Ein anderes Spanien
Marinaleda, ein kleines Dorf in Andalusien, hält sich die Krise vom Leib. Basiskommunismus statt Turbokapitalismus
Von Carmela Negrete
Eigentlich wollte Gloria Trujillo gerade nach Hause fahren. Es ist Mittagszeit, und da es im Rathaus von Marinaleda keine Kantine gibt, ißt sie für gewöhnlich in ihrer Wohnung. Doch für uns verzichtet sie auf das Mittagessen und fährt uns zu Humar.
Humar ist eine als Kooperative betriebene Konservenfabrik und der Stolz von Marinaleda, einem 2800-Seelen-Dorf in Andalusien, einer Region im Süden Spaniens. Vor zwei Jahren ist sie in Betrieb gegangen. Bis zu zwei Tonnen Artischocken können hier im Jahr verarbeitet werden. Hinzu kommen Paprika, Bohnen und Olivenöl. Die Früchte stammen vom Landgut Los Humosos, einem 17000 Hektar großen Gebiet an der Stadtgrenze. »Wir machen hier keine großen Gewinne, sondern kommen nur gerade so über die Runden«, erzählt Gloria. Seit einigen Jahren arbeitet sie im Gemeinderat und ist dort für soziale Angelegenheiten verantwortlich. Das macht sie ehrenamtlich. Ihr Geld verdient Gloria in der Kooperative. Der Monatslohn liegt bei 1200 Euro, und alle verdienen dasselbe. »Wenn wir Geld verdienen wollten, würden wir Weizen und Sonnenblumen anbauen, wie es die Großgrundbesitzer machen, um Subventionen der Europäischen Union abzurufen. Beim Weizen erledigt aber eine Maschine alle Arbeit, Paprika und Artischocken müssen hingegen mit der Hand gepflanzt und geerntet werden.«
Überhaupt läuft in Marinaleda vieles anders als im Rest von Spanien. Vor 37 Jahren, als mit dem Tod von Francisco Franco in Spanien die faschistische Diktatur zu Ende ging, herrschte in Marinaleda humanitärer Notstand. Die Landbevölkerung litt Hunger und Elend. Das 17000 Hektar große Gut Los Humosos wurde in einem quasi sklavenhalterischen System ausgebeutet, die Tagelöhner arbeiteten für kaum mehr als ein mageres Essen und wohnten in Baracken. Über die Ländereien verfügte der Herzog von El Infantado. Bis heute ist er einer der reichsten Großgrundbesitzer Spaniens.
Republikanischer Idealismus
Doch die Zeiten änderten sich. Seit dem Tod des Diktators gab es trotz der brutalen Unterdrückung durch die Polizei ständig Demonstrationen. Der Druck der Bevölkerung erzwang die Legalisierung der linken Parteien, viele Überlebende des Spanischen Bürgerkriegs kehrten voller Hoffnung aus dem Exil zurück. Sie wollten ihr Land aus der Rückständigkeit befreien, in die es vierzig Jahre Franquismus gebracht hatten. Das von Krieg und Diktatur verschüttete Ideal sozialer Gleichheit kehrte auf die politische Agenda zurück. Dazu gehörte die Forderung nach einer Agrarreform, die das fruchtbare Land in die Hand des Staates geben sollte.
Die von dem wiedergeborenen republikanischen Idealismus beseelten Einwohner von Marinaleda entschieden damals, die Ländereien des Herzogs zu besetzen. Auf ihnen sollten andere Produkte angebaut werden. Produkte, die den Bauern ein besseres Auskommen und ihren Familien eine bessere Versorgung ermöglichen sollten. Die Bauern traten in den Hungerstreik, für zwei Wochen. Während die Guardia Civil erfolglos versuchte, die Revolte zu zerschlagen, gingen die Bauern ein ums andere Mal auf die Straße, um zu demonstrieren.
Nach zwölf Jahren Besetzungen, Verhaftungen, Bestrafungen, Inhaftierungen und Nachstellungen durch die Behörden war die Regierung von Andalusien schließlich bereit, das Landgut von seinen Besitzern anzukaufen und der Kooperative zu übergeben.
