Male ja kein Nasenloch

Von Lukas Röthlisberger @Adekagabwa

«Wenn Du ein Nasenloch malen willst, dann sag Dir nicht, jetzt male ich ein Nasenloch, sondern schau genau hin, wo es heller und wo es dunkler ist, und dann mal genau diese Flecken. So entsteht das Nasenloch von alleine!»

Diesen weisen Ratschlag erhielt ich in der Kunstschule von meinem Zeichenlehrer. Und es ist tatsächlich so, dass wir besser zeichnen, wenn wir nicht an den Gegenstand (also an das Wort) denken, sondern einfach hinschauen, was zu sehen ist.

Ich hatte damals vor meiner Staffelei das Gefühl mit den beiden grossen philosophischen Strömungen des Abendlandes, dem Rationalismus und dem Empirismus in Berührung zu kommen!

Ja, die Rationalisten (Descartes, Leibniz, Spinoza) waren der Überzeugung, dass wir vor allem durch Nachdenken (ratio=Verstand) Erkenntnis gewinnen, während die Empiristen (Berkeley, Hume, Hobbes) meinten, das einzig Sichere sei das, was man mit den Sinnen wahrnimmt (Empirie=Erfahrung). Dann wäre also der akkurate Zeichner ein Empirist während der Künstler, der aus der Erinnerung oder gar ungegenständlich malt, ein Rationalist.

Aber auch diese Etiketten, diese -isten und -ismen, diese Worte können das schwer einfangen, was wir mit Leben bezeichnen. Dazu einige Gedanken:

  • Wenn ich am Morgen eine Traum-Erinnerung male, male ich dann auch die erinnerten Flecken oder die Interpretation?
  • Wenn ich eine finstere Stimmung als dunkler Fleck aufs Papier bringe, handle ich dann eher empiristisch (meinen Sinnen folgend) oder rationalistisch (meinen Gedanken folgend)?
  • Wenn jemand im Laden ein bemaltes Salat-Ei kauft, und zuhause merkt, dass es ein buntes Schokolade-Ei ist – haben ihn dann seine Sinne getäuscht oder sein Verstand?
  • Noch verwirrender wird es, wenn wir über Störfälle des Gehirns lesen (Oliver Sacks hat dazu viele Beispiele in seinen Büchern): wenn also ein Musikprofesor Studenten nicht von Säulen unterscheiden kann, ist das dann ein empirisches oder ein rationales Problem?

Das Leben ist immer anders als wir glauben. Nichts ist so wie es zu sein scheint. Und die philosophischen Dispute oder zeichnerischen Experimente bringen uns der Wirklichkeit auch nicht näher.

Dann gibt es nur eines: das geniessen, was wir haben,
das, was wir wahrnehmen können
– und seien es rationale Narreteien.   

Bild oben: Ihr Hirngespinst / 22cm x 29 / Acryl auf Karton / 2011, Nr. 11-076

Eines der Bücher von Oliver Sacks: