Margaux Motin: La tectonique des plaques

Von Buchwolf

Junge, urbane, moderne Frauen gibt’s nicht nur bei Margaux Motin, sondern auch bei Starbuck’s in Wien. Skizze von 2012.

Als wir auf unserer letzten Frankreichreise vergangenen Sommer in Forbach bei Saarbrücken eine Mittagspause einlegten, gerieten wir in eine gute Buchhandlung, wo mir ein Comic-Buch wegen seines Covers ins Auge stach: Auf weißem Grund schwebt eine fast nackte junge Frau, die sich ganz begeistert den Körper bemalt, sodass sie über und über tätowiert erscheint. Die Autorin und Zeichnerin: Margaux Motin. Den Namen kannte ich doch? Tatsächlich, ich habe von ihr „Ich wäre so gerne Ethnologin…“ (siehe Eintrag vom 12. 12. 12). Schon dieses Comic hatte mir sehr gefallen, also musste das neue ebenfalls gekauft werden.

Und es hat mich nicht enttäuscht.

Das Buch ist eine ideale Nachtkästchenlektüre, denn es besteht aus vielen kurzen „Storys“, die ein bis zehn Seiten lang sind (die kurzen überwiegen bei weitem). Die Geschichten erzählen vom Alltag einer vierunddreißigjährigen alleinerziehenden Mutter einer kleinen Tochter. Einige Hinweise machen klar, dass es sich um Margaux Motin selbst handelt. (Wie weit diese Geschichten autobiographisch sind, kann ich aber nicht beurteilen.) Es gibt auch einen Liebhaber, der im Leben der jungen Frau allerdings eine noch untergeordnetere Rolle als das Töchterlein spielt. In erster Linie geht’s nämlich um die Befindlichkeit der Hauptperson, die sozusagen eine exemplarische Vertreterin der jungen, urbanen, modernen Frau ist: hin und her gerissen zwischen Gefühlen, Ansprüchen, Sehnsüchten, Problemen, Wünschen, Verpflichtungen, Lüsten und Plagen.

Sie sieht prototypisch aus:

Ihre schlanke Figur steckt, wenn überhaupt, entweder in hautengen Jeans oder in Shorts (jenem Modewunder, das sich jetzt schon sechs Jahre unverminderter Popularität erfreut), dazu in irgendeinem schlappen Oberteil, das halb von der Schulter hängt. Lange Haare, in verschiedenster Weise zusammengebündelt oder zerstrubelt. Sportschuhe oder High Heels.

Sie spricht prototypisch:

den Slang der jungen, urbanen… (siehe oben). Da ich das französische Original las (deutsche Übersetzung gibt es vorläufig noch keine, aber vielleicht arbeitet der Carlsen-Verlag schon daran), hatte ich Gelegenheit, eine Fülle neuer Schimpfwörter kennenzulernen, deren Sinn manchmal nicht einmal meine im modernen Alltagsfranzösisch äußerst beschlagene Frau entschlüsseln konnte. Der Großteil aber war verständlich und sorgte für Heiterkeit, weil diese Sprache ungemein treffend ist. Ständig hat man das Gefühl: Ja, genau so sagt so jemand das!

Sie denkt und fühlt prototypisch:

Immer auf der Suche nach dem – momentanen – Glück, versucht sie ihre disparaten Lebensbereiche unter einen Hut zu bekommen. Man ist zwar eine halbwegs fürsorgliche Mutter, wäre aber gerne ein attraktiver Single (deshalb kauft man – fast – ein T-Shirt für die Tochter, mit der Aufschrift „If you think I’m a Bitch, wait until you meet my mother“). Der Jugendlichkeitswahn der Mutter kommt manchmal sogar der Tochter bedenklich vor: „Mama … ? Muss ich dir wirklich ähnlich sein, wenn ich groß bin, oder kann ich dann auch normal sein?“ (So die Tochter, als sie der Mutter beim Zumba zusieht.)

Man sollte zwar arbeiten (die Heldin ist ja Comiczeichnerin und arbeitet zu Hause am Mac), hätte aber lieber Freizeit (weshalb man sich um 9 zur Arbeit an den Computer setzt, feststellt, dass es schon 9.01 ist, eine Zeit, zu der man nicht zu arbeiten beginnen kann, weshalb man den Arbeitsbeginn auf 10 verschiebt). Überhaupt diese Heimarbeit, die verfolgt einen bis aufs stille Örtchen (weil man ja sein iPhone immer griffbereit hat).

