„Marxismus und Existenzialismus“ // Zwei Vorträge im März

Vortrag „Marxismus und Existenzialismus“ (Christoph Zwi / Paul Stephan)

Aspekte des Verhältnisses von existentialistischem „drittem Weg“, „orthodoxem“ Georg Lukács und „extremistischer“ Situationistischer Internationale im Spannungsfeld der Ontologien.

Man kann nicht die Gesellschaftsordnung der sozialistischen Länder, die ich als „Produktionsgesellschaften“ bezeichnen möchte, mit unserer westlichen „Konsumgesellschaft“ auf die gleiche Stufe stellen. Die Probleme in diesen Ländern sind nicht die gleichen, und der Kampf der Arbeiterschaft nimmt infolgedessen auch unterschiedliche Formen an.
Aber diesen beiden unterschiedlichen Gesellschaftstypen ist wohl eines gemeinsam: Weder in der einen noch in der anderen „existiert“ der Mensch als freies und verantwortliches Individuum.
Der französische Bürger ist zunächst Konsument, aber ein „manipulierter“ Konsument, dem man nicht die Wahl dessen läßt, was er zu konsumieren wünscht, und dem man gleichzeitig vorspiegelt, daß er seine Freiheit ausübt, indem er die gleichen Produkte erwirbt wie alle anderen.
Ich habe in einer Frauenzeitschrift in einer Annonce für Badekostüme den außerordentlichen Satz gelesen: „Kühn oder diskret, aber mehr und mehr Sie selbst.“ Anders gesagt: „Kaufen Sie wie jedermann, um wie niemand zu sein.“ Darin besteht die Manipulation.
Der französische Bürger ist auch ein Produzent, aber auf diesem Gebiet ist die Entfremdung noch viel klarer. Auf jeder Ebene, sei er Arbeiter, leitender Angestellter oder Student: Sein Schicksal entgleitet ihm vollkommen. Er ist niemals Subjekt, sondern Objekt. Ohne ihn zu fragen, hat man für ihn von außen her den Lohn festgelegt, den er erhalten, oder die Prüfung, die er ablegen soll. Man hat ihn auf die Schienen gestellt, aber nicht er stellt die Weichen.
Dasselbe geht in den sozialistischen Ländern vor sich mit dem Unterschied allerdings, daß das Ziel nicht mehr der Konsum, sondern „die Produktion um der Produktion willen“ ist. Die Maschine dreht sich um sich selbst, und das Individuum hat in diesem Vorgang seinen Platz. Dieser Platz ergibt sich rigoros aus den für ihn abstrakten Erfordernissen eines „Plans“, an dessen Ausarbeitung er nicht teilgenommen hat. In der Tschechoslowakei beispielsweise ist eine Revolte gegen das entmenschte System der Produktion um der Produktion willen in eine Forderung nach der Freiheit eingemündet. (J-P Sartre 1968)

Ausgehend von der „klassischen“ Schaffensperiode Sartres (die Jahre nach der Veröffentlichung seines Hauptwerks Das Sein und das Nichts 1943 bis in die Mitte der 50er) soll im ersten Teil des Vortrags gezeigt werden, dass Sartre bereits hier eine Kritik am traditionellen Marxismus entwickelt, die bis auf den heutigen Tag Ernst zu nehmen ist. Im Mittelpunkt wird dabei Sartres dialektischer Begriff der Freiheit als „Freiheit in Situation“ stehen, mit dem er die Grundlage für seine spätere Sozialtheorie in Kritik der dialektischen Vernunft (1960) und seine große psychoanalytische Studie über Flaubert, Der Idiot der Familie (1971/72), legt. Zugleich sollen aus historisch-materialistischer Sicht mögliche Schwachpunkte seiner Theorie aufgezeigt und diskutiert werden.

