Medea. Hinter diesem Namen, der so lieblich klingt, verbirgt sich eine der entsetzlichsten Geschichten der Weltliteratur. Ihren Ursprung hat sie in der griechischen Mythologie - seitdem wurde sie in Dramenform gepackt (unter anderem 431 v. Chr. von Euripides, 1635 von Pierre Corneille und 1982 von Heiner Müller) in Prosa verarbeitet (1996 von Christa Wolf) oder eben auch auf die Opernbühne gebracht (1797 von Luigi Cherubini oder 2010 von Aribert Reimann). Es scheint sich also um einen Stoff zu handeln, der an wesentlichen menschlichen Befindlichkeiten rührt. Das Staatstheater Mainz hat sich nun mit seiner Hausregisseurin Elisabeth Stöppler an die Oper Médée von Cherubini gewagt. Rührt uns das?
Von Liebe über Verrat bis Mord
Hochzeitstag! Dircé, die Tochter von Créon, dem König von Korinth, soll Jason heiraten. Jason ist der Ex von Médée. Erst vor Kurzem hat er sie für seine neue Verlobte sitzengelassen. Deswegen befürchtet Dircé, dass Jason auch sie ohne zu zögern für den nächsten kurzen Rock verlassen könnte. Und dann ist da auch noch die Sorge, dass die sogenannte Barbarin Médée diese Enttäuschung nicht unkommentiert lassen wird. Jason möchte guten Willen und seine neue Treue zu Dircé beweisen und hat als Hochzeitsgeschenk seinen wertvollsten Besitz mitgebracht: das Goldene Vlies. Wow! Wenn man da nicht von der ewigen Liebe und Treue des Mannes überzeugt ist! Vor allem, weil Jason damals dieses Goldene Vlies nur mit Hilfe von Médée bekommen hat und es seither ein Symbol von deren "unauflöslicher" Verbindung war. Wie in jedem Blockbuster platzt auch hier die eifersüchtige Exfrau in die Hochzeitsfeier. Médée wil, dass Jason zu ihr zurückkommt. Nein, Jason ist ganz zufrieden mit seiner Dircé (und mit der Tatsache, dass er auf diese Weise zum Thronfolger von Korinth wird). Und weil Médée das nicht einsehen will, wird sie von Créon in Gewahrsam genommen. Im Gefängnis verhandelt Médée mit dem König. In all seiner Großzügigkeit bietet er ihr an, das Land ohne weitere Konsequenzen zu verlassen. Médée willigt unter der Bedingung ein, dass sie noch einen einzigen weiteren Tag in Korinth bleiben kann. Die nächste Verhandlung im Kerker hat Médée dann mit ihrem treulosen Jason. Sie verlangt das alleinige Sorgerecht für die beiden Kinder, was der Vater strikt ablehnt. Die beiden können sich aber immerhin darauf einigen, dass Médée ihren letzten Tag in Korinth mit den Söhnen verbringen darf, um sich angemessen verabschieden zu können. Der neue Tag bricht an. Plötzlich stirbt Dircé - Jason ist erschüttert. Währenddessen ist Médée mit ihren Kindern zusammen und erkennt, dass es nur eine konsequente Möglichkeit gibt, Rache an Jason zu üben: Sie muss und wird die gemeinsamen Söhne ermorden, um die letzte Verbindung zwischen ihnen zu kappen.
Wozu Musik hören, wenn man auch Text lesen kann
Die Vorstellung am Staatstheater Mainz fängt vielversprechend an. Nach den ersten Takten der Ouvertüre freut sich der geneigte Zuschauer auf wunderbare Musik zwischen Reformoper und Romantik. Der Regisseurin Elisabeth Stöppler war die musikalische Ouvertüre von Cherubini als Einleitung und Einstimmung für die folgende Handlung allerdings nicht genug. Auf ein weißes Feld im oberen Drittel der hinteren weißen Wand des weiß, weiß, weißen - in seiner Puristik höchst ästhetischen - Bühnenbilds von Annika Haller wird die gesamte Vorgeschichte projiziert.