Die Männer, konkret: dein Freund, erweisen sich auch nicht immer als der Traumtyp. (Was zum Beispiel liest er in einem deiner ausrangierten „Glamour“-Hefte? Einen Bericht über eine junge Hure. Deine Reaktion: „Putain! Tu respectes vraiment rien! Mer-deuh!!“ Und er, nachdem du ihm einen Vortrag über die Würde der Frau gehalten hast: „Was regst du dich so auf?? Du hast wohl deine Tage, oder?“) Oft sind es auch Lächerlichkeiten, die einen schönen Abend vereiteln (da ist ein fantastisches Vorspiel in Gang gekommen, und als es konkret wird, verheddert man sich so sehr in den engen Klamotten, dass nicht einmal ER sie einem vom Leib reißen kann).

Natürlich ist man permanent online. iMac, MacBook, iPad und iPhone sind daher allgegenwärtig. Töchterlein wird zum Beispiel in der Schule gefragt, was die Mama so macht, und sagt: „Meine Mama zeichnet suuperschöne Zeichnungen…“ – „Und weiter?“ – „Außerdem ist sie auf Facebook. Und sonst trinkt sie Wein.“ (Peinlich, peinlich. Manchmal, denkt unsere Heldin, wäre es besser, wenn sie ihr kleines Maul halten würde.)

Auch Freundinnen hat man (à la „Desperate Housewives“ – diese Serie kommt tatsächlich vor), die gelegentlich getröstet werden wollen, wenn ihre Beziehungsprobleme überhand nehmen. Und umgekehrt („Ha bah voilà! Er hat mich bei Skype und Facebook geblockt! Jetzt kann ich ihm nicht einmal mehr nachspionieren. Super!“). Aber auch aus der tiefsten Krise kommt man irgendwann mal wieder heraus. Zum Beispiel, indem man das dämliche T-Shirt, das er einem geschenkt hat, endlich beseitigt und ein neues, rein weißes anzieht, ans Fenster tritt, sich mit der Freundin hinauslehnt und sagt: „Weißt du, was ich heute am liebsten täte? – – Leben.“ (Das unter dem Stichwort „Resilienz“. Man sieht, Margaux Motin katapultiert uns ganz an die Spitze des aktuellen Sprachgebrauchs.)

Ein neues Ich wäre schön

Wenn man 34 ist, hätte man schon gelegentlich gern ein neues Ich. Etwa, wenn man in der Umkleidekabine beim Bikini-Anprobieren die Panik vor diesem weißen Gespenst im Spiegel bekommt: „Ich muss mir meinen Körper amputieren lassen!! Jedenfalls müssen diese kalten Neonleuchten in den Kabinen augenblicklich verboten werden.“ Daher also: Fitness (auch wenn man nach zweieinhalb Minuten halbtot vom Hometrainer kippt). Und: Gelassenheit (auch wenn die Kaffeemaschine ewig braucht, man beim Telefonieren in der Warteschleife landet, am Bildschirm das berüchtigte „Windradl“ sich nicht zu drehen aufhört: dennoch: „Namasté.“).

Man beschließt außerdem, es mit östlichen Heilslehren zu versuchen, und begibt sich in die Hände einer kundigen Asiatin. Hier nun erfährt die Leserin bzw. der Leser endlich, was es mit dem seltsamen Buchtitel auf sich hat: Die Asiatin befragt Margaux, wo sie der Schuh drückt. Hier… Aha. Und da… Kein Wunder. Körperteil für Körperteil wird durchgegangen – und während des Gesprächs „erblüht“ er voller schöner bunter „Tattoos“ (wie auf dem Titelbild), dabei fühlt Margaux sich immer seltsamer, als würde sich in ihrem Inneren alles bewegen. Zen-Trainerin: „Jaaa, jaaa, das sind die inneren Kontinente, die sich verändern!“ Margaux: „So, als würde sich die innere Landkarte verändern? Wie bei der Plattentektonik?“ – „Exakt. Wie bei der Plattentektonik.“

Stil

Wie ist das Ganze gezeichnet? In einem ganz unaufgeregten, klaren Stil, mit perfekter „Körperbeherrschung“, ein bisschen mangahaft riesigen Augen, hundertprozentig getroffener Mimik und sparsamem, aber genau passendem Einsatz von Farbe. Motin verzichtet auf die Umrahmung der einzelnen “Kader”, sodass sich die ProtagonistInnen im weißen Raum bewegen, manchmal mit sparsam angedeuteten Gegenständen oder Möbeln. Oder einfach nur mit einem dezenten Farbfleck als Stimmungssignal. Eine Meisterin ihres Fachs. Wer Beispiele sehen will, sei auf den Blog der Künstlerin verwiesen.

Margaux Motin: La tectonique des plaques. Guy Delcourt Productions, 2013. Ohne Seitenzahlen (ca. 300 Seiten).