Die Besichtigung des so genannten Victorianischen Zeitalters geht weiter. Eva-Ruth Landys hat jetzt mit dem Roman „Stadt der Schuld“ den zweiten Band ihrer Trilogie um die beiden so unterschiedlichen Paare Cathy und Aaron Stutter sowie Isobel, geb. de Burgh, und Horace Havisham vorgelegt.
Der erste Band endete mit der Eheschließung des skrupellosen und ehrgeizigen Unternehmers aus kleinbürgerlichen Verhältnissen Horace Havisham mit der verwöhnten Isobel, der Tochter eines plötzlich verarmten Landadligen. Havisham wollte sich nach der Ermordung des Erbsohnes mit dieser Eheschließung in den Besitz des de Burgh’schen Landgutes bringen, damit er seinen gesellschaftlichen Aufstieg weiterhin erfolgreich fortsetzen kann. Denn als Landbesitzer konnte er seinerzeit leichter zu einem Sitz im Unterhaus kommen. Doch ohne anderweitige Intrigen ging das nicht ab und so bediente sich Havisham eines gleichfalls skrupellosen Privatdetektivs namens Armindale; u.a. um den bisherigen Abgeordneten Baker zum Mandatsverzicht zu bewegen…
Andererseits waren das von Isobel wie eine Leibeigene gehaltene Dienstmädchen Cathy und ihr geliebter Ehemann Aaron zum Schutz vor weiteren Nachstellungen der bösartigen Herrin nach Manchester geflohen. In der irrigen Hoffnung, daß Stadtluft frei mache. In Manchester nannten sich beide Stanton.
Der zweite Band beginnt spektakulär. Im nur etwas über eine Seite langen Prolog beschreibt die Autorin ausdrucksstark einen sado-masochistischen Sexualakt zwischen Isobel und Havisham. Dies ist die einzige Form, in der diese beiden Eheleute miteinander verkehren. Und durch solches Tun hat die masochistische Isobel sich ihren Gatten durchaus hörig gemacht.
Doch gleich das erste Kapitel führt den Leser in die unbeschreiblich grausame Welt der arbeitenden Menschen im Manchester des Jahres 1840. Aaron und auch Cathy, die mittlerweile hochschwanger ist, müssen sich ihren Lebensunterhalt in einer der vielen Baumwolle verarbeitenden Textilfabriken dieses industriellen Zentrums verdienen. Wobei das Wort „verdienen” eine Beschönigung der damaligen Zustände ist: für einen zehn- bis zwölfstündigen Arbeitstag unter unmenschlichen Arbeitsbedingungen gab es nicht mehr als einen Hungerlohn. Ein Hungerlohn, der gerade einmal für Kartoffeln und Kohl zu Essen und ein winziges Dreckloch von Wohnung (ohne jegliche sanitären Anlagen) reichte. Arbeitsunfälle waren an der Tagesordnung, frühes Sterben war Normalität. Dennoch nehmen sich die beiden dreier Kinder eines gestorbenen Kollegen an.
Aaron hofft dennoch auf einen kleinen Aufstieg in der Fabrik des Unternehmers Ashworth, doch die Umstände machen dies zunichte und er muß einen noch elendigeren Arbeitsplatz annehmen. Und so kommt es, daß er sich trotz vieler Vorbehalte doch den Chartisten, den Vorläufern der organisierten Arbeiterbewegung, anschließt. Eine Auflehnung der Arbeiter wird verraten, Aaron kommt ins Zuchthaus. Aus eigennützigen Motiven holt ihn aber die Unternehmergattin hier heraus. Aaron erwartet nun das Schicksal, das er schon vom Landgut her kennt: er soll die sexuellen Gelüste der reichen Frau bedienen. Die damit ihrem Gemahl kontra geben will; dieser bedient sich zur Befriedigung seiner Gelüste blutjunger Arbeiterinnen (darunter der Pflegetochter der Stantons, Mary) bzw. der Angebote eines Luxusbordells.
