Theresia hat genug. Genug von ihrem Mann, aber vor allem genug von ihrer Rolle als Frau. Das Kabinetttheater zeigt Guillaume Apollinaires Stück „Die Brüste des Tiresias“ in einer Vertonung von Gerald Resch.
Ein Text, der über hundert Jahre als ist, trifft auf eine Musik von heute. Ein Text, der ganz heutig ist, trifft auf eine Musik von gestern. Beide Behauptungen darf man für diese Inszenierung stehenlassen. Die surreale Geschichte von Theresia, die sich in einen Teresias verwandelt, weil sie sich weder einem Mann unterordnen, noch Kinder bekommen möchte, ist von ihrem Kern her nach wie vor zeitgeistig. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts keimten die ersten Pflänzchen der Emanzipation. In manchen Ländern wurde die Gleichberechtigung im Keim erstickt, in anderen, wie in Russland, zumindest nach der Revolution für ungefähr 20 Jahre auch tatsächlich gelebt. Die Banken in Frankreich, in dem das Stück entstand, haben erst in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts den Frauen das Recht auf eigene Bankkonten zugestanden. Nicht verwunderlich also, dass Apollinaire 60 Jahre vorher seine Handlung einfach nach Sansibar verlegte. Einen Ort, der 1917 noch nicht gegoogelt werden konnte und der schon allein aufgrund seines hübschen Klanges Fernweh hervorrief.
Im Kabinetttheater, bekannt für sein Puppenspiel vor und hinter der schwarzen Wand mit den vielen Guckfenstern, agieren dieses Mal jedoch auch Menschen in Fleisch und Blut – sichtbar vor der Bühne. Ulla Pilz gleich in vier Rollen: Sie spielt bzw. singt die Therese, den Tiresias, den Sohn und die Wahrsagerin. Bartolo Musil reicht aufgrund der wahnwitzigen Kinderschar von 40.050, die er alleine zeugt und gebiert, eine einzige Rolle. Neben seinen Erziehungsaufgaben hat er noch alle Hände voll zu tun, um sich selbst und Ulla Pilz am Klavier zu begleiten. Einfach zauberhaft, wie sich eine ganze Kinderwagen-Armada aus dem Klavier und auf der kleinen Bühne dahinter formiert. (Bühnenbild und Kostüme Julia Reichert und Christian Schlechter). Köstlich auch der Einfall, Theresia, respektive die Wahrsagerin als „Frau ohne Unterleib“ erscheinen zu lassen. Maria Frodl spielt am Cello und betätigt auch eine singende Säge. Eine wunderbare und sehr kluge Idee, wurde dieses Instrument doch gerade um die Zeit der Uraufführung des Stückes, 1917, in Europa richtig modern.
Apollinaire, der nur ein Jahr später an der Spanischen Grippe verstarb, gilt als surrealistischer Literaturgroßmeister. Die Werke dennoch so zu inszenieren, dass sie mehr als nur Gedankenfetzen bieten, ist eine Herausforderung. Thomas Reichert gelang dies eindeutig. Zugleich setzte er mit seiner Inszenierung den Abschluss des Schwerpunkts „Musiktheater zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ im Kabinetttheater.
Ulla Pilz als Wahrsagerin in „Die Brüste des Tiresias“ (c) Armn BardelNeben dem Ehepaar tritt auch noch ein Schutzmann in Erscheinung, der sich unsterblich in Theresias Gatten verliebt. Sich duellierende Herren und ein Berittener beleben als Puppen die Szenerie. Auf einer Art Schachbrett sind von Beginn an kleine Figürchen angeordnet. Sie sind ganz im Stil des „Triadischen Balletts“ von Oskar Schlemmer gekleidet, das 1916 eine erste Teil-Aufführung erlebte. Zum Schluss dürfen sie, losgelöst vom strengen, geometrischen Konzept, fröhlich in der Luft rund um den Hauptguckkasten baumeln. Zugleich auch ein gelungener Hinweis auf die Lockerung der Geschlechterrollen, die Therese respektive Teresias anstrebte.
Bis es jedoch so weit ist, muss die emanzipierte Frau erst in die Machtposition eines Generals aufsteigen und ihr Mann derweilen die Aufzucht der Kinder übernehmen. Ulla Pilz gibt eine zornige Theresia, die sich eher ihre Brüste zerstört, als weiter in Ehefesseln gefangen zu bleiben. Zwei Luftballone reagieren mit lautem Knall auf den Zerstörungsakt und dürfen im Schlussbild, wiederum als Symbole der weiblichen Geschlechtszierde, erneut erscheinen. Bartolo Musil muss nach dem Auszug seiner Frau in deren Kleider schlüpfen, um dann am eigenen Leib zu erfahren, wie das denn so ist mit dem Haushaltführen und Kindererziehen.
Ein Text, der ganz heutig ist, trifft eine Musik von gestern. Gut, dies stimmt nicht hundertprozentig, aber zumindest teilweise. Gerald Resch schuf für das rasante Geschehen eine Art Schnelldurchlauf der Musikgeschichte von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dafür verwendete er eine ganze Menge Originalzitate, aber auch originäre Nachempfindungen. Zum Einsatz kommen Duette und Solostücke ganz im Stil von Franz Schubert aber auch von Richard Strauss. Die Rezitative präsentieren sich hingegen im Klangkonstrukt der 2. Wiener Schule. Operettenhafte Walzerseligkeiten, Unterhaltungsmusik der 20er Jahre, aber auch jede Menge Verdizitate, ein paar Takte Bizet und sogar ein kleines Wagner-Einsprengsel illustrieren darüber hinaus musikalisch schillernd das Geschehen. Geht es in einer Liedzeile zu Beginn noch ziemlich atonal-spröde zur Sache, jubiliert das Klavier bei dem Wort „Himmel“ in allen Registern in einer breiten Durzerlegung. Ein musikalischer Einfall jagt den nächsten. Es hat den Anschein, als ob Resch den literarischen Ideen Apollinaires in nichts nachstehen wollte. Dennoch hat man nicht den Eindruck eines Stückwerks, dafür sorgen intelligente und saubere Übergänge. Ein großes Kompliment an Pilz und Musil, die diesem musikalischen Feuerwerk die Stimme bieten können. Egal in welchem Stil Gerald Resch ihre Auftritte anlegte, ob Schönklang oder nicht, sie beherrschen jedes von ihnen verlangte Fach. Auch für Maria Frodl hat Resch eine expressive Solodarbietung eingebaut, die sie mit großer Verve und hoher Musikalität interpretiert.
Bartolo Musil in die Brüste des Tiresias (c) Armin BardelDas expressive Spiel vor und hinter der Wand hält sich mit der Musik uneingeschränkt die Waage. Eine Leistung, die im Musiktheater nicht alltäglich ist. „Die Brüste des Tiresias“ endet mit einem zarten Vergleich, so würden es Juristen vielleicht formulieren. Ob dieser von Theresias Ehemann auch tatsächlich angenommen wird, soll hier nicht verraten werden.
Ein Theaterabend, in dem sich Vergangenes mit Gegenwärtigem auf höchst zauberhafte aber zugleich auch pralle Art und Weise verbindet.
Weitere Informationen finden sich auf der Internetseite des Kabinetttheaters.