Wolfgang Krisai: Frau am Brooklyn Pier. Tuschestift, Buntstift, 2016.
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Das Leben per Software verbessern
Solch ein Unternehmen steht im Mittelpunkt des Romans: Freemee. Dieses Software-Unternehmen bietet seinen Kunden sogenannte ActApps an, mit deren Hilfe sie ihr Leben verbessern können.
Cynthia Bonsant (sprechender Name! „Gut und heilig“, klingt aber auch wie eine Pharmafirma), die Hauptfigur, hat eine Tochter namens Viola, die sich in den Monaten vor dem Einsetzen der Handlung vom gruftigen Goth zur attraktiven, erfolgreichen jungen Dame gemausert hat. Die Mutter freut sich, als sie allerdings im Lauf des Romans erfährt, was der Grund für die Veränderung ist, freut sie sich wieder weniger: Es sind die Lebensanweisungen, die Vi von den ActApps auf Schritt und Tritt erhält. Damit der User den Anweisungen folgt, hat Freemee ein ausgeklügeltes System von Anreizen erfunden, von denen starke Motivationskraft ausgeht. Man kann erfolgreicher werden, nicht nur in Schule und Beruf, sondern vor allem auch bei potentiellen Liebespartnern. Ein durchtrainierter Körper hilft da (man nehme: Fitness-ActApps) genauso wie die richtige Körpersprache und die richtigen Worte (auch dafür gibt es ActApps). Die Apps treten in Form charmanter virtueller „Charaktere“ oder besser „RoboterInnen“ in Erscheinung, die der Userin bzw. dem User die Anweisungen vorschlagen. Man wird zu nichts gezwungen – aber man erfährt immer rechtzeitig, was man versäumt oder was die negativen Folgen sind, wenn man der ActApp nicht folgt. Der Erfolg wird in Prozenten gemessen („Sie haben 18% Chancen auf eine Liebesnacht“), die eigene Position wird in allerlei Rankings festgelegt.
Die Versuchung eines Programmierers
Im Roman erliegt allerdings das Superhirn hinter den ActApps, der Programmierer Carl Montik, der Versuchung, auszutesten, wie weit die NutzerInnen den ActApps folgen. Seine Experimente haben in der Vergangenheit zum Tod zahlreicher Freemee-Kunden geführt, die sich von ActApps in krasse Selbstüberschätzung oder in Depressionen wegen Nichterreichens der Ziele treiben ließen. Als sogar ein Vorstandmitglied Opfer der eigenen manipulierten ActApps wird, fährt Carl jedoch seine Experimente etwas zurück.
Es gibt jedoch einen Gegenspieler all der Datenüberwacher, -manipulatoren und -missbraucher: „Zero“, ein Team anonymer Mahner im Internet, deren Slogan an einen alten Spruch aus dem antiken Rom erinnert: „Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Datenkraken zerschlagen gehören“.
Der von Drohnen verfolgte US-Präsident
Der Roman beginnt äußerst wirksam mit einem spektakulären „Auftritt“ von Zero: Ein Schwarm von Zero gesteuerte Drohnen dringt in den Privatgarten des amerikanischen Präsidenten ein und verfolgt ihn sogar bis ins Innere des Weißen Hauses, wo die Sicherheitsbeamten schließlich die Drohnen unschädlich machen können. Der ganze Überfall wird live im Internet übertragen.
Damit hat Zero, der vorher nur durch wenig breitenwirksame kritische Youtube-Videos in Erscheinung getreten ist, einen Quantensprung an Popularität gemacht. Und er ist ins Fadenkreuz der NSA und des FBI geraten.
Während diese Institutionen die realen Leute hinter Zero – erfolglos – ausfindig machen wollen, wollen Freemee und die Online-Redaktion der Zeitung „Daily“, bei der Cynthia Bonsant angestellt ist, von der möglichst langen Suche nach Zero profitieren und ihre Nutzerzahlen steigern.
Die tödliche Datenbrille
Parallel zu der Zero-Handlung entwickelt sich ein weiterer Handlungsstrang: Darin geht es direkt um die ActApps von Freemee. Als nämlich Cynthia eine der Redaktion gehörige Datenbrille an ihre Tochter verleiht, hat diese nichts besseres zu tun, als diese Brille auf der Straße zu nutzen, um mittels Gesichtserkennungssoftware die Personen in ihrer Umgebung zu identifizieren. Da funktioniert erstaunlich gut, und die Datenbrille zaubert Vi zu fast allen Personen Namen, Beruf, Alter, Wohnort, etc. auf den Brillen-Bildschirm. Sie borgt die Brille auch einem ihrer Freunde, Adam, und dieser identifiziert einen zufällig des Weges kommenden Schwerverbrecher. Die Jugendlichen alarmieren die Polizei und nehmen die Verfolgung des Verbrechers auf. Dieser bekommt das schließlich mit, zückt eine Pistole und erschießt Vi’s Freund. Gleichzeit wird aber er selbst von einer ankommenden Polizeistreife niedergeschossen.