Eines Tages kommen mehrere Damen der gehobenen Gesellschaft in die Ashworth’sche Fabrik. Genau zum Zeitpunkt, als Cathy einen Arbeitsunfall erleidet und eine Frühgeburt hat. Das geht glimpflich ab, weil sich Mary-Ann Fountley um sie kümmert. Mary-Ann ist eine Cousine Isobels und mit dem sozialliberalen Rechtsanwalt Godfrey verheiratet. Diese beiden heben sich, wie schon im ersten Band sichtbar, positiv von der adlig-großbürgerlichen High Society ab. Cathy lehnt aber weitere Hilfe aus Angst vor Aufdeckung ihrer wahren Identität ab.
Pflegetochter Mary wird derweil von Ashworth einem Bordell übereignet, ein Befreiungsversuch durch Aaron scheitert.
Cathy winkt dennoch ein kleines Glück. Denn Mary-Ann Fountley gelingt es, gemeinsam mit ihrem Gatten maßgebliche liberale Politiker zu überzeugen, etwas für die Arbeiter zu tun. Eine Schule für Arbeiterkinder wird gegründet und Mary-Ann setzt sogar die Einrichtung einer Mädchenklasse durch. Da bekannt wird, daß Lesen und Schreiben kann und sogar noch über weitere Bildung verfügt, wird sie als Lehrerin eingestellt.
Aber die Zeiten waren nicht voller Glück.
So führen viele Verwicklungen führen dazu, daß Cathy sich schließlich Mary-Ann offenbaren muß. Hierbei erkennt Letztere, was sich im anderen Handlungsstrang um Isobel und Horace Havisham ereignet hat, mit welchem Haß Isobel nun Havisham und die diesem nahen Menschen verfolgt.
Havisham hat sich nämlich in Meredith Baker, die Schwiegertochter des von ihm aus dem Parlament verdrängten Unternehmers Baker verliebt. Zwischen beiden keimt wirkliche Liebe auf und Havisham beginnt, sein bisheriges Leben zu überdenken. Er zeigt nicht nur Reue, sondern versucht, zugefügtes Leid wiedergutzumachen.
Hier nun kommt der skrupellose Privatdetektiv Armindale ins Spiel. Dieser war vom alten de Burgh beauftragt worden, den Tod seines Sohnes aufzuklären. Alle Spuren führen zu Havisham, allerdings ohne Beweise. Doch de Burgh stirbt und so tut sich Armindale nun mit Isobel zusammen. Armindale aus reinem Profitinteresse, während Isobel mitbekommen hatte, daß sich Havisham aus seiner Hörigkeit hat lösen können. Getrieben von Haß und Herrschsucht zeigt sie zunächst Bakers Sohn wegen Homosexualität an. Das war damals ein schweres Verbrechen. Meredith Baker bekommt Isobels Lügen und Halbwahrheiten zu spüren. Für Isobel ist es unvorstellbar, daß sich Menschen wirklich inniglich lieben können. Sie will also Havisham und Meredith voneinander trennen. Und um ihr Vernichtungswerk zu krönen, zeigt sie schließlich ihren eigenen Ehemann wegen Mordverdachts an.
Ob und wie sich die beiden Paare Cathy und Aaron und Horace und Meredith aus ihren jeweils äußerst mißlichen Notlagen, es geht ja wahrlich um Leben oder Tod, befreien können, das soll nicht verraten werden. Aber da Eva-Ruth Landys eine Trilogie angekündigt hat, dürften die Abenteuer der beiden Liebespaare noch nicht beendet sein und wohl auch nicht die Intrigen der rachsüchtigen Isobel und ihres neuen sado-masochistischen Liebhabers Armindale.
