Das parlamentarische Rederecht von Abgeordneten mit abweichender Meinung gegenüber ihren Fraktionen ist ein Herzstück freiheitlicher Demokratie. Abgeordnete sind frei und nur ihrem Gewissen unterworfen, und als Vertreter des ganzen Volkes, nicht einer bestimmten Partei oder Fraktion, muss es ihnen jederzeit möglich sein, ihre Meinung im Bundestag ungehindert zu äußern. Mit einer einfachen Änderung der Geschäftsordnung wollen nun Regierrung und SPD dieses Rederecht von Abweichlern praktisch gänzlich abschaffen, und es besteht kein Zweifel, dass die Mehrheit der frei gewählten Abgeordneten ihrer eigenen Entmachtung unwidersprochen zustimmen wird.
Seit vielen Jahren ist der Bundestag, der den Souverän, das deutsche Volk, repräsentiert, in unserem politischen System nicht mehr das mächtigste Organ. Das liegt nicht an den geschriebenen Gesetzen, sondern an der sogenannten Staatspraxis. Es gab Zeiten, da wurden selbstständig denkende Parlamentarier geschätzt, gerade in Deutschland, wo man mit gleichgeschalteten Parlamenten einige Erfahrung hat. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Die Fraktionsdisziplin, manche würden auch Fraktionszwang sagen, überlagert die Freiheit der Volksvertreter. In Wahrheit werden Gesetze heute von Lobbyverbänden erstellt und in den Ministerien eingereicht. Diese wiederum nehmen hin und wieder noch kleine fachliche Änderungen vor, dann werden sie in den Bundestag eingebracht. Dort werden sie in Fraktionssitzungen beraten. Die Fachsprecher erläutern den Abgeordneten Sinn und Zweck der Gesetze und fordern sie zur Zustimmung auf. Hier, in den nichtöffentlichen Sitzungen, ist es kurzfristig möglich, Bedenken gegen ein Vorhaben anzumelden. Aber wer sollte das tun? Nur die fachlich versierten Abgeordneten können in so kurzer Zeit eine komplizierte Gesetzesmaterie verstehen. Also wird man in aller Regel dem Vorhaben zustimmen. Die Geschäftsführer der Bundestagsfraktionen suchen nun aus, wer im Plenum zu diesem Thema sprechen soll und reichen die Liste an den Bundestagspräsidenten weiter, der daraus mit dem Ältestenrat die Rednerliste für eine bestimmte Sitzung macht, wie es die Geschäftsordnung des Bundestages vorschreibt. In der Sitzung selbst sprechen die benannten Redner. Bislang ist es so, dass jeder Abgeordnete vor der Abstimmung über ein Gesetz eine persönliche Erklärung abgeben kann. Auch kann der Bundestagspräsident in der Debatte Abgeordnete sprechen lassen, die nicht von einer Fraktion benannt wurden. Nach der ersten Lesung wird ein Gesetz dann an die Fachausschüsse überwiesen und dort im kleinen Fachkreis noch einmal debattiert. Fachliche Änderungen über Fraktionsgrenzen hinweg können hier vorgenommen werden, dann geht das Gesetz als Beschlussempfehlung zurück ans Plenum und wird in aller Regel so abgesegnet. In den Sitzungen selbst hört man seit vielen Jahren keine kontroversen Debatten mehr, sondern nur bekannte Fraktions- und Parteistandpunkte. Wie eine Abstimmung endet, weiß man in der Regel vorher: Die Regierung stimmt zu, die Opposition stimmt dagegen, zumindest sofern es sich um ein Regierungsvorhaben handelt. In wenigen Fällen wird von den Fraktionsgeschäftsführern die Abstimmung freigegeben, was bedeutet, dass Abgeordnete dann nicht mit ihrer Fraktion stimmen müssen, sondern ihr Gewissen befragen und danach entscheiden dürfen. Diese Fälle sind allerdings die Ausnahme.
