Bevor man mit der eigentlichen Praxis des ruhigen Verweilens beginnt, führt man die Vorbereitungen durch. Diese sind die vier Gedanken, die den Geist wandeln: Nachdenken über
1) die kostbare menschliche Geburt;
2) Vergänglichkeit und Tod;
3) das Prinzip von Ursachen und ihren Auswirkungen; und
4) das Leiden im Kreislauf der bedingten Existenz.
Um diese Gedanken zu unterstützen, studiert man auch entsprechende Schriften wie „Die Worte meines vollkommenen Lehrers“ von Je Patrul Rinpoche oder „Der kostbare Schmuck der Befreiung“ von Gampopa oder „Sich lösen von den vier Anhaftungen“ von Dragpa Gyaltsen oder „Die Lampe auf dem Weg. Stufen buddhistischer Meditation“ von Atisha. Das sind traditionelle Schriften dazu. Wer sich aber lieber mit einer moderneren Erklärung dazu beschäftigen will, dem sei „Es geht nicht um Glück“ von Dzongsar Khyentse Rinpoche empfohlen.
Anschließend nimmt man mit Vertrauen und Hingabe Zuflucht zu den Drei Juwelen – Buddha, Dharma und Sangha. Man entwickelt Bodhicittta, den Erleuchtungsgeist, indem man denkt: „Ich werde beständig zum Wohle der fühlenden Wesen wirken, all jenen, die in früheren Leben meine Mütter gewesen sind. Um dieses Streben zu verwirklichen, werde ich Erleuchtung erlangen. Aus diesem Grund will ich meinen Geist zähmen und in der Praxis der meditativen Konzentration des ruhigen Verweilens – Shamatha – üben.
Hauptpraxis – die drei Handlungsebenen
Dann bringt man den Geist durch die drei Haltungen zur Ruhe. Mit dem Körper gibt man alle weltlichen Aktivitäten auf; alle religiösen Aktivitäten, die eine Bewegung erfordern, wie Verbeugungen und Zählen mit der Mala und überhaupt alle Bewegungen des Körpers; und man setzt sich in einer guten Meditationshaltung nieder, wie der 7-Punkte-Haltung des Vairocana oder zumindest mit einem geraden Rücken und die Augen in einer passenden Haltung, leicht geöffnet, aber nach unten blickend.
Was die Rede betrifft, so gibt man alle gewöhnlichen Gespräche auf, unterlässt religiöse Diskussionen und sogar das Rezitieren von Mantras und Liturgien.
Auf Ebene des Geistes gibt man negative Gedanken auf, auch positive Gedanken lässt man bleiben und alle intellektuellen Einsichten, die aus dem Zusammenhang von Mahamudra oder Dzogchen entstehen.
Ruhiges Verweilen
Die Praxis des ruhigen Verweilens wird im Tibetischen zhi gnas genannt, was ein ruhiges Niederlassen bezeichnet. Was lässt sich nun zu welchem Zweck nieder? Um die klar-lichte Natur des Geistes zu erkennen, ist es zunächst notwendig, dass die aufwühlenden Gedanken und Emotionen zur Ruhe kommen. Wenn man in einem Tümpel mit einem Stock nach einem darin verlorenen Ring sucht und herumstochert, wird man bloß noch mehr Schlamm aufwühlen und schlussendlich das Gesuchte nicht finden. Daher ist mit dem Niederlassen das Zur-Ruhe-kommen der Gedanken und Emotionen gemeint.
Dafür gibt es mehrere Möglichkeiten. Man kann sich auf ein äußeres Objekt oder auf eine Visualisation stützen. Bei Fortschritten in der Übung kann man sogar die im Geist auftauchenden Wahrnehmungen nehmen und gelangt durch ihr Auflösen an Ort und Stelle zur Ruhe. Aber beginnen wir einmal bei ganz einfachen Dingen.
