Marcel Proust: Auf dem Weg zu Swann

Von Buchwolf

Wolfgang Krisai: “Saloneinspänner in einem Wiener Kaffeehaus”. Zwar kein Tee mit Madeleine, aber ein nicht minder anregendes Getränk.

Im dritten Anlauf geschafft: Der erste Band der „Recherche“ liegt hinter mir. Angespornt haben mich Freund Michael G. und die Bloggerin Xeniana (xeniana.wordpress.com), die beide ebenfalls zur Zeit Proust lesen.
Vielleicht hat auch die schöne neue Ausgabe in der Reclam Bibliothek, mit ihrer neuen Übersetzung von Bernd-Jürgen Fischer, zum Erfolg beigetragen. Meine alte Suhrkamp-Taschenbuch-Ausgabe ist ja nicht gerade eine bibliophile Rarität, und ich halte so gern schöne und gut gemachte Bücher in Händen.

Ich fragte mich ja immer, was nun gerade an Proust so bemerkenswert sein sollte. Jetzt verstehe ich seine literaturgeschichtliche Bedeutung schon ein bisschen mehr, obwohl ich mir nicht anmaßen würde, zu Proust irgendetwas besonders Substantielles sagen zu können. Dazu war meine Lektüre zu unbedarft, zu zerstückelt und – ich gestehe es – zu sehr vom häufigen Einnicken bedroht.

Proust zu lesen ist nämlich kein spannendes Erlebnis, sondern eine ziemlich harte Aufgabe, etwa wie Mikroskopieren es für einen Nicht-Biologen sein mag. Man blickt in riesenhafter Vergrößerung in die Welt, deren winzige Einzelbestandteile – Gefühlsnuancen, Beziehungsschattierungen, Erinnerungswölkchen – einem vor den Augen tanzen in einer Detailliertheit, wie man sie noch nie gesehen hat. Und der Zauberer, der sie sichtbar gemacht hat, bedient sich noch dazu einer Sprache, die für jede Winzigkeit eine Lawine von Vergleichen und Beschreibungsvariationen niedergehen lässt, unter der man leicht verschüttet werden kann. Dann weiß man am Ende eines Absatzes nicht mehr, was da nun eigentlich der Auslöser für das sprachliche Elementargeschehen war, das einen umwirbelt hat.
Es würde mich interessieren, wie diese Beschreibungslawinen im Geist des Autors entstanden sind: „Kamen“ sie ihm „einfach so“? Das ist ja höchst unwahrscheinlich. Andererseits wirken sie nicht so, als hätte Proust daran mühevoll herumgebosselt und die Darstellung Schicht für Schicht mit neuen und noch weiter hergeholten Vergleichen angereichert. Jedenfalls kommen immer wieder überraschende Metaphern heraus, die einen Vorgang, eine Person oder ein Gefühl äußerst treffend erfassen und so noch nie gesagt wurden.

Bei solcher Detailbesessenheit kann natürlich nicht einmal auf 580 Seiten eine große Romanhandlung entfaltet werden. Eigentlich erzählt Proust überhaupt keine „Handlung“, sondern er erzählt eher „pluralisch“, wie man eben gern erzählt: „Als wir noch klein waren, gingen wir immer gern zu Tante XY, wo es so gute Gummibärchen gab. Wir Kinder hörten dann stundenlang unserer Mutter zu, wie sie mit der Tante über Z redete, die die ärgerliche Gewohnheit hatte, …“ (Das war jetzt natürlich nicht Proust, sondern buchwolf.) Es wird also nicht ein Einzelereignis erzählt, sondern das, was „normalerweise“ so ablief, immer wieder vorkam oder zur Gewohnheit geworden war. Was Proust nicht daran hindert, mitten in diesem „pluralischen“ plötzlich in „singularisches“ Erzählen zu verfallen, um das Gewohnte anhand eines spezifischen Einzelereignisses besonders deutlich vor Augen zu führen.
Proust lässt nicht nur allerlei solche Sachen aus seiner – genauer: der Erzählerfigur – Erinnerung auftauchen, sondern er begrübelt auch die Umstände, wie es zu just dieser und nicht einer anderen Erinnerung kommt. Berühmt ist da die Madeleine-Szene, wo das Eintunken des Madeleine-Gebäcks in den Tee (eine seltsame Gewohnheit, die aber vielleicht einst in Frankreich en vogue war) sofort entsprechende Kindheitserinnerungen aus dem Unterbewusstsein auftauchen lässt.
Typisch für das Proustsche Erzählen ist auch die Abschweifung, denn eine Sache erinnert vielleicht an eine andere, die ihrerseits wieder durch etwas Drittes näher erläutert wird, wodurch etwas Viertes ins Bewusstsein gerufen wird. Da kann es schon einige Zeit dauern, bis der Erzähler sich wieder des eigentlichen Ausgangspunktes erinnert und zu diesem zurückkehrt. Man muss sich als Leser hier einfach den Bewusstseinsströmungen des Erzählers anvertrauen und annehmen, dass das hin und her getrieben Schifflein des Romans nicht irgendwo sinnlos stranden wird.
Es dürfte denn auch eine genuin proustianische Lese-Haltung sein, wenn man da selbst des öfteren auch als Leser gedanklich abschweift, unaufmerksam wird und sich in eigenen Vorstellungen verliert – bis man daraus wieder auftaucht und merkt, dass man zehn, zwanzig Zeilen “gelesen” hat, ohne das Geringste davon mitzubekommen. Ich habe mir in solchen Fällen nicht die Mühe gemacht, nochmals das geistesabwesend „Gelesenene“ zu lesen. Das ist auch wieder wie beim Zuhören bei einer ausschweifenden Erzählung; man wird abgelenkt, denkt kurz an etwas anderes und will dann nicht immer eingestehen, dass man etwas nicht mitbekommen hat, hört weiter zu und hofft, dass das Überhörte nicht sooo wichtig war oder sich rückwirkend erschließt.