Im zweiten Teil wird dargestellt, wie Sartres Konzeption von den beiden marxistischen Exponenten kritischer Theorie – dem eher revolutionär-konservativen (Lukács) und dem eher revolutionär-modernistischen Flügel (Situationist_innen) – in die Zange genommen wurde, d.h. am jeweils entwickeltsten kommunistischen Anspruch des 20.Jahrhunderts gemessen.

Was jedoch bei näherem Hinsehen die hier widerstreitend aufeinander bezogenen Theorie-Konzeptionen verbindet, was gewissermaßen philosophisch und philosophiekritisch ihr „kleinster gemeinsamer Nenner“ ist, mag überraschen, wenn sie an ihrem jeweiligen Anspruch als kritische Theorie der Gesellschaft gemessen werden, wenn man so will also: an ihrer“ linken“ Positionierung. Es handelt sich nämlich um ontologische Konzeptionen, sowohl was ihre Methoden als auch ihre Resultate wie praktischen Implikationen betrifft. Insofern alle drei Theorien oder Methoden – die existenzialistische, die gesellschaftsontologische und die situationistische – sich an dem von Marx datierenden Anspruch messen, „materialistisch“ und kompromisslos rationalistisch, also religionskritisch „wissenschaftlich“ zu sein, überrascht es zunächst ebenso, dass sie sich dabei auf ontologische und auf existenzialphilosophische Vorgaben und Standards beziehen, die von dezidiert antimaterialistischen Denkern gesetzt worden waren. Wir denken vor allem an Kierkegaard und Heidegger. Viele der entscheidenden Termini in der Auseinandersetzung um die „linken“ Ontologien, die wir hier abgleichen wollen, weil sie für die Auseinandersetzung um Sartre Voraussetzung waren, sind also schlicht gesagt von rechten Theoretikern geliefert worden. Sie mussten erst nach links gewendet, entwendet oder – wie Marx es von sich und der Hegelschen Philosophie gesagt hat: – umgestülpt werden, wenn es um ihre ideologiekritische Aneignung und Erledigung gehen sollte. Die Devise für diese kritische Methode hat Marx angesichts der politischen Ökonomen formuliert: ihre „barbarische Auseinanderreißung des Zusammengehörigen“ im gesellschaftlichen Sein und Bewusstsein, die verkehrte Darstellung von Wesen, Erscheinungsformen und Zusammenhang der Dinge in den Theorien soll uns keinen Augenblick glauben lassen, sie wäre „nicht aus der Wirklichkeit in die Lehrbücher, sondern umgekehrt aus den Lehrbüchern in die Wirklichkeit gedrungen“; noch die abstrusesten Theorien sind vielmehr bloß die ideologisch verzerrte „Auffassung realer Verhältnisse!“
So bleibt die höchst aktuelle Grundfrage im Streit der drei kommunistischen Ontologien des 20.Jahrhunderts – der „historisch-genetischen“ von Lukács, der „spektakelkritischen“ der Situationist_innen und der „phänomenologisch-spekulären Ontologie“ Sartres auch für das proletarisierte Individuum im 21. Jahrhundert die Herausforderung: wie es tatsächlich, bewusst und assoziiert, aus dem Hier und Jetzt heraus die materiell gegebenen Zwänge und Determinationen der bestehenden totalitär-warenförmigen Realität einer katastrophalen Klassengesellschaft überwinden und dadurch die notwendige und mögliche Freiheit (auch) zu einer weltgesellschaftlich-kommunistischen Produktions- und Lebensweise ohne Kapital/Lohnarbeit und Staaten erkämpfen kann.

Christoph Zwi ist u.a. als Mitglied des Autorenkollektivs BBZN (Situationistische Revolutionstheorie. Eine Aneignung) bekannt. Beide Referenten kommen aus Frankfurt am Main.

***

Termine:

Fr, 25. 3. 19:30 Augsburg // Selbstverwaltetes Zentrum „Die Ganze Bäckerei“ // LAK Shalom Bayern

Do, 31.3. 19:00 Frankfurt am Main // Institut für vergleichende Irrelevanz // Translab feat. Sartre-Lesekreis feat. theorie praxis lokal


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