Vor ein paar Monaten, bei den Abstimmungen zum europäischen Stabilitätsmechanismus, weigerten sich einige Abgeordnete standhaft, sich der Fraktionsdisziplin zu unterwerfen. Die Abgeordneten Willsch von der CDU und Schäffler von der FDP blieben hart und erhielten in der Debatte von Bundestagspräsident Norbert Lammert sogar ein kurzes Rederecht. Dafür wurde Lammert von den Fraktionen und dem Ältestenrat gerügt. Als Konsequenz aus diesem für unsere Parteienoligarchie missliebigen Verhalten soll nun die Geschäftsordnung des Bundestages geändert werden. Im Prinzip soll sie künftig den Bundestagspräsidenten verpflichten, nur noch die Abgeordneten reden zu lassen, die von den raktionen benannt sind. Ausnahmen werden nur im Benehmen mit den Fraktionen möglich sein, also bei deren Zustimmung. Auch persönliche Erklärungen von Abgeordneten zu Abstimmungen werden in mündlicher Form vollkommen abgeschafft, sie dürfen nur noch schriftlich erfolgen und werden gekürzt.
Laut Grundgesetz sind die Abgeordneten in ihren Entscheidungen frei und nur ihrem Gewissen unterworfen, sie sind Vertreter des ganzen Volkes und an Aufträge und Weisungen nicht gebunden. In der Praxis müssen sie mit ihrer Fraktion stimmen. Wer diesen Grundsatz verletzt, wird bei der nächsten Wahl einfach nicht wieder aufgestellt, denn auch die Kandidatenauswahl findet längst nicht mehr in den Ortsvereinen der Parteien, sondern durch die Parteiführungen statt. Nun wird auch die Meinungsvielfalt im Parlament dadurch unterdrückt, dass es keine persönlichen öffentlichen Erklärungen mehr geben soll, und dass abweichler kein Rederecht mehr erhalten sollen. Damit wird der deutsche Bundestag, der Repräsentant des Volkes, zur bloßen Schaubude. Debatten sind eine Farce, Überraschungen sind ausgeschlossen. Der Bundestag wird damit endgültig zur Abstimmungsmaschine, dem Willen der Fraktionsgeschäftsführer unterstellt. Diese wiederum erhalten ihre Weisungen von den Partei- und Fraktionsvorsitzenden, bestenfalls noch von deren Vorständen. Wir sind zu einer Parteivorstandsdemokratie verkommen, aus einer repräsentativen Demokratie wird nach den Worten des mittelhessischen Vorsitzenden der Humanistischen Union, Franz-Josef Hanke, eine “repressive Demokratur”.
Natürlich ist es möglich, dass die Änderung der Geschäftsordnung vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wird. Voraussetzung ist allerdings, dass sich mutige Abgeordnete finden, die ihre Karriere für das Wohl der Demokratie opfern und klagen. Für mich ist aber entscheidend, dass die Partei- und Fraktionsführungen nicht mehr gewillt sind, öffentlichen Widerspruch auszuhalten und zu dulden, nicht einmal mehr im Parlament, wo es zum guten Ton gehört, oder doch wenigstens einmal gehörte. Die Repräsentanten selbst nehmen die Demokratie nicht mehr ernst, unterdrücken die freie Meinung und die freie Rede im Parlament. Damit sinkt das deutsche Demokratieniveau auf einen neuen Tiefpunkt. Kein Wunder, dass sich die Menschen von der Politik abwenden und sich nicht engagieren wollen. Die einzige Lösung wäre, die Macht der Parteien auch im Grundgesetz massiv einzuschränken. Doch wer sollte das tun? Es sind ja schließlich die Parteiführungen, die in ihren Hinterzimmern auch über Grundgesetzänderungen selbstherrlich entscheiden.
Artikel der Süddeutschen Zeitung zum Thema