Manchmal kann das, was uns fehlt, ein Vorteil sein - Eine Geschichte von Albert Schweitzer

Von Wernerbremen

"Ach Tommy, aber möchtest du denn nicht manchmal die Vögel zwitschern, den Wind säuseln und das Wasser plätschern hören?

"Doch schon, Nelly, aber ich kann auch gut ohne das leben, weil ich mich mit meiner Situation abgefunden und angefreundet habe und mit dem zufrieden bin, was ich habe. Auch wenn wir nicht hören können, so haben wir dafür ein sehr intensives Gespür bekommen, was uns das Gehör sozusagen ersetzt. Wir sehen und wir spüren viel mehr als die Menschen, die hören können und bekommen dadurch in vieler Hinsicht mehr vom Leben mit, ich würde fast behaupten, wir leben intensiver.

Schau dir doch mal die hörenden Menschen an: Du glaubst doch wohl nicht, dass sie für feine Geräusche wie das Zwitschern von Vögeln oder das Säuseln des Windes oder das Plätschern des Wassers empfänglich sind? Sieh doch nur, wie sie vorbeihetzen, keiner hat doch mehr Zeit für ein freundliches Wort. Diese Menschen, wissen anscheinend gar nicht was Hören bedeutet. Sie hören doch immer nur halb hin bzw. haben gar keine Zeit jemandem anderes zuzuhören, verdrehen den Sinn, verwechseln die Worte ....

Obwohl sie es nicht sein müssten, so scheinen sie doch taub zu sein, nicht aber wir!"

Sally hörte ihrem Freund verwundert zu und fragte dann leise:

"Tommy, Du meinst also, die anderen sind sozusagen auch taub, so wie wir?"
"Ja!

So wie die hörenden Menschen taub sein können, sind die tauben Menschen hörend!"
"Ach Tommy, wie meinst du das denn jetzt wieder, das verstehe ich nicht."

" Pass auf, ich beweise Dir, dass du hören kannst:

Komm mal hierher. Siehst du den kleinen wuscheligen Hund dort? Sieh ihn dir einfach mal an und erzähl mir, was er Dir sagt:"
Sally schenkte dem kleinen zotteligen Kerl einen langen und tiefen Blick, streichelte ihm mitfühlend über das Fell und sagte:

"Er sagt mir, dass er sehr traurig ist, dass er Hunger und Durst hat und sehr müde ist. Er ist traurig, weil ihn die Menschen enttäuscht haben. Er hat Schlimmes erlebt und wünscht sich Liebe, Geborgenheit und ein neues Zuhause."
"Verstehst Du jetzt, was ich meine? Du musstest nicht erst sein Winseln und Jaulen hören, um festzustellen, dass es ihm schlecht geht.

Deine Ohren sind taub und doch können sie hören, denn du hast das nötige Gespür und Feingefühl und ein Herz, was hören kann.
Viele Menschen können zwar hören und doch sind sie taub, weil ihr Herz nichts hört.
So einfach ist das."

Albert Schweitzer 

Das Foto wurde von Karin Heringshausen zur Verfügung gestellt