Malhamspitze: Die spontanste Firnabfahrt meines Lebens

Von Berghasen

Ohne Plan zur Traumtour. Vom Großglockner auf die Essener- und Rostocker-Hütte. Oder: Wenn das Glück mit den Dummen ist.

Fotos: David Geieregger

Wir sitzen nach einer erfolgreichen Glockner-Besteigung auf der Sonnenterrasse des Lucknerhauses und essen Kuchen. David Apfelstrudel. Ich Topfenstrudel. Das ist nach dieser Tour so befriedigend, wie Einschlafen nach dem Sex. Okay, noch besser.

Wir hatten den Großglockner perfekt erwischt. Sonnenschein, kein Wind, wenig los und 100 Kilometer Fernsicht. Trotzdem schweifen unsere Gedanken schon zum nächsten Höhepunkt. Der Plan war, heute wieder zurück nach Salzburg zu fahren. Aber die Bedingungen ungenützt lassen, wo wir schon in Osttirol sind? Das wäre eine bodenlose Frechheit.

Wir überlegen, wo wir morgen guten Firn erwischen könnten. Venediger? Nicht überzeugt. Dann stößt David auf ein Instagram-Posting von Martin Weißkopf. Simonyspitzen. Sieht geil aus! Anruf bei Martin. Ja, es gehe super. Ja, wir müssen heute noch zur Essener- und Rostocker-Hütte aufsteigen. Etwas Besseres finden wir nicht. Überzeugt.

Spontan auf die Essener- und Rostocker-Hütte

Ich bin überfordert. Für eine Übernachtung bin ich nicht ausgestattet. Nächster Halt: Matrei. Supermarkt, Apotheke, Bankomat. Linsenflüssigkeit, Zahnbürste, Zahnpaste, Sonnencreme kaufen. Dann ab nach Ströden. Vom dortigen Parkplatz wollen wir zur Hütte aufsteigen.

Während der Autofahrt ins Virgental frage ich vorsichtig bei David nach, wie weit es bis zur Hütte sei. Ich ahne Übles. Eine Stunde Ski tragen, habe Martin gesagt. Dann ginge es auf Schnee weiter. Alles in allem 800 Höhenmeter.

Ich schlucke. Ist der Großglockner als Tagestour nicht mehr genug? Bin ich verrückt? Bestimmt. Das Irrsinnige: ich freue mich darauf, meine Skier dort hochzuschleppen. Herauszufinden, was ich meinem Körper zumuten kann. Die Grenzen sind noch lange nicht ausgelotet.

Dachte ich, und vergaß die mentale Komponente dieser Entscheidung. Am Parkplatz heißt es: zurück in die nassen Klamotten. Die nassen Socken, die nassen Innenschuhe. Pfui! Skier auf den Rucksack und eine Stunde in Skischuhen durch den Wald stolpern.

Wir lassen uns nicht demoralisieren. Immerhin war es die Entscheidung unseres freien Willens. Die Stimmung ist weiterhin großartig. Die Beine nur halb so schwer, wie ich erwartet hatte. Nach exakt einer Stunde Tragearbeit verdichtet sich die Schneedecke und wir schnallen die Skier an.

Unsere Carbon-Latten fühlen sich an, als wären sie aus Blei gegossen. Dafür ist der Rucksack wieder federleicht. Eine weitere halbe Stunde schleifen wir die Skier über den Schnee. Dann torkeln wir in die Gaststube der Essener- und Rostocker-Hütte. Hüttenwirt Werner empfängt die beiden Spätankömmlinge. Die anderen Gäste sitzen bereits beim Abendessen und bekommen den Nachtisch serviert. Schokoladenkuchen.

Wir ziehen schnell gleich. Kohlenhydratspeicher aufladen. Auch auf ausreichend Elektrolyte achten wir. In Form von Weißbier versteht sich. Immerhin bin ich mit David dem Weißbierpapst unterwegs. Werner spendiert uns noch einen Nussschnaps. Dann kuscheln David und ich uns in die Stockbetten.

Am falschen Berg

Neuer Tag. Ich öffne die Vorhänge unseres Zimmers. Erst jetzt erkenn ich, in welchem Paradies wir gestern angekommen sind. Gerade geht die Sonne auf und lässt die umliegenden Gipfel golden glühen. Eingebettet in einem Kessel liegt die Essener- und Rostocker-Hütte am Fuße zahlreicher prominenter Berge der Hohen Tauern. Über 20 Dreitausender kann man von hier aus ansteuern, erklärt uns Hüttenwirt Werner beim Kaffee. Dreiherrenspitze, Simonyspitzen, Großer Geiger, Malhamspitzen – um nur ein paar zu nennen.

Auch Martin Weißkopf ist heute wieder aufgestiegen. Er gibt uns den Tipp, zuerst auf die Malhamspitze zu gehen, hinten abzufahren und weiter auf die Westliche Simonyspitze aufzusteign. Über das Reggentörl würden wir auf der Hochtirol-Route zurück zur Hütte kommen. Seien nur 1.600 Höhenmeter oder so. Oder mehr ergänze ich in Gedanken.

Mir reicht heute ein Gipfel. Wir beschließen, gleich durch das Reggentörl auf die Simonyspitze zu gehen. David und ich folgen ab der Hütte einem Grat nach Westen. Oder sagen wir so: Wir folgen gedankenverloren den Spuren auf dem Grat. Wind frischt auf. Nebel umgibt die Simonyspitzen.

Als wir etwa eine halbe Stunde unterwegs sind, wächst in uns der Gedanke, dass wir viel weiter rechts unten sein sollten. Anfangs vertrauen wir noch darauf, weiter oben zum Reggentörl hinüberqueren zu können. Fehlanzeige. Wir befinden uns am Weg zu einem anderen Gipfel. Zum Rostocker Eck, um genau zu sein. Verdammt. Hätten wir nur auf Martin gehört.