Satz für Satz liest und liest und liest man: Das Goldene Vlies ist im Besitz von König Aites in Kolchis. Jason, ein Königssohn aus Iolkos wird von Pelias beauftragt, das Vlies zu rauben. Jason überquert das Meer mit dem Schiff Argo. Und so weiter. Und so fort. Das alles ist hochinteressant und trägt garantiert auch zum besseren Verständnis und zu einem umfassenderen Bild von Médées Charakter und ihrer Beziehung zu Jason bei. Allerdings wird im Verlauf des Abends klar, dass die Oper von Cherubini alle Informationen, die für eine dichte Zeichnung von Charaktere und Handlung wichtig sind, nach und nach vermittelt. Zudem führt die Überlagerung der kompletten Ouvertüre mit Text leider dazu, dass ein Großteil der Aufmerksamkeit von der Musik abgezogen wird. Mehr Vertrauen in die Dramaturgie und den emotionalen Inhalt der Ouvertüre wären hier wünschenswert gewesen.
Da wurde schon viel zu gesagt
Das führt einen zwangsläufig zum zweiten konzeptionellen Knackpunkt der Inszenierung von Elisabeth Stöppler. Bei der Mainzer Médée wurde nämlich ein Großteil der gesprochenen Dialoge durch werkfremde Texte ersetzt, die mittels einer Tonbandeinspielung von einer weiblichen Stimme gesprochen werden. Da finden sich beispielsweise Auszüge aus Albert Camus' Essay Hochzeit in Tipasa, Christa Wolfs Roman Medea. Stimmen, Euripides' Medeia und viele Passagen aus Heiner Müllers Medeamaterial. Besonders die Texte von Müller sind unglaublich tief und vielschichtig und überwältigend. Man könnte auch sagen: zu tief, zu vielschichtig und zu überwältigend. Jedenfalls für diesen Abend. Der Wunsch, andere Medea-Verarbeitungen in eine heutige Interpretation dieses Stoffes miteinzubeziehen, ist höchst sympathisch und klug. Das Vorhaben ist aber in der hier entstandenen Form leider nicht gelungen, da einen das Gefühl beschleicht, dass der Stärke von Cherubinis Oper nicht vertraut wurde. Zudem sind die Tonbandtexte uneinheitlich gewählt und sie werden inkonsequent benutzt. Manchmal ist es eine Erzählerstimme, welche die Atmosphäre beschreibt. Manchmal werden die Gedanken einer bestimmten Figur aus der Egoperspektive verdeutlicht. Manchmal übernimmt sie sogar eine Stimme im Dialog, zu der sich die Figuren auf der Bühne unmittelbar verhalten. Überraschend und inkonsequent ist auch, dass manche Dialoge dann doch von den Sängern direkt (auf Französisch) gesprochen werden. Pourquoi?
Das Goldene Horn
Spoiler Alert: In der Médée in Mainz gibt es ein (künstliches) Nashorn in Lebensgröße. Das tote Tier wird während der Hochzeitsfeier von Dircé und Jason aus dem Bühnenhimmel hinabgesenkt und nachher von seinem wertvollsten Körperteil getrennt: seinem Horn. Die Parallelsetzung vom Horn des Rhinozeros mit dem Goldenen Vlies (das in der griechischen Mythologie das Fell eines goldenen Widders ist, der ehemals fliegen und sprechen konnte) ist nicht abwegig, wenn man bedenkt, dass es vor allem in Asien eine große Nachfrage nach Horn gibt, dem man heilende und/oder potenzsteigernde Wirkung zuschreibt.
Regisseurin Elisabeth Stöppler erklärt im Programmheft außerdem, dass das Verhältnis zwischen Korinth und Kolchis (der Heimat von Médée) dem heutigen Verhältnis zwischen Europa und Afrika entspricht. Aha, deswegen also ein afrikanisches Tier, afrikanische Flüchtlinge und afrikanische Rituale. So ganz geht diese Übertragung nicht auf und letzten Endes irritiert sie auch nur, da sie viel Energie und Aufmerksamkeit vom Zentrum dieses Abends abzieht: Médée und ihre Verletztheit, Médée und ihre Rachsucht, Médée und ihr Mord an den eigenen Kindern. Brauchen wir wirklich Turbane, Nashörner und schlaue Texte, um von dieser Geschichte erschüttert zu werden?
Kritik des SWR2 vom 15. Juni 2015 Kritik in der Allgemeinen Zeitung vom 15. Juni 2015 Kritik in der Frankfurter Rundschau vom 15. Juni 2015 Médée. Oper in drei Akten von Luigi Cherubini (UA 1797 Paris)Staatstheater Mainz
Musikalische Leitung: Andreas Spering
Regie: Elisabeth Stöppler
Bühne: Annika Haller
Kostüm: Ingo Krügler
Licht: Alexander Dölling
Dramaturgie: Ina Karr
Besuchte Vorstellung: 13. Juni 2015 (Premiere)