Wenn Win Butler, Frontmann der kanadischen Band Arcade Fire, Kohl gegessen hat und darob furzen muss, widmet die britische Musikzeitschrift NME dieser gastrischen Unstimmigkeit bestimmt einen ausführlichen Artikel. Und der Mann mag Kohl. Er verspeist und verwertet ihn in rauen Mengen. Gesetzt den Fall “Kohl” stünde hier für “Popgeschichte” und “furzen” für deren Verarbeitung zu Live-Coverversionen…
Dead Kennedys: Fresh Fruit For Rotting Vegetables (1980)
Zweifellos: Arcade Fire waren eine grandiose Band, sind es vielleicht noch immer. Unbestritten sind auch ihre breite Kenntnis der Pop- und Rockgeschichte und ihre Vorliebe, diese Kenntnis musikalisch umzusetzen. Von Konzert zu Konzert mühen sie sich an anderen, dem jeweiligen Ort des Auftritts angemessenen, Versionen populärer Songs ab. Das Panorama reicht von CCR über die Guns’n’Roses und Harold Faltermeyers “Axel F” bis hin zu den Dead Kennedys.
Auftritt NME: der NME ist eine notorische britische Musikzeitschrift, die seit Jahren mit seismographischer Präzision vornehmlich die Darmbewegungen der Gallagher-Brüder und die neusten Hassobjekte Morrisseys registiert. Seit einiger Zeit scheinen sie auch einen Narren an den Jungs und Mädels von ennet dem Teich gefressen zu haben und berichten auch en detail über die Coververrenkungen des erweiterten Ehepaars aus Montréal. So weit, so gut.
Nun gäbe es dagegen ja nichts einzuwenden, handelte es sich um weltbewegende Neuauflagen dieser grossen Songs. Win Butler und Konsorten aber sind Weltmeister der Anbiederung, Champions des Möglichst-vielen-Gefallens. Eine NME-Meldung über das AF-Cover des Dead-Kennedys-Songs “California Uber Alles”, geziert von einer qualitativ minderwertigen 45-Sekunden-Aufnahme desselben, hat nun unsere Fässer zum Überlaufen gebracht.
Klar: der Song, erstveröffentlicht 1979, hat einen aktuellen Bezug, denn sein Adressat Jerry Brown war sowohl 1979 wie auch heute Gouverneur des Bundesstaats Kalifornien (Amtszeiten: 1975-83 und 2011-heute). Eine einzigartige Konstellation, die es absolut verdient hat, den Song wieder einem breiteren Publikum zu präsentieren? Ja, aber..? Ja, aber! Man halte sich Jello Biafra, den Frontmann der Dead Kennedys, vor Augen. Der Mann war (und ist) der unzähmbare Bastard aus John Lydon und Ian Curtis, ein Ausbund an Galle speiender, zorniger Energie. Wenn er mit angeschissener, wutentbrannter Pseudo-Jerry-Brown-Stimme singt “I will be Führer one day / I will command all of you / Your kids will meditate in school!”, und seine Band ihn dabei mit nicht weniger aggressiven Klängen unterstützt, so ist das waschechter Punk. Den Inhalt betonende, lautstark die Wut schürende Musik.
Wenn aber nun der NME über diese anbiedernde, kaum integre Arcade-Fire-Version des Songs berichtet, so wie er über jede Arcade-Fire-Version irgendeines Songs berichtet, so macht er klar: the Führer today is der Wille der Redaktion. Und der korrespondiert derzeit intensiv mit Arcade Fire. Was sie spielen, wird sofort in den Medien-Kanon erhoben. Was sie furzen, ist Parfum. Mehr noch als die halbgaren Interpretationen populärer Songs, stört diese Tatsache: der übertriebene Hype um eine Band, wie er von den sogenannt meinungsbildenden Instanzen (!) betrieben wird.
Man sollte sich nicht korrumpieren lassen: eine Band wird nicht besser dadurch, dass sie andere Songs kennt und spielt. Und eine Band wird nicht schlechter dadurch, dass sie nicht mehr in den Schlagzeilen ist. Jede Band ist an ihrem Material und dessen Präsentation zu messen, nicht an ihrer medialen Re-Präsentation. Läse jemand nämlich nur den NME, ohne entsprechendes Vorwissen, müsste er Arcade Fire für eine mittelmässige Coverband halten, die aus unerfindlichen Gründen vor riesigem Publikum auftritt. Vergessen wir also nicht, dass Win Butler & Co. auch selbst ganz gross und innovativ im Kohlbusiness mitmischen.
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