Seit letzten Sonntag, 15. Mai, kommt es in Madrid und in vielen weiteren Städten Spaniens zu Massenprotesten, die – will man Twitter, Facebook und diversen Blogs glauben – immer mehr Zulauf erhalten und vielenorts zu Protestcamps führen. Doch die etablierten Medien schweigen …
Wie wenn die Welle von den arabischen Ländern übers Mittelmeer nach Südeuropa schwappen würde: Nun scheinen die Proteste auch in Spanien angekommen zu sein. Und ein innerer Zusammenhang ist nicht auszuschliessen: Hüben wie drüben geht es nämlich weniger um den Ruf nach Demokratie – und bestimmt nicht um eine Demokratie europäischen Zuschnitts, denn diese ist nicht nur in Europa inzwischen ziemlich diskreditiert –, vielmehr geht es um mehr Teilhabe, nicht nur politisch – das auch –, sondern hauptsächlich wirtschaftlich. Es geht um ein Auskommen und eine Lebensperspektive. Und es geht um ein tief verletztes Gerechtigkeitsgefühl – hüben wie drüben.
Wen wundert’s? In Spanien sind inzwischen über 20 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, bei den Jugendlichen sind mehr als 40 Prozent – und das sind die offiziellen Zahlen, inoffiziell dürften es mehr sein. Zudem ist auch in Spanien das grosse Sparfieber ausgebrochen. Doch die Sparübungen und neoliberalen Flurbereinigungen (z.B. Aufweichung des Kündigungsschutzes) werden wie überall mit sehr viel Misstrauen beobachtet – und offenbar nicht mehr wie eine herbe, aber notwendige Fastenkur einfach hingenommen. Zu gut ist die unverhoffte Grosszügigkeit der Regierung bei der Bankenrettung in Erinnerung. Man versteht nicht mehr, warum die Bevölkerung auf Geheiss der Regierung die Verluste der spekulierenden Finanzindustrie tragen soll, während diese bereits wieder satte Gewinne einfährt. Hinzu kommt, dass am kommenden Wochenende Regionalwahlen stattfinden – und auf den Wahllisten über hundert PolitikerInnen stehen, denen Korruption und Klientelwirtschaft vorgeworfen wird. Die Protestierenden wollen deshalb die Demonstrationen und Protestcamps – diese unter dem sinnigen Titel „Yes we camp!“ – bis zum kommenden Wochende weiterführen und rufen gleichzeitig dazu auf, den grossen Parteien die Stimme zu verweigern.
Über das wahre Ausmass der Demonstrationen herrscht Unklarheit. Unabhängige Angaben darüber gibt es kaum. Dass die Proteste am Zunehmen sind, kann indessen als gesicherte Erkenntnis gelten. Auch kann davon ausgegangen werden, dass es sich bis jetzt um friedliche Kundgebungen handelt, wenn man von diesen in Granada absieht, wo ein Protestcamp von der Polizei geräumt wurde. Ein Dominoeffekt wie in den arabischen Ländern ist auch in Europa nicht auszuschliessen, zumal in den südlichen Ländern, wo der Leidensdruck vieler Menschen in den letzten Monaten erheblich gestiegen ist und wo es, wie etwa in Griechenland, bereits erhebliche Schwelbrände gibt.
Warum das alles bis jetzt in den etablierten Medien kein Thema ist, bleibt mir ein Rätsel. Und darüber spekulieren mag ich zurzeit nicht. Was ich hingegen mag: ausgewählte Links rund um die Ereignisse in Spanien weiterempfehlen:
- interaktive Karte der bestehenden (grün) und geplanten (violett) Protestcams auf ikiMap (Klick auf Abbildung, um zur Karte zu gelangen):
- unabhängiges Nachrichtenportal Net News Express. Dort oben rechts in der Suchmaske „Spanien“ (oder so ähnlich) eingeben.
- spannendes Interview in deutscher Sprache auf ohrfunk.de mit dem in Spanien lebenden und gut informierten Netzaktivisten Rafael Eduardo Wefers Verástegui.
- #SpanishRevolution for outsiders: ein Blog in englischer Sprache, der erklärt, was in diesen Tagen in Spanien vor sich geht.
- Le Bohémien: Spaniens Jugend auf der Straße – mit Live-Ticker zur „Spanischen Revolution“.
- nochmals Le Bohémien: ein erhellendes Schlaglicht auf die möglichen Motive der arabischen Revolutionen wirft der ausgezeichnete Artikel Freiheit auf arabisch.
- Schluss mit der Farce!, Artikel vom 18. Mai auf taz.de.