Worum aber geht es denn nun in diesem Roman?

Es gibt drei große Abschnitte:
„Combray“ – „Eine Liebe von Swann“ – „Ländliche Namen: der Name“. Der letzte ist der bei weitem kürzeste. Alle drei werden von zwei Figuren zusammengehalten: vom Erzähler-Ich Marcel (ich kann mich nicht erinnern, dass der Name irgendwo vorgekommen wäre – und er ist es auch nicht, obwohl manche Forscher behaupten, der Erzähler sei „Marcel“(1), aber der Einfachkeit halber nenne ich ihn jetzt so) und von Charles Swann, einem Bekannten der Familie des Erzählers.

In „Combray“ (dem ländlichen Ort, wo die Familie Marcels den Sommer verbringt) ist der Ausgangspunkt für eine Erinnerungs-Orgie die Angst des kleinen Marcel, ohne Gutenachtkuss der Mutter ins Bett gehen zu müssen. Wo ist da das Problem?, fragt man sich heute. Man muss aber bedenken, dass Ende des 19. Jahrhunderts in der gehobenen Gesellschaft ein Kind bei weitem nicht als eine so wichtige, bei allen Gelegenheiten zu verzärtelnde Hauptfigur des Familienlebens galt, wie das heute oft der Fall ist. Es war schon ein Zugeständnis, dass ein Vater der Gattin erlaubte, dem Kind einen Gutenachtkuss zu geben. Gab es aber Besuch, kamen solche Extravaganzen nicht in Frage. Und Besuch gab es in Combray oft. Zum Beispiel von Herrn Swann, dem Freund der Familie. Wenn nun Besuch da ist, denkt sich Marcel die kompliziertesten Schachzüge aus, um doch noch seinen Gutenachtkuss zu ergattern, und sei es auch auf die Gefahr hin, beim Vater in Ungnade zu fallen.
Um diese Gutenachtkuss-Problematik ranken sich Erinnerungen an verschiedene Verwandte mit den seltsamsten Marotten, an Bedienstete (unter denen Françoise besonders hervorsticht, die zunächst die Kammerfrau einer schrulligen, hypochondrischen Großtante und nach deren Tod die Kinderfrau Marcels ist) oder an Freunde und Bekannte der Familie. Es geht auch um die Frage, wann und bei welchem Wetter die Familie ihren üblichen Spaziergang eher in die Richtung gehen würde, wo die Grafenfamilie der Guermantes wohnt (die wohl in späteren Romanen der „Recherche“ noch eine größere Rolle spielen wird), oder in die Richtung der Familie Swann (der frz. Originaltitel heißt ja: „Du côté de chez Swann“, was der Übersetzer als „Auf dem Weg zu Swann“ übersetzt hat).
Als man einmal in Richtung Swann spaziert, sieht Marcel im Garten der Swanns ein junges Mädchen, dessen Anblick ihn verzaubert. Von einer Dame wird es „Gilberte“ gerufen. Fortan weiß Marcel, wie sie heißt, und die Mädchen-Erscheinung geistert ihm durchs Gemüt.

