Malign neglect

Von Stefan Sasse
In der letzten Zeit geraten die miesen Arbeitsbedingungen besonders in der Dienstleistungsbranche wieder erneut in den Fokus, nachdem fast zwei Jahre lang solcherlei Themen praktisch keine Rolle gespielt haben. Der Fokus liegt auf den Internetversandhäusern und den mit ihnen verbundenen Subunternehmen. Amazon etwa fiel negativ auf, als sie Arbeitslose als Saisonkräfte einstellen und ihnen vorher ein zweiwöchiges "Praktikum" als Anlernzeit unbezahlt aufzwingen. In "45 Minuten" sendet der NDR einen Bericht über die Praxis bei DHL, wo - wie fast überall - Subunternehmen eingesetzt werden, die mit katastrophalen Arbeitsbedingungen operieren. Der Journalist ließ sich in bester Wallraff-Manier undercover einstellen und berichtete von seinen Erlebnissen. Gegen Amazon brach bereits ein kleiner Aufstand los: so stellten mehrere Blogs, etwa die NachDenkSeiten, der Spiegelfechter, der Binsenbrenner oder Klaus Baum die Zusammenarbeit mit Amazon ein und riefen zum Boykott auf: 

Auch die NachDenkSeiten stellen ihre Zusammenarbeit mit Amazon mit sofortiger Wirkung ein und wir hoffen, dass dieses Beispiel Schule macht. Vor allem im Vorweihnachtsgeschäft sollte Amazon schmerzlich am eigenen Leibe erfahren, dass es auch wirtschaftlich von Nachteil sein kann, wenn sich man durch Gesetzeslücken auf unsoziale Art und Weise Vorteile verschaffen will.

