Darf eine Mutter neidisch sein auf ihren eigenen Sohn? Darf sie sich wünschen, sie wäre diejenige, die morgen früh erwartungsvoll und vielleicht auch ein wenig nervös den Zug besteigt, um zum ersten Mal freiwillig zur Schule zu gehen? Darf sie sich ausmalen, welche Schwerpunkte sie setzen würde, wenn sie an seiner Stelle wäre? Natürlich darf sie nicht, oder zumindest nicht allzu offensichtlich, denn sie hatte das alles „zu ihrer Zeit“ und jetzt bricht „seine Zeit“ an.
Darf sie ihm dann wenigstens salbungsvolle Reden halten? Ihm sagen, er solle diese Jahre ganz bewusst erleben, denn sie würden prägend sein für seinen weiteren Weg? Ihm vorschwärmen, wie viel Wissen er sich in dieser Zeit aneignen dürfe? Ihm in bunten Farben schildern, wie frei und unbeschwert er noch sein dürfe? Nun, sie mag das eine oder andere davon andeuten, aber sie soll ihm gefälligst keine langen, sentimentalen Monologe vortragen, denn sie sollte nicht vergessen haben, wie lächerlich es wirkt, wenn jemand mit allmählich ergrauendem Haar seine eigenen Jugendjahre durch die rosarote Brille betrachtet.
Aber darf sie denn immerhin mit leiser Sentimentalität darüber nachsinnen, dass ihr Sohn sich allmählich dazu aufmacht, seine Flügel auszubreiten? Sie darf, aber vielleicht eher im Gespräch mit anderen, die mit ihren Kindern gerade Ähnliches erleben, denn ihm dürfte herzlich egal sein, was seine mittelalterliche Mama in diesem Moment empfindet.