María de Buenos Aires in Braunschweig – Sinnlich und nah

Von Theaternomadin

Wer an Astor Piazzolla denkt, denkt an Tango. Und wer an Tango denkt, sollte in Braunschweig auch an Oper denken. Oder vielmehr an Operita, denn so hat der argentinische Komponist sein einziges Musiktheaterwerk im Untertitel genannt. Für Piazzolla war María de Buenos Aires eines der wichtigsten Stücke, die er in seinem Leben komponiert hat. Und dieses außergewöhnliche Werk ist derzeit in einer einfühlsamen Inszenierung von Operndirektor Philipp Kochheim am Staatstheater Braunschweig zu erleben.

Fußball, Pferderennen, Prostituierte, Besäufnisse

"Tango-Musiker sprachen im Allgemeinen von Fußball, Pferderennen, Prostituierten und Besäufnissen." So hat Piazzolla es jedenfalls in Buenos Aires erlebt. Er selbst unterhielt sich viel lieber über Musik und spielte Bach und Mozart auf dem Bandoneon. Seine Offenheit gegenüber anderen Stilrichtungen und sein Anspruch, ein ernstzunehmender Musiker zu sein - jenseits des immer gleichen "chan chan" (wie die beiden typischen Schlussakkorde eines Tangos genannt werden) - machten aus ihm einen umstrittenen Komponisten. Er schrieb dichte und anspruchsvolle Stücke, die das Publikum zum aktiven Zuhören statt zum Tanzen anregen sollten. Was die damalige, teilweise sehr skeptische Tangowelt noch nicht ahnte - Piazzolla sollte mit seiner Weiterentwicklung des Tango (der sogenannte Tango Nuevo) gerade zu dessen Bewahrung beitragen.

Libertango, interpretiert von der Staatskapelle Berlin, Aydar Ganullan (Akkordeon), Artyom Dervoed (Gitarre), Sergey Shamov (Cajon), Alexander Muravev (Kontrabass) unter der Leitung von David Robert Coleman

Yo soy María

In ihrer Originalfassung ist die kleine Oper eine mystisch-poetische Geschichte über den Tango an sich. María ist dabei die Personifikation dieser Musik und des dazugehörigen Tanzes - eine schöne, verführerische, stolze und abgrundtief leidenschaftliche Frau. Sie wird beschwört von "El Duende", dem Geist, der ihre Geschichte erzählt - sowohl im Diesseits als auch im Jenseits. Denn der erste Teil der Operita endet mit einem skurrilen Begräbnis von María. Danach ist sie verdammt, als ihr eigener Schatten durch die Welt zu streifen - ihrer Erinnerung beraubt. Ein einziger Drang bestimmt ihre zweifelhafte Existenz: Sie will ihr Andenken aufrecht erhalten. Abstruse Psychoanalytiker wollen ihr bei diesem Vorhaben helfen und ihre Erinnerung zurück holen - ohne Erfolg. Währenddessen beweint der Geist den Verlust Marías und ersehnt ein Wunder: Sie soll einen Nachkommen zeugen und so wieder auferstehen. Am Ende gebiert sie ein Mädchen. Es bleibt unklar, ob sie die Reinkarnation von María selbst ist.

Yo soy María aus María de Buenos Aires von Astor Piazzolla mit Julia Zenko

Ich konnte sie nie vergessen

Philipp Kochheim hat aus diesem abgehobenen Mythos von Sehnsucht, Erinnerung und Leidenschaft eine lebensnahe Erfahrung gemacht. In seiner Inszenierung ist der so genannte Geist, der Duende, ein alter Mann, der sich kurz vor seinem Tod an die große Liebe seines Lebens erinnert: María de Buenos Aires. "Ich habe sie nie... ich konnte sie nie... vergessen." Das ist es, was er zu Beginn des Abends wiederholt, stockend und schwer. Und wenn dann zum ersten Mal eine weibliche Stimme mit einer wortlosen Melodie erklingt, sieht man diesen Mann förmlich zerbersten vor schmerzvoller Sehnsucht.

Das Personal der Braunschweiger Produktion von María de Buenos Aires wurde von Kochheim prägnant reduziert. Neben dem Duende und María gibt es einen jungen Mann und eine junge Frau, die namenlos bleiben. Ihre Rollen sind ambivalent. Sind sie die jungen Alter Ego der gealterten Liebenden? Ist er der enge Freund des Duende? Ist sie eine eifersüchtige Geliebte des Freundes oder gar des Duende selbst? Letztendlich sind derartige Fragen und Spekulationen über die Konkretheit der beiden Figuren nebensächlich. Denn die dichte und sanft choreographierte Personenführung konzentriert sich auf das, was dazwischen passiert - zwischen Mann und Frau, zwischen Herz und Vernunft, zwischen Realität und Traum. Und Kochheim ermöglicht dem Zuschauer nicht nur inhaltlich, sondern auch räumlich einen nahen Einblick in dieses Dazwischen.