Während das übrige Spanien jenes krisenhafte, auf Tourismus und Immobilienspekulationen basierende Wirtschaftsmodell herausbildete, schufen die Bewohner von Marinaleda ein basisdemokratisches System. Die Bewohner organisierten Vollversammlungen, die örtliche Wirtschaft wurde sozialisiert. Von Krise ist in Marinaleda bis heute keine Spur. Auch die in den anderen Teilen Spaniens einsetzende Landflucht ist im Bauerndorf kein Thema. Einwohnerzahl und Geburtsrate wachsen seit Jahren. Aktuell leben 2600 Menschen in Marinaleda.
Das System ist einfach, aber effektiv: Kein Gemeinderatsmitglied bekommt Geld für seine politische Arbeit. Das hat die Vollversammlung so beschlossen. Das Alter der Abgeordneten liegt zwischen 25 und 35 Jahren, und fast alle arbeiten auf dem Land. »Wir machen das aus Idealismus«, versichert Gloria. Gestern ist sie von einer Reise aus Cádiz zurückgekommen, wo sie bei einer feministischen Veranstaltung als Rednerin aufgetreten.
»Es ist interessant, daß wir hier bei all den Kämpfen, die wir geführt haben, nie eine Frauenvereinigung gegründet haben«, erzählt sie. »Wir haben immer gedacht, dadurch würden wir uns selbst ausschließen, hatten Angst, die Kräfte im gemeinsamen Kampf zu spalten.« Dafür gibt es Freundschaftsvereinigungen mit dem sahrauischen und dem palästinensischen Volk.
Auch mit der Landlosenbewegung Brasiliens, der MST, pflegen die Einwohner Marinaledas Kontakte, erzählt Juan Manuel Sánchez Gordillo. Er ist der Bürgermeister des Ortes, seit mehr als drei Jahrzehnten. Als er in dieses Amt kam, war er gerade einmal 25 Jahre alt. Die von der MST geforderte Landreform braucht es seiner Meinung nach auch in Spanien. »Lebensmittel sind ein Menschenrecht und kein Geschäft«, schimpft Gordillo. »In Andalusien besitzen zwei Prozent der Eigentümer 50 Prozent des Bodens. Diese Großgrundbesitzer müssen enteignet werden«. Gordillo ist ein umgänglicher Mensch; um ihn zu treffen, braucht man keinen Termin. Er ist ein Mann mit klaren Ideen, der schnell und energisch redet. Seinem Gegenüber sieht er dabei direkt in die Augen. Seit 2008 ist er neben seiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Bürgermeister Abgeordneter im andalusischen Parlament. Vorher hat er als Lehrer gearbeitet. Politisch versteht er sich als »libertärer Kommunist«. »Ich bin heute noch utopischer als damals, als ich angefangen habe, denn ich sehe, daß es möglich ist zu erreichen, was die Völker wollen«. Seine Partei, Kollektiv der Arbeitereinheit – Andalusischer Linksblock (CUT-BAI), hat bei den Lokalwahlen bislang immer die absolute Mehrheit errungen. Die einzige Opposition, die es derzeit im Rathaus gibt, ist die Spanische Sozialistische Arbeiterpartei. Die offen rechten Parteien haben hier keinen Platz. Bei den letzten Wahlen in Andalusien im März führte Gordillo die Liste der Vereinigten Linken (IU) an. Nicht zuletzt seinem Charisma ist es zu verdanken, daß sie die Zahl ihrer Abgeordneten verdoppeln konnte. Von der Führung der IU hält er allerdings wenig. »Sie glaubt an eine reformistische Lösung«. Eine solche hält Gordillo für unmöglich. »Innerhalb des Kapitalismus gibt es keinen Ausweg aus der Krise. Die reformistischen Lösungen sind gescheitert. Der Mythos von der unsichtbaren Hand des Marktes, die alles regelt, ist ebenso zerstört wie der von der Sozialdemokratie.«
Auch die großen spanischen Gewerkschaften seien gescheitert, »sie haben bewiesen, daß sie Teil des Systems sind.« Einen Ausweg sieht Gordillo deshalb nur »außerhalb des Kapitalismus«. Dafür will er die Banken nationalisieren, genauso wie die Energiewirtschaft, »damit niemand mit diesen Ressourcen spekulieren kann.« Das Thema Ernährung liegt ihm am Herzen. Wenig überraschend ist auch seine Meinung zur Agrarpolitik der Europäischen Union, die er für das Ende der Lebensmittelproduktion im Mittelmeerraum verantwortlich macht.
