Margot Honecker, die ARD und der Sozialismus

“Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.” Dieser Satz aus dem Evangelium des Johannes kam mir in den Sinn, als ich die geifernden Artikel las, mit denen die Sendung Der Sturz -Honeckers Ende, die gestern in der ARD zu sehen war, begleitet wird. Die Dokumentation von Eric Friedler hatte eine gute Quote, und sie offenbart, dass der kalte Krieg noch längst nicht vorbei ist. In der Sendung war das erste Interview zu sehen, das Margot Honecker seit dem Ende der DDR gegeben hat.

Margot Honecker, die Frau an Erichs Seite, die “einst mächtigste Frau der DDR”, wie die ARD behauptet, Volksbildungsministerin und überzeugte Sozialistin – noch immer. Das nimmt man ihr übel. Deshalb sieht man in ihr nur die “Gattin des letzten Diktators auf deutschem Boden”. Der letzte Diktator wird allerdings als welt- und realitätsfremder Trottel dargestellt, der weder kapierte, was in seinem Land vor sich ging, noch, was eigentlich sein Job war. Denn wäre er jener Diktator, der er angeblich gewesen sein soll, tatsächlich gewesen, dann hätte er ja einfach diktieren können, dass seine vorgeblichen Mitstreiter mit der Demontage der DDR aufhören sollen. Hat er aber nicht. Insofern war er wohl wirklich ein Trottel. Oder er hatte gar nicht jene unumschränkte Macht, die ein Diktator genießt. Letztlich ist es auch egal – Fakt ist, dass der angebliche Diktator von seinen Getreuen aus dem Amt gejagt wurde und am Ende sogar bei einem Pastor unterkriechen musste. Honecker im Kirchenasyl! Ausgerechnet! Immerhin, meine Achtung vor Kirchenleuten ist durch diesen Akt des Pastor Holmer wieder deutlich gestiegen. Nein, es sind nicht alle schlecht!

Fakt ist aber auch: Niemand hat Angst vor Erich Honecker gehabt. Seine Leute haben ihn vor lauter Eifer, sich dem überlegenen kapitalistischen Westdeutschland an den Hals zu werfen, fallen lassen wie eine heiße Kartoffel. Sie haben ihn einfach ignoriert. Das heißt: So wichtig kann er nicht gewesen sein. Es war einfach egal, ob er samt Frau krepiert, ob ein Pöbel ihn aufknüpft oder ob er abhaut. Honecker war faktisch noch bedeutungsloser als ein bundesdeutscher Bundespräsident, der beim Volk in Ungnade gefallen ist. Diktator? Lächerlich!!!

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich bin kein Ossi, kein nativer jedenfalls. Ich bin im sogenannten Zonenrandgebiet aufgewachsen, jener Ungegend, wo nach Osten hin die Welt zuende war. Meine Eltern, eingefleischte CDU-Wähler, die ließen kein gutes Haar an den Sozialisten. Ich bin wirklich nicht in einem DDR-freundlichen Umfeld aufgewachsen. In der Schule hielt ein Verwandter einer Lehrerin ergreifenden Vorträge über die Ausreise seiner Familie, erzählte von den Schikanen, denen er und seine Familie ausgesetzt waren, nachdem sie den Ausreiseantrag gestellt hatten. Immerhin: Sie kamen in den Westen. Wie viele andere. Es tauchten immer wieder neue Schüler auf. Und wir hörten regelmäßig die Berichte über Menschen, die ihren Fluchtversuch nicht überlebten. Und ich bin sicher: Die haben nicht gelogen. Die haben erlebt, was es heißt, ein System gegen sich zu haben.

Es gab Ausflüge an den Grenzstreifen, dieser hässlichen, zackigen Narbe durch den Wald. Durch die Felder, sogar durch Dörfer. Es war quasi das Ende der Welt. Wir gruselten uns, wenn wir den Todesstreifen sahen, die Wachtürme mit den Grenzern. Die Grenzer, die mit Hunden patrouillierten. Und die nie zurückwinkten, so oft wir es auch versuchten. Und ich fragte mich, warum diese DDR eine solche Angst hatte, dass sie sich mit diesem Todesstreifen umgab. Vor wem hatten die dermaßen Angst?!

Heute muss ich sagen; Ja, die hatten zu recht eine solche Angst. Die haben versucht, ihre Leute vor dem Zugriff des globalen Kapitalismus zu schützen. Aber sie waren nicht in der Lage, das ihrem Volk schlüssig zu erklären. Hätten die Griechen, die Spanier, die Portugiesen geahnt, was der Zugriff des internationalen Kapitalismus auf ihr Land bedeutet, die hätten doch mindestens so eine Grenze errichtet! Aber jetzt ist es eh zu spät.