Nah

Die besondere kleine Oper von Piazzolla wird an einem besonderen Ort gespielt. Das Publikum wird vom prunkvollen Foyer durch nüchterne Gänge bis ins Allerheiligste des Staatstheater Braunschweig geführt: auf die Bühne. Die Spielfläche ist ein langes rechteckiges Podest, worauf stapelweise alte Zeitungen und leere Schnapsflaschen drapiert sind. In einer Ecke steht ein Schreibtisch mit einem alten Aufnahmegerät. Ein krauses, hoffnungslos verwickeltes Tonband-Bündel hängt bis auf den Boden. Welche vergessenen Erlebnisse wohl darauf festgehalten waren und nun für immer verloren sind? Das Publikum sitzt auf Tribünen zu beiden Seiten, der nächste Platz ist ungefähr einen Meter vom Podest entfernt. Es ist eine sehr intime Atmosphäre, die der Operita sehr entspricht. María de Buenos Aires ist in Braunschweig kein Spektakel von Virtuosität, keine oberflächliche Tango-Show.

Es ist eine Erinnerung an den Tango und an alles, was er dem Duende bedeutet. So wirkt die Choreographie von Sean Stephens auch sehr fließend und vielfältig - sobald eine Abfolge von klassischen argentinischen Tango-Schritten erkennbar ist, löst sie sich schon wieder auf, um in leichten Ballettbewegungen oder in entspannte Körperlichkeit überzugehen. Natürlich und wie selbstverständlich. Zusammen mit der energischen Musik von Piazzolla (von Johanna Motter stimmig und mit viel Witz arrangiert) ergibt das eine bunte Bandbreite der schönsten und schrecklichsten Emotionen, die ein Mensch durchleben kann. Von verliebter Besessenheit über knisternde Sinnlichkeit bis hin zu tieftrauriger Verzweiflung - das alles ist Tango, ist María de Buenos Aires.

Damals, an einem heißen Tag in Buenos Aires

Und über all diesen Gemütsbewegungen schwebt die große Frage, ob es die große Liebe des Duende überhaupt jemals gegeben hat. Die Existenz einer Frau namens María wohnhaft in einem Vorort von Buenos Aires steht dabei nicht in Frage - aber gab es jemals eine Liebesgeschichte zwischen ihr und dem Duende? Hatten sie wirklich diese eine, einzige Nacht, in der sie sich ganz einander und dem Tango hingegeben haben? Oder war der Duende nur ein Stalker, der diesem begehrenswerten Mädchen überallhin gefolgt ist und sich niemals getraut hat, sie überhaupt anzusprechen? In seiner Fantasie könnte sich diese Besessenheit dann zu einem Tagtraum verfestigt haben und später dann zu einer Verfremdung der Wirklichkeit. Eine Tonbandaufnahme, die wieder und wieder abgespielt wird, scheint dem Zuschauer einen Hinweis darauf zu geben, was wirklich geschehen ist. Dieser akustische Tagebucheintrag des Duende berichtet von einem heißen Tag in Buenos Aires. Es war der Tag, an dem er María zum ersten Mal sah. Manchmal scheint er sich an diesem Zeugnis von damals festzuhalten, manchmal stoßen ihn seine eigenen Worte auch ab. Eine offenkundige Anspielung an Samuel Becketts Stück Das letzte Band, in dem sich der Protagonist ebenfalls mithilfe eines Tonbandes an eine alte Liebesgeschichte erinnert. Sein jüngeres Ich ist ihm fremd geworden, scheint ihm bisweilen sogar lächerlich. Und die damit verbundene Erinnerung unwirklich. Am Ende seines Lebens steht der Duende seiner María gegenüber. Und es spielt keine Rolle, was damals geschehen ist und ob sie überhaupt real ist. Denn seine Liebe war und ist echt.

Kritik im Opernfreund vom 30. Dezember 2014 María de Buenos Aires. Tango-Operita von Astor Piazzolla (UA 1968 Buenos Aires)

Staatstheater Braunschweig
Musikalische Leitung: Johanna Motter
Regie: Philipp Kochheim
Choreographie: Sean Stephens
Bühne und Kostüme: Barbara Bloch
Dramaturgie: Christian Steinbock

Besuchte Vorstellung: 3. Januar 2015