Doch Gordillo ist niemand, der nur Reden schwingt; seine Ansprüche verwirklicht er auch in seiner Politik. So verhandelt das kleine Dorf derzeit mit Venezuela über ein Handelsabkommen. Demzufolge soll Marinaleda Olivenöl an das lateinamerikanische Land verkaufen und dafür im Gegenzug billiges Erdöl erhalten. Vor einigen Monaten besuchte eine venezolanische Delegation das Dorf, und demnächst soll der Besuch dann in Caracas erwidert werden. Erzeugt wird das für den Handel vorgesehene Öl in der Kooperative, dem Wirtschaftsmotor des Dorfs.
Über 30 Jahre im Amt
Seine hohen moralischen Maßstäbe legt Gordillo auch bei sich an. Als er noch als Lehrer gearbeitet hat und mehr verdiente als viele im Dorf, gab er einen Teil seiner Einkünfte an die Nachbarn ab. Für ihn war das selbstverständlich: »Wenn jemand ein Linker ist, muß er das beweisen, indem er bei sich selbst anfängt. Das ist das Schwerste.« Von Politikern, »die in Fünf-Sterne-Hotels sagen, daß sie links seien«, hält er wenig, sie sind für ihn »unmoralische Lügner«.
Vielleicht ist es diese Kohärenz in Zeiten von allgemeiner Politikverdrossenheit, die das Geheimnis seines Erfolges ausmacht. Für Gordillo jedenfalls gleichen alle Parteien einander. »Sie sind alle prokapitalistisch. Sarkozy und Merkel machen das gleiche, was Zapatero in Spanien oder Papandreou in Griechenland gemacht haben.« Alle hätten sich »der Diktatur des Marktes« unterworfen. Das Zwei-Parteien-System (aus sozialdemokratischer PSOE und konservativer PP) hält er für einen Mythos. »Beide sind eine einzige Partei, die Partei des Kapitalismus.« Davon zeugten die Anhebung des Rentenalter auf 67 Jahre, die Zerschlagung der Gewerkschaftsrechte. »250 Milliarden Euro wurden allein den Banken in den Rachen geworfen.« Vor allem ständen sie für Krieg. »Beide haben uns in den Krieg geschickt, zuletzt gegen Libyen. Das war ein internationaler Staatsstreich. Vorher führten sie uns in die Kriege gegen Afghanistan und gegen den Irak.«
Die Macht des Bürgermeisters von Marinaleda ist in erster Linie eine moralische, denn alle wichtigen Entscheidungen werden von der Vollversammlung getroffen. Daß Leute ihn wegen seiner über dreißigjährigen Amtszeit kritisieren, nimmt er mit Humor. »Die Vollversammlung wählt mich doch ein ums andere Mal.«
Gloria jedenfalls hält Gordillo für einen guten Bürgermeister. »Er steht um sechs Uhr morgens auf und kommt um Mitternacht nach Hause. Und er macht die Politik nicht, um sich zu bereichern, sondern weil er für sein Volk kämpft.« Kein Dorf in der Umgebung habe das, was die Leute in Marinaleda hätten, sagt sie. »Das sind die Früchte der Volkskämpfe, und Juan Manuel ist in erster Linie ein Kämpfer, der uns immer anspornt.«
Arbeiten am »roten Sonntag«
Tatsächlich können die meisten Dörfer von ähnlicher Größe heute von den Bedingungen nur träumen, wie sie in Marinaleda herrschen: Kindergarten, Grund- und Oberschule, Sporteinrichtungen, und alles zu bezahlbaren Preisen. Auch die Trinkwasserversorgung wird von der Gemeinde gesichert. Während ein Kindergartenplatz in der Provinzhauptstadt Sevilla nicht unter 200 Euro im Monat zu haben ist, bezahlen Eltern in Marinaleda lediglich zwölf Euro für ihre Sprößlinge, und das Essen für die Kleinen ist schon dabei. In der Schule, die wie in ganz Spanien gebührenfrei ist, gibt es eine von der Gemeinde betriebene Kantine, in der hauptsächlich Produkte aus der Region zubereitet werden. Als im Januar bekannt wurde, daß die Regierung in Sevilla den Betrieb an das Dienstleistungsunternehmen EULEN vergeben wollte, organisierten die Eltern aus Marinaleda einen Ausflug dorthin und besetzten kurzerhand das Bildungsministerium der Junta von Andalusien. »Wir wollten nicht zulassen, daß sie uns den Betrieb der Schulkantine wegnehmen, damit irgendein Großkonzern mit seinem industriell gefertigten Essen kommt und wir am Ende noch unsere Arbeitsplätze verlieren«, meint Gloria, die an der Besetzung teilgenommen hat. Mit Erfolg: Die Provinzregierung lenkte ein, der Betrieb der Kantine bleibt in Gemeindehand.