Zeugte bereits der erste Roman-Band vom Können der Autorin, so ist über den zweiten zu sagen, daß dieser eine noch reifere Leistung darstellt. Dem Anspruch, einen spannend-erotischen Gesellschaftsroman zu schreiben, wird Eva-Ruth Landys von der ersten bis zur letzten Seite gerecht. Die erotischen Szenen berühren, auch die sado-masochistischen sind gekonnt beschrieben. Die Spannung des gesamten Geschehens läßt nicht nach, egal ob es sich um die Intrigen und den Kriminalfall im Hintergrund handelt. Und nicht zuletzt zeugen die Beschreibungen des Lebens- und Arbeitsalltags der Arbeiter oder der zur Prostitution Frauen vom Erzähltalent der Autorin. Ja, sie stellt Authentizität her.
Das Buch ist nicht nur spannend geschrieben. Immer wieder kommt beim Leser Beklemmung auf, wenn es um die Schicksale von Menschen wie Cathy, Aaron, Mary oder des homosexuellen jungen Baker kennt.
In diesem Buch erscheinen die Arbeiter, und das waren seinerzeit nicht nur Männer, sondern auch Frauen und kleine Kinder, nicht als gesichtlose, leidende Masse. Die Autorin hat diese Menschen, nicht nur ihre Protagonisten, individuell gezeichnet als denkende und fühlende Menschen. Und so ist auf der anderen Seite auch Havishams charakterliche Wandlung, zumindest im privaten Bereich, durchaus glaubhaft.
Obwohl wenn Isobel das personifizierte Böse ist, so ist auch diese Figur durchaus kein Klischee. Nein, dieser Charakter ist ebenfalls glaubhaft gezeichnet: Getrieben von sexuellen Eskapaden (die im prüden victorianischen Zeitalter als unstatthaft galten), getrieben auch Besitzansprüchen, von Herrsch- und Geltungssucht geht es ihr darum, jeden zu vernichten, der sich ihr nur irgendwie in den Weg stellt. In Bezug auf Cathy wird das sogar deutlich ausgesprochen: „Ich werde sie zur Strecke bringen!”
Wer Dickens gelesen hat oder wer Engels’ Werk „Die Lage der arbeitenden Klassen” kennt, der wird hier literarisch mit dem Manchester-Kapitalismus in Reinkultur konfrontiert. Ja, die technischen Neuerungen (Dampfmaschine, Eisenbahn) führten zum wirtschaftlichen Aufschwung in England, führten zum Aufstieg der Kapitalistenklasse. Aber sie führten auch zu einem unbeschreiblichen Elend der Arbeiterklasse in übervölkerten Städten. Es mußten noch Jahrzehnte vergehen, ehe minimale soziale und hygienische Verhältnisse hergestellt werden konnten. Dies war zum einen den Bemühungen sozialliberaler Menschen aus den herrschenden Klassen, zum anderen den erstarkenden kämpferischen Arbeitergewerkschaften zu verdanken.
Für die Leser, die sich etwas näher mit den politischen und gesellschaftlichen Verhältnissen jener Zeit befassen möchten, hält Eva-Ruth Landys ein sehr informatives Nachwort bereit. Hier gibt sie auch Erläuterungen zu den Produktionsabläufen der industriellen Baumwollverarbeitung in der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Und sie klärt über die Wahl des Buchtitels auf: „So stehen beide Städte [Manchester und London; SRK] in der jüngeren Historie geradezu exemplarisch für menschliche Schuld, rücksichtslose Barbarei und Gleichgültigkeit, aber auch für die beeindruckende Kraft menschlichen Ideenreichtums.” (S. 529)
Nicht nur Eva-Ruth Landys wird ihrem Anspruch, spannend-erotische Gesellschaftsromane zu schreiben, gerecht. Gleiches kann man dem überaus ambitionierten Münchner Bookspot-Verlag bescheinigen, mit seinem Anspruch, Unterhaltungsliteratur auf hohem und höchsten Niveau, zu edieren.
Ein kleiner Wermutstropfen soll nicht verschwiegen werden: Der abschließende dritte Band ist leider erst für Ende 2014 angekündigt.
Siegfried R. Krebs
Eva-Ruth Landys: Stadt der Schuld. Roman. 534 S. geb.m.Schutzumschl. Edition Carat im Bookspot-Verlag. München 2013. 17,95 Euro. ISBN 978-3-937357-88-1[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]