Das ist löblich, kostet es die beteiligten Blogs doch ihren Anteil an der Werbekostenerstattung. Nur enthält gerade die NDS-Begründung einen fundamentalen Fehler. Amazon und die DHL-Subunternehmer (und zahllose weitere Unternehmen) nutzen keine Gesetzeslücken aus. Dass sie gerade in den Fokus geraten sind ist letztlich zufällige Willkür. 
Denn tatsächlich sind die bei beiden Unternehmen ans Licht gekommenen Praktiken in allen Branchen Gang und Gäbe. Seit den Agenda-Reformen wurden solcherlei Arbeitsverträge und Auslagerungen an Subunternehmen in praktisch jeder Branche vorgenommen. Dass Amazon und DHL jetzt gewissermaßen als Stellvertreter an den Pranger gestellt werden ist allerdings gefährlich. Nicht, dass die es nicht verdient hätten. Nur entstehen zwei fatale Fehleindrücke: zum Einen scheint es so, als ob es sich nur um vereinzelte schwarze Schafe handle, die man fröhlich boykottieren müsse, damit diese zu moralisch einwandfreien Praktiken zurückkehren, und zum Anderen scheint es, als würden sie ganz hinterlistig Gesetzeslücken zu ihrem Vorteil totinterpretieren. Dass es sich um ein weit verbreitetes Phänomen handelt, auf dem letztlich der berühmt-berüchtigte "Aufschwung XXL" fußt, der in den letzten Jahren mit beinahe religiöser Innbrunst bejubelt wurde, sollte für Leser dieses und anderer Blogs wahrlich keine Überraschung darstellen. Die Argumentation um die Gesetzeslücke dagegen mag vielen befremdlich vorkommen. 
Nehmen wir zuerst Amazon. Die Firma verspürte offensichtlich genügend Druck, um mehr als nur eine Pressemitteilung herauszugeben. Der Chef des Logistikzentrums, Armin Cossmann, gab dem Spiegel ein ausführliches Interview, in dem er die Praxis rechtfertigte. Der Kern seiner Argumenation: Die Arbeitsagenturen sind mit diesem Vorgehen nicht nur einverstanden, sie fördern es sogar - was die Arbeitsagenturen übrigens auch gerne bestätigten. Das ist keine Lücke im Gesetz, die Amazon ausnutzt. Das ist die Intention dieses Gesetzes, und wir haben das schwarz auf weiß von den Arbeitsagenturen selbst. Das Problem ist nicht Amazon. Wir leben in einer Marktwirtschaft, und wenn der Staat Anreize setzt oder Regelungen beschließt, die irgendwelche Vorteile bieten, dann nutzen die Marktteilnehmer diese natürlich. Alles andere wäre selbstmörderisch, denn die anderen nutzen sie ja sicher. Es ist nicht die Aufgabe Amazons zu entscheiden, ob eine bestimmte Regelung fair ist, dafür haben wir eigentlich Politiker. Aus diesem Grund ist es letztlich auch Willkür, dass nun ausgerechnet Amazon den Zorn der Entrüstung und die Boykottaufrufe abbekommt, wo andere genau dasselbe tun und damit durchkommen. Keine Gesetzeslücke. Absicht. 
Dasselbe Spiel finden wir auch bei DHL. Die Ausbeutung der Subunternehmer wird in dem Fernsehbeitrag deutlich herausgestellt. Die Arbeitsverträge enthalten Passagen, die schlicht illegal sind - von der Arbeitszeitenregelung bis zur Nicht-Vergütung von Überstunden. Auch hier werden keine Gesetzeslücken genutzt. Im Gegensatz zu Amazon sind die verwendeten Praktiken schlicht illegal, nach den bestehenden Gesetzen. Der Unterschied ist, dass offensichtlich niemand einen Bedarf sieht, sich darum zu kümmern. Solche illegalen Arbeitsverhältnisse sind, wir wissen es durch ähnliche Reportagen, keine Seltenheit. Der Staat, dessen Aufgabe es eigentlich wäre, eine Strafverfolgung einzuleiten - von einem öffentlichen Interesse an dem Fall kann wohl ausgegangen werden - tut einfach nichts. Er sieht weg, will nichts wissen. Er befindet sich in einem Status des malign neglect ("überwollende Vernachlässigung", im Gegensatz zu der "wohlwollenden Vernachlässigung", benign neglect, mit der die Briten lange Zeit ihre amerikanischen Kolonien prosperieren ließen).
Der Zorn und die Entrüstung gegenüber diesen Praktiken sind absolut gerechtfertigt. Sie richten sich aber gegen das falsche Ziel. Amazon hat nichts falsch gemacht, das haben ihr sogar die Arbeitsagenturen selbst bestätigt. Die Post setzt sich mit dem Staat zusammen an den Rand und macht es wie die drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Man hat einen Passus im Vertrag, der dem Subunternehmer solche Praktiken untersagt, und solange nichts nach außen dringt fragt auch niemand nach. Das ist die Praxis. Sie ist nur möglich, weil sich staatliche Kräfte ihren ureigenen Aufgaben entziehen. Eigentlich hätte längst jemand den ganzen Laden hochnehmen müssen, die Leute verknacken, sich danach die Post vornehmen und den Laden um die Ohren klagen. Längst hätten Politiker die Sozialgesetzgebung ändern müssen, ebenso wie das Arbeitsrecht, das so offensichtlich ausbeuterische Mechanismen wie ein "unbezahltes Praktikum" vorsieht. Es ist nichts anderes als die Einlernzeit, zum Praktikum erklärt. Solche Praktiken aber waren und sind gewollt. Und das ist das Problem, nicht dass die Unternehmen dann darauf reagieren. Es handelt sich nicht um einen moralischen Lapsus einzelner Unternehmen. Es handelt sich um ein systemisches Problem, ein Problem, das nie existieren würde, wenn nicht der Staat es geschaffen hätte. Auf die Verantwortlichen sollte sich unser Zorn richten, und auf niemanden sonst. Der Rest wird den Anreizen entsprechend folgen, wie er es immer getan hat.


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