Man kann zunächst einmal mit der Konzentration auf ein äußeres Objekt beginnen. Dabei blickt man der Nase entlang auf ein Objekt der Konzentration. Dafür kann man in passender Höhe und Entfernung ein Bild einer Keimsilbe befestigen oder eine Statue hinstellen. Das wäre die Übung mit einem reinen äußeren Objekt. Man kann aber genauso gut auch einen Stein oder einen Ast etc. hingeben. Das wäre die Übung mit einem unreinen äußeren Objekt. Mit unabgelenkter Aufmerksamkeit richtet man sich auf das Objekt aus und blickt einfach darauf, ohne seine Beschaffenheit, Form etc. zu analysieren. Man lässt den Geist einfach in einem gesammelten Zustand auf dem Objekt ruhen. Wenn die Aufmerksamkeit zu schwanken beginnt, dann erinnert man sich wieder an das Objekt, führt die Aufmerksamkeit darauf zurück und ruht ganz natürlich.
Man kann auch das Heben und Senken der Bauchdecke, das Ein- und Ausströmen des Atems als Anker für die Aufmerksamkeit verwenden. Beide Ansätze – Atem wie auch Blick – haben ihre Bedeutung und ihre Möglichkeit. Mit dem Atem als Anker wird auch ganz nebenbei mit den äußeren Winden gearbeitet und man verbindet diese unbemerkt mit den inneren Winden. Besonders wenn man sich auf das Heben und Senken der Bauchdecke ausrichtet, werden die inneren Winde nach und nach in den Zentralkanal gezogen und sammeln sich dort. Da der Geist mit den inneren Winden verbunden ist, ja sozusagen auf ihnen reitet, von ihnen bewegt wird, ist diese Übungsweise hilfreich, zur Ruhe zu kommen. Das Aufwühlen von Emotionen und Gedanken nimmt so schrittweise ab.
Bei der Übung mit dem Blick wird mit dem Faktor der Zerstreuung gearbeitet. Die Augen sind jene Sinnestore, durch die wir Welt besonders stark wahrnehmen und mit unseren dualistischen Auffassungen nähren. Somit hilft das Fokussieren des Blicks dabei, wieder zu sich selbst zurück zu kommen. In fortgeschrittenen Praktiken wird dann mit anderen Blicktechniken gearbeitet. Aber das ist ein anderes Thema.
Man kann auch noch über ein visualisiertes Objekt den Geist zur Ruhe bringen. Dabei visualisiert man sich z.B. auf eine Keimsilbe oder einfach auf eine rote oder eine weiße Lichtkugel. Man gestattet sich dabei mit den Augen leicht abwärts oder gerade aus auf eine kleine weiße Lichtkugel (tib., thig le; Tropfen) in der Stirne zwischen den Augenbrauen zu blicken. Diese Lichtkugel ist leer, aber lichthaft strahlend und schimmert wie ein Regenbogen. Darauf richtet man sich aus und verweilt so lange wie möglich ganz natürlich dabei.
Bei der Konzentration auf eine rote Lichtkugel blickt man wieder mit den Augen leicht nach unten oder gerade aus und visualisiert den eigenen Körper als ein hohles Lichtzelt und ganz durchsichtig, völlig klar und leer. In diesem Lichtzelt, das klar-deutlich wie ein Regenbogen am Himmel erscheint, visualisiert man im Nabelzentrum oder im Herzzentrum eine rote Lichtkugel. Diese Lichtkugelt ist von der Größe einer Kerzenflamme und wie eine heiße Flamme schimmert sie auch leicht bläulich. Darauf richtet man sich aus und versucht jede Zerstreuung zu vermeiden. Wenn es einem unangenehm ist, diese Lichtkugel auf Herzhöhe zu visualisieren, dann verlagert man sie einfach ins Nabelzentrum.
Die Zeitdauer für diese Übungen sollte eher kurz – also ca. 10 – 15 Minuten – sein. Man sollte diese Übungen nur so lange durchführen, solange der Geist frisch, wach und entspannt ist.
Abschluss
Am Ende der Übung, die man in 2-3 Sitzungen durchführen kann, löst man den Fokus vom Objekt und ruht einfach in einer Offenheit und Weite des gegenwärtigen Moments. Wenn dann Gedanken wieder aufzutauchen beginnen, widmet man das Heilsame dieser Praxis. Diese Verdienstübertragung dient dazu, dass die Praxis nicht selbstzentriert wird und austrocknet.
Man bringt den Verdienst und die Weisheit der Meditation allen Wesen dar, damit sie Erlösung von den störenden Gefühlen finden und von der Verwirrung der bedingten Existenz und diese Weite der Reinheit und Lichtheit als ihre eigene Buddha-Natur erkennen mögen.