Schloime und sein liebes kleines Mädchen Marceline hatten nie die Chance, sich zu streiten oder stürmische Auseinandersetzungen zu haben. Als Marceline ein 15-jähriges Mädchen ist, werden beide für immer getrennt. Viele Jahre später wünscht Marceline sich, dass es solche Streits gegeben hätte. Wie gern hätte sie knallende Türen und Versöhnungen gehabt. Doch …
… wir sind in dem Moment getrennt worden, als wir hätten anfangen können (S. 88). Die heute 87-jährige Regisseurin, Drehbuchautorin und Schauspielerin wurde 1943 gemeinsam mit ihrem Vater Schloime verhaftet, 1944 ins KZ Auschwitz deportiert und dann von ihm getrennt. Dem Vater gelingt es damals, seiner Tochter einen einzigen Brief in das Frauenlager zu schmuggeln. Ein Mithäftling war mit einem Papierfetzen gekommen und hatte laut rufend nach ‘Rozenberg, Marceline?’ gefragt. Das war sie! Nur wenige Zeilen stehen auf diesem winzigen Stück Papier, hingekritzelt von ihrem Vater Schloime. Er wird nie erfahren, ob Marceline diesen Brieg gelesen, was sie gedacht hat, denn … Ich hatte nichts, um dir zu antworten, weder Papier noch Stift, die Dinge hatten unser Leben verlassen, sie bildeten Berge in den Schuppen, in denen wir arbeiteten … wir hatten nur einen Löffel, in eine Naht, eine Tasche oder unter einen Träger geklemmt (S. 10).
Siebzig Jahre später hat sie die Kraft, zu antworten, sich zu erinnern. Auch weil sie das Gefühl hat, in dieser Welt keinen Platz mehr zu haben. Ihr baldiges Verschwinden akzeptiert sie, ist ohne Angst vor dem Sterben. Doch den Brief muß sie noch schreiben! Auch wenn der Vater ihn nie lesen wird, denn Schloime ist nie zurückgekommen. Auf wenigen Seiten erzählt die Autorin die Geschichte ihres Lebens. Eindringlich, zärtlich und von außergewöhnlicher literarischer Qualität ist diese Geschichte, die einem Roman genauso ähnelt wie einem historischen Dokument. Über diesem schmalen Buch steht ein leuchtendes Strahlen, ein Lächeln. Auch wenn Marceline nicht sicher ist, ob es sich gelohnt hat, weiterzuleben, so ist da dieses Strahlen. Ich spüre es in jeder Zeile, ich spüre es vom ersten bis zum letzten Satz: Ich bin ein fröhlicher Mensch gewesen, weißt du, trotz allem, was uns widerfahren ist … Die Leute mochten das an mir. Es ist keine Bitterkeit. Ich bin nicht bitter (S. 7).
Und ich spüre ihre Kraft, mit der sie nach vorn schaut und versucht, Birkenau zu entfernen, es zu vergessen. Denn Erinnerungen schwächen und töten, das hat sie im Lager gelernt. Eine kraftvolle Szene ist jene, wo Marceline ihr Auftreten im Paris der Nachkriegszeit beschreibt: Um mich vom Unglück zu unterscheiden, unterschied ich mich von Dora. Der Gedanke, ein Café zu betreten, schüchterte sie ein – ich aber stieß stolz die Tür auf, wie es die jungen Frauen damals nicht taten (S. 86). Dennoch braucht sie lange, um ihr Überleben und ihre Existenz nach 1945 zu akzeptieren und noch länger, um wieder zu lieben. Sie wird den Namen Rozenberg aufgeben, auch das fällt ihr schwer. Denn das Bild von einem Berg voller Rosen hatte ihr immer gefallen. Doch … der Antisemitismus war nach dem Krieg noch immer weit verbreitet. Es war einfacher, Loridan als Rozenberg zu heißen (S. 92).
Ich schließe diesen schmalen Band mit der Gewissheit, dass ich ihn wieder und wieder in die Hand nehmen werde. Um darin zu blättern und einzelnen Episoden zu folgen. Ganz besonders aber, um mich einhüllen zu lassen von dem so ganz und gar versöhnlichen, ganz leise mahnenden und immer sehr zarten Erzählton der Autorin.
Marceline Loridan-Ivens. Und du bist nicht zurückgekommen. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Insel Verlag 2015. 111 Seiten. 15,- €