Wir haben keine Karte dabei. Unsere Handyakkus sind leer. Zwei Profialpinisten auf Abenteuerreise. Umkehren, der weitergehen? Ich will nicht einsehen, dass der marternde Aufstieg zur Hütte gestern umsonst gewesen sein soll. Wir müssen uns einen Überblick verschaffen. Dafür ist das Rostocker Eck allemal gut. Wenn wir Glück haben, können wir auf der hinteren Seite Richtung Malhamspitzen abfahren.

Der Aufstieg wird steiler, knapp unterhalb des Gipfels müssen wir die Skier tragen. Als wir den Gipfelgrat erreichen, springen wir vor Freude. Schau David, schau! Vor uns liegt ein stark abschüssiger Gipfelhang. Über diesen gelangen wir zur Aufsteigsroute auf die Malhamspitzen. Yeah!

Über den Simonyspitzen hängt eine riesige Nebelwalze. Die Malhamspitzen (3.364 m) liegen im Sonnenschein. Wir befinden uns genau an der Grenze zwischen Alpennord- und Alpensüdseite. Das Schicksal, oder unsere Verpeiltheit hat es gut gemeint, uns auf die falsche Route zu führen.

Frisch motiviert fahren wir in die Senke unterhalb des Malhamkeeses ab. Westseitig ist der Schnee noch gefroren. Dafür plan wie eine frisch gewalzte Piste. Hart aber geil. In der Senke ziehen wir die Felle auf und beginnen mit Anstieg Nummer zwei.

Auf Kurs: Mittlere Malhamspitze

Am Gletscher heizt uns die Sonne unbarmherzig ein. Kein Schatten. Nur 1.000 Höhenmeter Firn liegen zwischen uns und dem Gipfel. Wenn ich sagte, ich würde den gestrigen Tag nicht in den Beinen spüren, lügte ich. Sie sind müde und schwer. Und mich dürstet ständig. Trotz alldem kommen wir zügig voran. Der Gedanke an eine 1.300 Höhenmeter lange Firnabfahrt lässt uns nicht schlapp machen.

Wir steigen zuerst durch eine flache Rinne auf das Nördliche Malhamkees auf. Kurz vor Beginn des Gletschers queren wir vorbei an der Bösen Wand auf das Südliche Malhamkees. Erst jetzt erahne ich die Dimensionen des Gebiets, auf dem wir unsere Schritte durch den Schnee ziehen. Lang und flach liegt der Gletscher in völliger Einsamkeit vor uns. Irgendwo ganz oben bewegen sich andere Tourengeher. Für unsere Augen nur als drei, vielleicht vier schwarze Pünktchen erkennbar.

Wen wir von hier wirklich gut sehen, ist der Großvenediger. Der Blick auf seine Firnpyramide begleitet uns den restlichen Aufstieg. Dort hätten wir heute auch sein können. Wehmut? Mitnichten! Nichts wird diese Abfahrt heute toppen können. Den Firn haben wir genau lange genug in der Mittagssonne braten lassen.

Für ein paar Spitzkehren steigt das Gelände nochmals an. David und ich spähen unsere Abfahrtsvariante aus. Sie führt direkt vom Gipfel hinab zum Gletscher. Kurz davor gelangen wir auf eine Scharte. Wir schnallen unsere Skier ab und tragen sie über den Grat zum höchsten Punkt der Mittleren Malhamspitze. Ob wir jetzt aus Zufall oder Blödheit hier stehen, spielt keine Rolle. Es ist ein wunderschöner Gipfel – ganz ohne Kreuz. Nackt und einsam.

Firntraum: Von der Mittleren Mahlhamspitze zurück zur Hütte

Keine Zeit verlieren. Die Schneedecke ist gar. Der Firn gerade bissfest. Felle abziehen. Ein letzter Blick in das Meer aus Dreitausendern und wir stechen in den Gipfelhang. Drei, vier schnelle Schwünge, bevor das Gelände flacher wird. Dann ziehen wir weite Kurven auf unverspurtem Firn. Ja, ja, jaaaaaaaa!

Mir fällt schwer in Worte zu fassen, wie sich der Schnee angefühlt hat. Es ist das Beste, das ich seit Langem unter den Brettern hatte. Besser als Sex. Und dieser Winter war voller genialer Touren.

Fast 1.300 Höhenmeter gleiten wir über die Unterlage, die mir einen Dauergrinser beschert. Der Schnee verliert mit der Höhe nur wenig an Magie. Dafür unsere Beine an Kraft. Wir queren die Senke, von der wir aufgestiegen sind und schwingen einige Meter darunter an einem kurzen Gegenanstieg ab. Ich heule beinahe vor Glück. Wie geil war das denn!

Zurück zur Hütte müssen wir eine lange Querung mit mehreren Gegenanstiegen überwinden. Am Ende des Tages zeigt die Uhr 1.700 überwundene Höhenmeter. Ja, wir hätten gleich die Tour gehen können, die uns Martin vorgeschlagen hat. Aber wir wären so sicher um eine unvergessliche Abfahrt ärmer.

Ein wenig rasten wir noch auf der Terrasse der Essener- und Rostocker-Hütte, bevor wir die Ski für ein kurzes Stück auf die Füße und für ein etwas längeres auf den Rucksack schnallen.

Tourdaten

  • Dauer: 3 bis 5 Stunden für den Aufstieg mit Abstecher auf das Rostocker Eck
  • Höhenmeter: 1.700 inkl. Gegenanstiege
  • Länge: 6 Kilometer bis auf die Mittlere Malhamspitze
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