Manchester ist mit seinen 115, 6 km2 im Vergleich zu London zwar flächenmäßig eine recht überschaubare Stadt, in der man innerhalb von ein paar Stunden bereits alle wichtigen Sehenswürdigkeiten abklappern kann, aber die Größe täuscht. In fast jedemWinkel der Stadt stecken ungeahnte Geschichten, verbirgt sich überraschendes Insiderwissen. Ich selbst bin bereits unzählige Male durch die mit rotem Backstein verzierten Häuserzeilen geschlendert, habe meine Nase in Hinterhöfe gesteckt und verborgene Gassen erkundet. Doch immernoch gibt es so viel Neues zu entdecken. An vielen Orten schlendert man so leicht vorüber, ohne überhaupt zu ahnen, was man da gerade völlig links liegen gelassen hat. Ganz in der Nähe des Bahnhofs Manchester Victoria, unweit der Manchester Cathedral und direkt gegenüber dem National Football Museum steht beispielsweise eines der bemerkenswertesten Gebäude der englischen Kulturgeschichte: Chethams Library (das seltsamerweise „Tschiethem“ ausgesprochen wird, aus Gründen, die aussprachetechnisch für einen Deutschen wieder mal nicht zu ergründen sind).
Das urenglische Sandsteinbauwerk, das beinahe an ein mittelalterliches Kloster erinnert, stammt aus dem 15. Jahrhundert, hat also schon einige Jahrzehnte auf dem Buckel. Ehemals als Priesterkolleg erschaffen, verbirgt sich hinter diesen kühlen, dunklen Gemäuern heute die älteste erhaltene öffentliche Bibliothek Englands, die 1653 gegründet wurde. Ähnlich wie Sir Titus Salt war ihr Gründer Humphrey Chetham (1580 – 1653) ein wohlhabender Textilfabrikant, sehr um das soziale Wohl der weniger begüterten Unterschicht besorgt. Da sein Geschäft mit Baumwolle und Leinen sehr erfolgreich war, konnte er schon bald Land in und um Manchester erwerben. Er stiftete nicht nur mehrere Bibliotheken, sondern richtete auch eine Wohlfahrts-Schule und Armenunterbringung ein, die Chetham’s Hospital School. Er bezahlte aus eigener Tasche für die Bildung und Versorgung von mehr als 20 verarmten Jungen, denn Chetham war fest davon überzeugt, dass Armut durch Beseitigung von Unwissenheit bekämpft werden könne. Er entsandte mehrere Treuhänder, um Bücher und Manuskripte zusammenzutragen, die das gesamte Wissen der damaligen Zeit abdecken sollten. Hierzu gehörten Werke aus Recht, Theologie, Geschichte, Literatur, Medizin und den Naturwissenschaften. Die so entstandene Sammlung konnte durchaus mit der von Oxford und Cambridge konkurrieren. Auch heute noch wird die Kollektion stetig erweitert, konzentriert sich jedoch vor allem auf die Geschichte und Topographie von Greater Manchester und Lancashire. Mehr als 120.000 Bücher, Handschriften und Karten, die teilweise bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, werden in den dunklen Regalreihen aufbewahrt.
Das Gebäude selbst musste damals einige Renovierungsarbeiten über sich ergehen lassen, denn es war reichlich verwahrlost, diente zeitweilig herumstreunenden Schweinen als Unterkunft und war zu Zeiten des Civil War (1642–1649) als Gefängnis und Schießpulverfabrik genutzt worden. Die Bibliothek wurde im ersten Stock untergebracht, damit die aufsteigende Feuchtigkeit keinen Schaden anrichtete und mit modernstem Mobiliar und komfortablen Sitzmöglichkeiten versehen. Chetham, der noch heute recht grimmig von einem Porträt im Lesesaal auf die Besucher herunterschaut, entwarf zudem seine eigenen Hausregeln. Die Bibliothek sollte frei zugänglich sein. Um Diebstahl vorzubeugen, wurden die Bücher zunächst an die Regale angekettet, später wurde diese Praxis durch verschließbare Gitter ersetzt.
Sein privates Glück schien der wohltätige Unternehmer dabei allerdings aus den Augen verloren zu haben, denn er starb am 20. September 1653 unverheiratet.
Zu den berühmtesten Bibliotheksbenutzern gehörten übrigens Karl Marx (1818–1883) und Friedrich Engels (1820–1895), die im Sommer 1845 in einem kleinen Alkoven der Chetham’s Library das „Kommunistische Manifest“ entwarfen. Die Bücher, die sie zusammen lasen und besprachen liegen heute als originalgetreue Reprints für Besucher bereit. Wie sehr Engels dieser Ort beeindruckt hat, beweist ein Brief, den er viele Jahre später an Marx schrieb: „Ich habe die letzten Tage wieder viel in dem kleinen Erkerchen vor dem vierseitigen Pult gesessen, wo wir vor 24 Jahren saßen; ich liebe den Platz sehr, wegen des bunten Fensters ist immer schön Wetter dort.“ (15. Mai 1870)
Die Selfie-Knipsrate ist an diesem Tag in dieser geschichtsträchtigen Ecke der Bibliothek besonders hoch und auch ich lasse mir den Spaß nicht entgehen. Nebenher lassen wir uns von den äußerst auskunftsfreudigen Bibliotheksmitarbeitern in die Geheimnisse der Bibliothek einweihen, denn verlassen dürfen wir das Gebäude erstmal sowieso nicht. Ein Kamerateam der BBC dreht gerade eine Dokumentation und beschließt kurzerhand, sämtliche Besucher für ein halbes Stündchen in den Lesesaal einzusperren. Für einen Bücherwurm sicher nicht die schlimmste Nachmittagsbeschäftigung, doch als unangemeldete Besucher können wir nur einen kurzen Blick in einen tonnenschweren Wälzer werfen, den die Bibliothekarin für wenige Minuten unbeobachtet auf dem Tisch liegen ließ.
Als wir die spektakuläre Schatzkammer schließlich verlassen, wird mir wieder bewusst, wie bemerkenswert diese Stadt eigentlich ist. In Zeiten der industriellen Revolution war die Lage der Arbeiter verheerend, die Ausbeutung seitens der Fabrikbesitzer schier grenzenlos und dennoch haben genau hier in der Geburtsstätte des Kapitalismus die großen sozialen Bewegungen und Theorien ihren Ausgangspunkt genommen, nicht selten befördert von Menschen, die selbst Fabrikanten waren. Heute ist Manchester vom Kohlestaub reingewaschen und sichtlich stolz auf sein industrielles Erbe, das sich architektonisch und kulturell nahtlos ins moderne Stadtbild einfügt und den hippen, trendigen Flair unterstreicht, für den die nordenglische Metropole mittlerweile im In- und Ausland berühmt ist.
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