Warum Adam, der noch vor kurzer Zeit ein pummeliger Zauderer war, plötzlich so unbeirrbar hinter dem Verbrecher her war, fragt Cyn sich bald. Von Vi wird sie in die Geheimnisse der ActApps eingeweiht, von denen sie noch keine Ahnung hat. Die „Daily“ setzt sie auf die Gefahren, die von Freemee ausgehen, an, weshalb sie sich selbst einmal versuchsweise in Freemee-Konto anlegt und eine Liebes-App ausprobiert.
Der betörend schöne Mitarbeiter
Sie ist nämlich geschieden und seit Längerem erfolglos auf Partnersuche. Nun muss sie in der Redaktion mit einem indischen IT-Spezialisten, Chandor Akarwal, zusammenarbeiten, der hinreißend schön ist. Mit Hilfe von Peggy, des virtuellen ActApp-Avatars, die ihr sagt, wie sie bei Chandor Erfolg haben kann, gewinnt sie diesen erstaunlich schnell für sich, zumindest für eine beschwipste Liebesnacht.
Die verschlungene Handlung noch weiter nachzuerzählen wäre zu langwierig. Der Leser muss sich sehr anstrengen, um nicht völlig den Überblick zu verlieren über all die Gruppen von Geheimdienstlern und IT-Spezialisten, die in den kurzen Kapiteln, die in guter Thriller-Manier immer mit einem kleinen Cliffhänger abbrechen, auftreten.
Schauplatz Museumsquartier, Wien
Für mich als Österreicher war besonders der in Wien spielende Abschnitt interessant: Im Innenhof des Museumsquartiers können Cyn, Akarwal und ihr Chef nämlich einen Zero-Vertreter orten, der sich dort ins Internet einloggt. Sie wollen ihn ansprechen, er bekommt das aber spitz und flüchtet. Und plötzlich verfolgen ihn nicht nur Cyn und Akarwal, sondern auch ein Dutzend weniger harmlose Killertypen. Zero flüchtet in Wiens „Unterwelt“, in die Kanalisation. Der „dritte Mann“ lässt grüßen!
Cyn verfolgt den Mann in die Kanalisation, wird dort aber von jemandem fast ersäuft, von dem Zero-Typ aber gerettet. Deshalb schwört sie in einem Online-Video der Suche nach Zero ab, wechselt also die Seiten.
Showdown in New York
Zum Showdown kommt es in New York, wo Cyn und Chandor hinfliegen, um bei einer Talkshow über Freemee zu reden. Cyn hat inzwischen von einem Freund Vi’s erfahren, dass Freemee Tausende Menschen auf dem Gewissen hat.
Freemee lässt den Burschen rasch ausschalten. Aber zu spät. Cyn und Chandor kommen dahinter, was da gelaufen ist, und werden dadurch selbst zu Verfolgten. Chandor wird im Hotelzimmer erschlagen, Cyn flieht durch New York, zum Teil durch das dortige Kanalsystem, und rettet sich nur dadurch, dass sie einen Passanten dazu bringt, sie zu filmen und diesen Film live ins Internet zu übertragen. Cyn erzählt in aller Kürze von den tödlichen Manipulationen Freemees, bevor sie von der Polizei festgenommen wird, die glaubt, sie hätte Chandor umgebracht.
Da sich aber – da sind die genauen Ortungsmöglichkeiten von Handys wieder ein Segen – herausstellt, dass Cyn Chandor nicht umgebracht haben kann, weil sie zum Zeitpunkt des Mordes bereits auf der Flucht war, glaubt die Polizei ihr. Freemees Machenschaften werden aufgedeckt, Cyn freigelassen, Zero wird als wichtiger Aufdecker bejubelt, Happy End.
Die „Crowd“
Oder fast. Denn die Botschaft des Romans ist zwiespältig: Das Internet und die Totalüberwachung kann gut oder schlecht sein, je nachdem. Die Rettung sieht der Autor offenbar eher in der „Crowd“, in den Milliarden Nutzern, die, wenn sie sich zusammentun, das Gute fördern und das Böse stoppen können. Hoffen wir, dass er sich hier nicht irrt.
Marc Elsberg: Zero. Sie wissen, was du tust. Roman. Blanvalet, München, 2014. 480 Seiten.
Bild: Wolfgang Krisai: Frau am Brooklyn Pier. Tuschestift, Buntstift, 2016.
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