In Martin Freytags Roman „Fugenzeiten“ kommt es zu einem Wortwechsel zwischen LehrerInnen, Schillers “Wilhelm Tell” betreffend: diesen im Unterricht heute noch zu behandeln, sei Unfug. Ja und nein, kann ich da nur sagen. Kein Schiller-Stück kann man heute so einfach SchülerInnen vorsetzen, allein schon wegen der für junge Menschen kaum verständlichen Sprache. Was liegt also näher, als Schiller für die heutige Jugend zu bearbeiten? Ich habe es vor einigen Jahren getan und eine schülertaugliche Fassung des „Wilhelm Tell“ erstellt, mit der ich die Erfahrung gemacht habe, dass man mit diesem Drama junge Menschen auch heute noch begeistern kann.
Auch früher schon hat das Bedürfnis, Schillers Drama der Jugend nahezubringen, zu Bearbeitungen geführt, und eine davon fiel mir auf einem Flohmarkt in die Hände. Der in Stuttgart gelebt habende Schriftsteller Max Barack (1832-1901) hat Schillers Stück in Prosa bearbeitet, sozusagen als kleinen Roman, wobei er sich im Ablauf und sogar zum Teil bis in den Wortlaut hinein so weit möglich an das Vorbild gehalten hat. Lt. www.abenteuerroman.info stammt die erste Ausgabe dieser Bearbeitung aus dem Jahr 1876.
Der Band ist mit Bildern von Willy Planck (1870-1956) im heroisierenden Stil der Zwischenkriegszeit, in der meine Ausgabe entstanden sein wird (die Schätzungen der Antiquare reichen von 1910 – 1935), illustriert.
Zum besseren Verständnis der Sage hat der Autor auch historische Hintergründe etwas ausführlicher behandelt, als dies Schiller im auf das Wesentliche verdichteten Drama möglich war, sodass dem Leser wohl manches klar wird, was bei Schiller nur angedeutet ist, etwa die Hintergründe zur Begegnung Johannes Parricidas mit Tell ganz am Schluss des Stücks.
Was fasziniert mich an der Figur des Wilhelm Tell? Er ist der Einzelgänger par excellence, der von Teamarbeit wenig hält, aber seinen Mann steht, wenn Bedarf besteht. Am Rütlischwur nimmt er daher nicht teil, weil ihn dieses Verschwörertum nicht interessiert, obwohl er inhaltlich ganz auf der Seite der Freiheitskämpfer steht. Außerdem ist Tell ein durchtrainierter Kerl, dem kein Berg zu steil und kein Sturm zu wild ist. Dazu passt, dass er auch der beste Armbrustschütze weit und breit ist.
Mit dem tyrannischen Landvogt Geßler kämpft er sozusagen seinen privaten Kampf, ausgelöst durch seinen Edelmut – auch eine Eigenschaft, die an ihm bewundernswert ist. Tell verfügt über moralische Unabhängigkeit, gemäß der er das Gute tut, wo immer es ihm möglich ist, mit der er aber auch ohne viel nachzufragen sein Recht selbst in die Hand nimmt und beschließt, Geßler zu töten, nachdem dieser seine Familie und ihn mit unversöhnlicher Feindschaft verfolgt und es daher in seinen Augen Notwehr ist, ihn zu beseitigen. Mit dem praktischen Nebeneffekt, dass damit auch gleich ein erster Schritt im Schweizer Freiheitskampf getan ist. In einem funktionierenden Rechtsstaat ist Selbstjustiz dieser Art fehl am Platz, aber es ist noch keine hundert Jahre her, da war man auch bei uns in einer Situation, wo man sich gegen ein diktatorisches System zur Wehr setzen hätte sollen und es mehr mutige Leute gebraucht hätte, die sich nicht drum kümmern, was „die anderen“ tun und ob das eigene Leben gefährdet ist.
In einem Zeitalter, wo in Schulen die Bildung zu geistiger Unabhängigkeit zurückgedrängt wird, indem man gezwungen wird, die Schülerinnen und Schüler vor allem auf „Bildungsstandards“ und diese messende Tests hinzutrimmen, ist eine Figur wie der Tell ein dringend nötiges kritisches Gegenbild.
Kann eine Bearbeitung die Lektüre von Schillers Drama ersetzen? Natürlich nicht. Für jemanden, der Schillers Stück kennt, mag aber eine Bearbeitung wie diese eine willkommene Zusatzlektüre sein. Jetzt wäre es natürlich nicht uninteressant, auch modernere Fassungen des Stoffs zu lesen, von denen es einige im Buchhandel gibt.
Wilhelm Tell der Jugend erzählt von M. Barack. Mit vier Tondruckbildern nach Originalzeichnungen von Willy Planck. Stuttgart, Thienemanns, o. J. 128 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Waldweg auf der Hohen Wand bei Wiener Neustadt. Kohle. 2005.