Marianne, die Vermittlerin

Von Traumperlentaucher

Ich bin nicht Zigaretten holen gegangen, wie einige von euch jetzt denken mögen. Es ist bloß ein Virus, der mich daran gehindert hat zu schreiben. Ein Anti-Schreib-Virus sozusagen. Doch jetzt will ich hier von meinem letzten Besuch bei Armin im Sanatorium berichten, der noch vor der Virenattacke stattfand:

„Darf ich dir Marianne vorstellen“, Armin erschien mit einer etwa vierzig Jahre alten Frau an seiner Seite in der Kantine, wo wir uns verabredet hatten. Ihre langen Haare, die sie zu einem wilden Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, glänzten tiefschwarz. Dadurch wirkte ihre porzellanweiße Haut noch heller und durchsichtiger. Zwei grüne Augen über der Stupsnase schauten geradewegs durch mich hindurch. Trotzdem nahm sie mich offenbar zur Kenntnis. Sie formte ihren kirschrot bemalten Mund zu einem großen „O“:

„Oh, Sie sind also der Traumperlentaucher. Ich bin Marianne.“ Sie strecke mir ihre Hand entgegen. Sie fühlte sich eiskalt an.

„Freut mich Sie zu treffen. Sind Sie auch ein Gast dieses Etablissements oder nur auf Besuch?“

„Keines von beiden. Ich bin hier als Vermittlerin.“

„Marianne ist gekommen um zwischen den Welten zu vermitteln“, ergänzte Armin. „Bitte setzt euch doch.“ Er deutete auf einen Tisch in der Ecke.

Kaum saßen wir, wurde es dunkel. Armin zündete eine Kerze an. Vermutlich ein Stromausfall, oder ein verwirrter Patient, der die Sicherungen heraus geschraubt hatte.

„Die Schatten kommen immer näher“, sagte Marianne. Sie schaute immer noch durch mich hindurch. Unwillkürlich drehte ich mich um. Doch da wir nichts als die Wand und mein unruhiger Schatten.

„Ist das die Geisterstunde?“, versuchte ich zu scherzen.

„Geister haben keine Stunden“, sagte Marianne ernst.

„Wenn die Büchse der Pandora einmal offen ist, lässt sie sich nicht mehr verschließen“, warf Armin ein.

„Ihr seid verrückt“, entfuhr es mir. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können.

„Die Welt ist verrückt, nicht wir“, entgegnete Armin. „Doch nicht im üblichen Sinn. Sie ist verschoben, auseinander gerückt. Darum ist Marianne hier.“

Hatte ich es mir doch gedacht! Schon wieder eine angebliche Besucherin aus dem Jenseits. Doch für mich war Marianne nichts weiter als eine Patientin in diesem Irrenhaus. Aber ich musste vorsichtig sein. Verrückte liebten es nicht, auf ihr Verrücktsein angesprochen zu werden. Man sollte Menschen immer das Gefühl geben, normal zu sein. Hier drin und draußen sowieso.

„Marianne vermittelt zwischen den Schatten und dem Licht“, fuhr Armin fort. „Beide brauchen einander und können ohne einander nicht leben. Wenn sich die Schatten selbstständig machen, versinkt die Welt im Chaos.“

„Und was hat das mit der Büchse der Pandora zu tun?“

„Die Schatten haben sie geöffnet“, sagte Marianne. Ihre Augen glitzerten im Kerzenlicht.

„Dann haben sich die Schatten also schon selbstständig gemacht! Ist das Chaos denn noch aufzuhalten?“ Ich spielte das Spiel mit. Man sollte Verrückten nie widersprechen.

In diesem Augenblick ging das Licht in der Kantine wieder an. Ich blinzelte, es dünkte mich unnatürlich hell. Doch wo war Marianne? Ich saß mit Armin allein am Tisch.

„Wo ist sie hin?“

„Wen meinst du?“

„Marianne natürlich, die Vermittlerin.“

„Ich kenne keine Marianne.“ Armin schaute mich verständnislos an.

Ich schüttelte verwirrt den Kopf. „Dann haben die Schatten auch nicht die Büchse der Pandora geöffnet?“

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Vielleicht solltest du ein paar Tage hier bleiben. Gerade ist neben meinem Zimmer eins frei geworden.“

Mir wurde kalt. „Eine Frau in den Vierzigern, schwarzes Haar, grüne Augen, Stupsnase, porzellanweiße Haut?“

Armin schaute mich entgeistert an. „Du hast sie gekannt?“

„Ja, sie ist eine von drüben. Eine Fremde.“ Ich war mir sicher.

Doch jetzt, wo ich an dieses Ereignis zurückdenke, bin ich mir nicht mehr sicher, ob es wirklich oder bloß ein Traum war.

Auch Sicherheit ist nur eine Illusion. Und Selbstsicherheit der Glaube an diese Illusion. Euer Traumperlentaucher.