Oft wird ja die Praxis des Dharma nach Sicht, Meditation und Verhalten gegliedert. Zuerst entwickelt man eine bestimmte Sichtweise, die man anschließend verinnerlicht. Das tibetische Wort für „meditieren“ ist „gom“ und bedeutet „sich mit etwas vertraut machen“. Nachdem man eine bestimmte geistige Haltung angenommen hat und diese auch verinnerlicht hat, geht es daran, diese in das Leben einzubringen bzw. im Alltag umzusetzen. Dabei spricht man eben davon, etwas „in die Praxis zu bringen“. Dies fällt unter den Begriff „Verhalten“ und kann als Lebensführung bezeichnet werden.
Die Buddhas haben gesagt, dass wir Buddha-Natur besitzen. Der Begriff „Buddha“ heißt im Tibetischen „sangye“ und dieser Begriff besteht aus zwei Silben, wovon eine „gereinigt“ und die andere „voll erblüht“ bedeutet. Obwohl uns diese uranfänglich reine Natur innewohnend ist, erkennen wir sie nicht aufgrund vorübergehender geistiger Trübungen und emotionaler Schleier. Auch ist sie eben nicht voll erblüht. Wie können wir aber nun diese Natur in ihrer gereinigten Blüte erkennen? Durch Meditation!
Meditation bedeutet im Grunde nicht einfach nur mit verschränkten Beinen herumsitzen und die Augen geschlossen zu halten, sondern ist vielmehr eine Methode zum Erkennen der Buddha-Natur, eben der wahren Natur, die wir in uns tragen. Wahre Meditation ist einfach das Erkennen der ursprünglichen Wahrheit, frei von Künstlichkeit und dem Vorsatz eines „jetzt meditiere ich“. Diese uns angeborene wahre Natur kann nur durch klares, lebendiges Gewahrsein erfahren werden.
Dazu ist es zunächst notwendig, diese Gewahrsein zu entdecken. Was ist nun dieser Geist, dieses Gewahrsein? Wo ist er? Welche Farbe und welche Form hat er? Wo kommt der Geist her? Wo verweilt er? Wo geht er hin? Durch welche Merkmale zeichnet sich der Geist aus? Wenn wir nun bei diesem Nachforschen nun nichts entdecken, stellt sich die Frage, ob wir überhaupt einen Geist haben. Wenn wir jedoch keinen Geist hätten, dann wären wir eine Leiche.
Da wir aber offensichtlich am Leben sind, haben wir Geist. Wenn wir diesem Geist allerdings nachlaufen, dann werden wir ihn nicht einfangen können, da er sich nicht greifen lässt. Mit dem ständigen inneren Geplapper, dem inneren Dialog, mit dem wir unsere Erlebeniswelt aufrechthalten und gestalten, sehen wir nichts als Gedanken, die nach Identifikation greifen. Daher müssen wir zunächst einmal ruhig werden. Es ist wie mit den Staubteilchen in einem Wasserglas. Wenn wir versuchen, jedes einzelne herauszupicken, dann werden wir es nie schaffen. Wir müssen das Wasserglas nur längere Zeit ruhig stehen lassen und die Teilchen werden von selbst zur Ruhe kommen. Dann sind wir in der Lage, die lichthaft durchscheinende Natur des Wassers – in diesem Fall die klare Natur des Geistes – zu entdecken.
Genauso geschieht Meditation nicht durch ein Eingreifen und durch vorgefertigtes Streben. Wenn wir die Gedanken, die auftauchen festhalten oder zurückweisen, dann erblicken wir gar nichts, sondern verfangen uns nur im Dickicht des Denkens, das sogar substanzielle Qualitäten anzunehmen scheint. Lassen wir die Gedanken aber einfach an ihrem Ort zur Ruhe kommen, dann bemerken wir, dass sich etwas verändert. Die Gedanken sind dann nicht mehr so fest und solide. Ein Gedanke ist da… und schon ist er wieder fort. Wo ist er hergekommen? Wo ist er hin verschwunden? Gibt es eine Geburtsstätte von Gedanken? Gibt es einen Gedankenfriedhof?
Gedanken sind leer. Wir ergreifen sie mit unseren Emotionen und pauschen sie auf, bis sie uns ganz lebhaft erscheinen. Aber im Grunde sind sie leer von jeglicher Essenz, Eigenschaft und Bedeutung. Sie sind nur die begriffliche Reaktion auf eine Erfahrung. Wenn dieser Moment der Erfahrung vorüber ist, dann ist auch der entsprechende Gedanke nicht mehr da. In unserer alltäglichen Verblendung versuchen wir allerdings diese Erfahrung weiterhin bestehen zu lassen und führen daher den Gedanken (bzw. die Gedankenkette) weiter und nähren sie mit entsprechenden Emotionen. Auf diese Weise erzeugen wir einen endlosen Kreislauf an Auf’s und Ab’s in unserem Leben, dem wir eine Identität beimessen und meinen so, Glück und Unglück zu erleben. Jedoch sind das alles nur Trugbilder, wie in einem Fieberwahn, das seinen Ursprung in einem Selbstkonzept, einer Ichvorstellung hat.
Letztendliches Gewahrsein bzw. der Geist ist offene Weite, klar-deutlich und ungehindert vorhanden. Man braucht es nicht zu erzeugen, kann es nicht vertreiben. Es ist an sich gegeben und kann weder vergrößert noch verkleinert werden. Wahre Meditation ereignet sich immer JETZT, ist nicht fabriziert oder erdacht und hat keinen erfundenen Rahmen.