Irgendwann hört dann dieser Erinnerungsstrang auf. Schnitt. Es folgt das Kapitel „Eine Liebe von Swann“, das seltsamer Weise nicht aus direkten Erinnerungen Marcels gespeist wird, sondern die Erinnerungsfiktion beiseite lässt und auf gut auktorial erzählt, wie Swann seiner jetzigen Frau Odette verfällt. Es wird aber in keiner Weise klar, weshalb Swann Odette dann offenbar geheiratet hat, denn diese Liebes-Geschichte ist nur anfangs eine solche, dann aber – wie es in Liebes-Angelegenheiten ja oft vorkommen mag – eine Geschichte des Auseinanderdriftens und der Eifersucht Swanns, der es nicht erträgt, dass Odette ihn mit anderen betrügt. Dabei hätte er als Mann von Welt sich da erstens nicht wundern und zweitens vorher leicht kundig machen können. Denn Odette scheint eine stadtbekannte Lebedame zu sein. Doch Swann sieht sie und wird sogleich vor Liebe blind. Nicht nur entspricht Odette gar nicht seinem bisherigen „Schönheitsideal“ (Typ pausbäckiges Mädel vom Land), sondern scheint eher einem Gemälde von Botticelli entstiegen zu sein (Typ hohlwangige Blondine), sie passt auch interessensmäßig und vom intellektuellen Niveau nicht zu ihm und verkehrt in ganz anderen Kreisen (die Swann zunächst gerne aufnehmen, später aber wieder „verstoßen“). Die ganze Affäre ist also ziemlich verquer, und der Erzähler walzt denn auch diese Inkommensurabilitäten mehr als breit aus. Und die Eifersucht des gehörnten Swann dann erst recht, was geradezu Mitleid erregend wird, wenn man sieht, wie dieser Mann zum Beispiel eines Abends von Odette verfrüht nach Hause geschickt wird (sie fühle sich nicht gut), dann aber misstrauisch noch einmal zurückkehrt, am ebenerdigen Fenster horcht, eine Männerstimme hört, sich in seiner Eifersucht bestätigt sieht, gleich energisch ans Fenster klopft, um Odette in flagranti zu ertappen, und dann vor Peinlichkeit in den Boden versinkt, als er feststellt, dass er am Fenster von Odettes Nachbarn gehorcht hat.
Übrigens ist der Vergleich Odettes mit einer Botticelli-Figur nur eines von vielen Beispielen, wie Proust kunstgeschichtliches Material zur Veranschaulichung heranzieht. Es wäre sicher eine interessante Sache, einen mit all jene Kunstwerken illustrierten Proust herauszubringen, die im Roman eine Rolle spielen.

Auch dieses Kapitel endet irgendwann. Der Erzähler widmet sich nun einem Kindheitsabschnitt aus Paris. Marcel ist ein kränklicher Knabe, der allzu gerne nach Balbec an der Antlantikküste oder gar nach Florenz oder Venedig gereist wäre, lauter Orte, deren bloße Namen bei ihm schon ganze Feuerwerke von begeisternden Assoziationen heraufbeschwören, die zu bereisen ihm aber der Arzt strikt verboten hat. Das höchste der Gefühle sind die Spaziergänge zum Spielplatz in den Champs-Elysées unter der Aufsicht von Françoise. Doch dort gibt es jemanden, dessen Anwesenheit ihn dann für die verbotenen Reisen mehr als entschädigt: Gilberte Swann, die auch dorthin spielen gehen darf und Marcel bald in den Kreis ihrer Spielgefährten einbezieht. Doch, o Pech, sie scheint nichts von der glühenden Liebe Marcels zu ihr zu bemerken, während dieser jeden Tag der ersehnten nachmittäglichen Spielstunde entgegenfiebert. Und hat Gilberte einmal keine Zeit, so erfindet Marcel diverse andere Möglichkeiten, ihr zumindest „nahe“ zu sein: Er streift vor ihrem Wohnhaus herum oder lauert ihrer Mutter bei ihren Sehen-und-gesehen-werden-Spaziergängen im Bois du Boulogne auf.
Tja, doch auch diese Erinnerungen verfliegen. Die letzten Worte des Romans lauten: „die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nur die Wehmut nach einem bestimmten Augenblick; und die Häuser, die Wege, die Avenuen, entfliehen, ach, wie die Jahre.“
Der überflüssige Beistrich nach Avenuen steht wirklich da und ist ein Beispiel für einige – zum Glück wenige – Pannen der Übersetzung oder des Setzers. In späteren Auflagen wird man wahrscheinlich aus „der Flair“ (S. 105f) „das Flair“ machen, dem „Rigi“ einen Artikel beifügen (S. 341) oder das unsägliche Wort „zögerlich“ auf S. 542 durch ein besseres ersetzen.

Die Neuübersetzung scheint mir trotzdem gelungen zu sein. (Ich sage das, obwohl ich jetzt keine Vergleiche mit dem Original oder der Suhrkamp-Übersetzung angestellt habe.) Und sie liegt dem Verlag bereits vollständig vor. Die weiteren Bände werden im Abstand von jeweils einem halben Jahr erscheinen, wie mir die Dame am Reclam-Stand der „Buch Wien“ erzählt hat. Es könnte durchaus sein, dass ich mich auf die weiteren Bände auch noch einlasse…

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 1: Auf dem Weg zu Swann. Übersetzung und Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer. Reclam, Stuttgart, 2013. Reclam Bibliothek. 693 Seiten.

(1) Das steht in dem erhellenden Artikel zum Stichwort „Erzählung“ in der „Marcel Proust Enzyklopädie“, hg. von Luzius Keller, Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. Wie dieser Artikel in die komplexe Problematik der Erzählerfigur(en) bei Proust geben viele weitere Artikel dieses umfangreichen Bandes interessante Auskünfte zu Proust-Fragen aller Art.

Den Roman schenkte mir übrigens meine Frau zum Geburtstag, und die Enzyklopädie bekam ich von meinem Freund Michael zum gleichen Anlass. Beiden sei herzlich gedankt für das Literatur-Erlebnis!