Eine Lösung gefunden hat Marinaleda auch für ein Problem, das im übrigen Land zu den drängendsten gehört: die Wohnungsnot. Nach langen Diskussionen und Abstimmungen in ihren Vollversammlungen entwickelten die Einwohner ein einzigartiges System sogenannter selbstgebauter Eigentumshäuser. Die Gemeindeverwaltung stellt das Grundstück, die Handwerker und das Baumaterial. Die Bedingung dafür ist, kein Obdach zu haben und bereit zu sein, selbst beim Bau des Hauses mitzuarbeiten. Das Ergebnis kann sich sehen lassen, die Häuser haben etwa 90 Quadratmeter Wohnfläche auf zwei Etagen sowie einen 100 Quadratmeter großen Hinterhof mit einer Garage. So ein Haus kostet 50000 Euro. Auf dem freien Markt wäre die dreifache Summe fällig. Für die Hypothek zahlen die Einwohner Marinaledas Monatsraten in Höhe von nur 15 Euro, während sie in den Nachbardörfern bei nicht weniger als 500 Euro monatlich liegen. Seit den 80er Jahren wurden 300 solcher Gebäude errichtet, geplant ist der Bau von weiteren 100. Für den Bürgermeister ist dies eine klare Sache: »Nur durch die Verstaatlichung des bebaubaren Bodens und durch die Schaffung öffentlicher Bauunternehmen könnten die Preise für Wohnungen auf weniger als die Hälfte ihrer jetzigen Höhe gedrückt werden«, ist sich Gordillo sicher.
An den »roten Sonntagen« beteiligen die Einwohner sich gemeinsam unentgeltlich an notwendigen Reparaturarbeiten in ihrem Dorf. Als im vergangenen Jahr der vorbeifließende Rio Gentil Hochwasser hatte und eine Flutwelle den Fußballplatz verwüstete, haben alle Bewohner geholfen, ihn wieder herzurichten. »Niemand wurde dazu gezwungen«, erklärt uns Manuel Velázques, ein Rentner, der mit uns an einem Tisch im Café neben dem »Haus des Volkes« sitzt. In diesem Haus gibt es Veranstaltungen für die Rentner, die hier zudem eine Tortilla und ein Erfrischungsgetränk für günstige 1,20 Euro bekommen können.
Marinaleda ist in Mode gekommen. Reporter aus aller Welt haben das Dorf in den vergangenen Monaten besucht, darunter von der New York Times oder dem lateinamerikanischen TV-Sender TeleSur. Die Ortschaft ist zu einem Beispiel für eine Alternative zum Kapitalismus geworden, ist Bürgermeister Gordillo überzeugt: »Anstelle der Demokratie der Bourgeoisie brauchen wir eine Arbeiter- und Volksdemokratie. Gehen wir von der repräsentativen zur direkten Demokratie über. Der Ausweg muß eine revolutionäre Veränderung des Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells sein.«