Und, hier hat die Volksbildungsministerin Margot Honecker kläglich versagt, ihr Volk ist wie eine blöde Herde zur D-Mark übergelaufen. Nein, es ging nicht um die Freiheit. Das behauptet nur der Gauck. Es ging darum, endlich ein richtiges Geld in den Händen zu halten, für das man die ganzen tollen Westprodukte kaufen kann. Dass man sich für dieses Geld auch selbst verkaufen muss, war den guten Ossis bestimmt nicht klar. Sonst wäre das Ding vielleicht anders ausgegangen. Aber so ist das nun mal: Für ein richtiges Geld muss man bluten. Deshalb ist auch kein Opfer zu klein für den Euro. Und wer das nicht glaubt, der muss nur mal die Nachrichten ansehen.

Die Sozialisten, zu denen sich Erich und Margot Honecker zählten, wollten ihr Volk vor dem Zugriff des Weltkapitals schützen. Leider haben sie das nicht besonders gut gemacht. Die DDR war kein Paradies. Und, wo wir gerade dabei sind: Auch Kuba ist kein Paradies. Trotzdem schmerzt es mich, dass die kubanische Regierung inzwischen sturmreif geschossen ist: Jetzt gibt Kuba genau dieses heilige Gut auf: Sie überlassen ihre Bevölkerung der Benutzung durch das Kapital. China tut das ganz offensiv, andere, angeblich noch sozialistische Länder eher heimlich, etwa Vietnam oder auch Laos. Die DDR hat auch versucht, eine alternative Wirtschaftsform aufzubauen, mit der sie sich vom Weltmarkt abgekoppelt hat, um genau das zu vermeiden: Ihre Menschen dem internationalen Kapital preis zu geben. Sie schuften zu lassen für privaten Profit.

Statt dessen sollten sie am Aufbau des Sozialismus arbeiten, an einer gerechteren Gesellschaft, die jedem eine Chance gab. Aber allein mit der Tatsache, dass die gut ausgebildeten Ossis unsere schönen Waschmaschinen für Quelle zusammengeschraubt haben, ist dieser Anspruch erledigt! Und Michail Gorbatschow, der große Held des Westens, hat diese Entwicklung vorangetrieben. Klar, dass die Wessis den lieben. Er hat den Ausverkauf des Sojwet-Imperiums eingeleitet. Und, ehrlich: Ich gehe davon aus, dass er es irgendwie gut gemeint hat. Aber kapiert, was er da angerichtet hat, hat er nicht. Insofern widerspreche ich Margot Honecker: Gorbi ist kein Lügner. Er hat einfach nicht kapiert, was der eigentliche Widerspruch von Kapitalismus und Sozialismus ist. Das spricht auch nicht gerade für ihn.

Zurück zur DDR: Den Herrschenden ist nicht gelungen, ihrem Volk beizubringen, warum sie tun, was sie tun. Darin liegt für mich das eigentliche Versagen der DDR. Warum diese ganzen sinnlosen Grausamkeiten? Natürlich auch wieder typisch: Margot Honecker soll sich für Torgau entschuldigen. Ich bezweifle nicht, dass dort schreckliche Dinge geschehen sind. Aber das war doch auch im Westen so! Die Arbeit am Film Bambule war einer der Gründe für Ulrike Meinhof, sich der RAF anzuschließen. Die schrecklichen Zustände in den westdeutschen Kinderheimen, das Unrecht, das den Kindern und Jugendlichen dort geschehen ist. Das gab es auch in der DDR. Beides ist furchtbar! Und gerade von einem sozialistischen Staat hätte ich das nicht erwartet. Aber bezeichnenderweise hebt die ARD-Dokumentation ausgerechnet das hervor. Wer war in dieser Zeit eigentlich für westdeutsche Kinderheime zuständig? Wer ist für den Missbrauch in westlichen, kirchenlichen Kinderheimen zuständig? Oder für den Missbrauch an Schülern und Schülerinnen der westdeutschen Odenwaldschule?

Nein, ich denke nicht, dass Margot Honecker eine Heilige war. Diese Frau mit dem eigenartig stahlhelmblauen Haar hatte Macht, und sie hat sie gewiss nicht immer so eingesetzt, wie ich das getan hätte. Aber sie ist nicht nur für das ganze Unrecht zuständig, das in der DDR geschah, sondern immerhin auch für ein exzellentes Bildungssystem – ich kenne eine ganze Reihe Ostdeutscher, die davon profitiert haben. Gerade die Menschen in meinem Alter, die kurz vor der Wende schon Abitur oder eine Ausbildung gemacht haben, meinen, dass die mit dem Bildungssystem der DDR eigentlich ganz gut gefahren sind. Und: Entgegen anderslautender Gerüchte durften auch Kinder von Republikflüchtigen oder Pfarrern studieren. Auf Staatskosten, wenn sie nur begabt waren.



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