner, Elena Schmidt, Thomas Frank, Christian Dolezal, Katharina Klar) treten in Mehrfachrollen, häufig mit Halbmasken auf, die ihnen ad hoc einen Teil ihrer Persönlichkeit rauben (Kostüme Denise Heschl). Zwar kommt der Hinweis an, dass damit Typen vorgeführt werden, die es in mannigfachen Abwandlungen überall und immer wieder gibt. Der Preis dafür liegt jedoch im Verlust emotionaler Konturenbildung und psychologischer Schärfe. Erst in jener Szene, in der Fiala, die Klofrau (Thomas Frank), gedemütigt und grausam bestraft wird und später im letzten Bild, bei dem sich das Geschehen dramatisch zuspitzt, erhält die Inszenierung jene Anziehungskraft, die wirklich packendes Theater kennzeichnet. Wie in einer Hasenjagd wird Felix Golub nun von allen in rasendem Galopp bis zum Zusammenbruch verfolgt. Die dabei verwendeten, bunten Kostüme steigern den Eindruck ins traumhaft-Surreale. In Badoras Inszenierung ist es aber nicht nur Golub, der auf der Strecke bleibt. Niemand steht von der Hetzjagd lebendig wieder auf. Die Bühne ist ein einziges Schlachtfeld. Eine logische und an dieser Stelle gut nachvollziehbare Versinnbildlichung jenes psychologischen Geschehens, bei dem es keine Gewinner, sondern ausschließlich Verlierer gibt.
Bei Fritsch wandelt sich der Fasching schon im Laufe des Geschehens merklich zu einem Gründonnerstag; zu einem Tag und einer Zeit des Leidens. Eines von der Gesellschaft erwünschten Leidens, das für die Psychohygiene einer verlogenen und brutalen Meute von Nutzen ist. Die Typen, die Badora wie aus groben Holzschnitten gerissen auf die Bühne setzt, bleiben in Erinnerung. Die Feinheiten und Zwischentöne sind im Roman selbst nachzulesen. Ein mutiger Abend, wenngleich auch mit Haken und Ösen, der vom Publikum am Premierenabend heftig akklamiert wurde.