Mal was grundsätzliches...zur Souveränität

Von Stefan Sasse
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit der Souveräntität.
In der letzten Zeit lässt sich eine beängstigende Entwicklung ausmachen. Die Politik gibt immer mehr ihrer hoheitlichen Aufgaben ab; an "Dritte", wie es im Regierungsjargon heißt. Übersetzt bedeutet das, dass die Bundesrepublik viele ihrer hoheitlichen Aufgaben privatisiert und privaten Unternehmen überträgt. Durch Aktionen dieser Art hat die Exekutive wie auch die Legislative ihren Spielraum in den letzten Jahren massiv eingeschränkt. Diese "Ent-Souveränisierung" beschränkt sich aber bei weitem nicht nur auf die Übertragung hoheitlicher Rechte an private Firmen. Die Politik hat sich zudem selbst Fesseln auferlegt, indem sie Gesetze gemacht hat, die ihr zukünftiges Regierungshandeln beschränken; die Schuldenbremse im Grundgesetz ist hier nur das prominenteste Beispiel. In einem dritten Schritt haben die Staatsorgane ihre eigenen Kompetenzen outgesourct, indem sie etwa interessensgebundene Anwaltskanzleien wie Linklaters (Guttenberg war hier in seiner Zeit als Wirtschaftsminister der Schuldige) mit der Abfassung von Gesetzen beauftragen oder gar gleich die von Lobbyisten vorgelegten Entwürfe durchwinken. Wagenladungsweise wurden Kompetenzen an supranationale Institutionen wie die EU oder die WTO abgegeben, ohne dass damit gleichzeitig Reformen für Transparenz und Demokratisierung einher gegangen wären. Nun erleben wir eine starke Bewegung, die bundesweite Volksentscheide wünscht, zu möglichst allen größeren Themen. Was ist da eigentlich los?
Die Bewegung der Entsouveränisierung darf keinesfalls unterschätzt werden. Die Übertragung von Kompetenzen auf Instanzen, die keinerlei demokratischer Kontrolle unterliegen, nicht gewählt werden und in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle auch keine Verantwortung tragen ist gefährlich. Es ist kaum überprüfbar, welchen Interessen die jeweiligen neuen Hoheitsträger eigentlich folgen, und sie sind in ihrem Tun auch praktisch nicht zu bremsen, zu kontrollieren oder gar davon abzuhalten. Bevor wir uns der Frage zuwenden, was unsere Volksvertreter eigentlich dazu treibt, sich auf diese Art und Weise selbst zu entmündigen (und das Volk, das sie repräsentieren sollen, gleich mit), müssen wir uns ansehen, wie dieser Prozess eigentlich vor sich geht.
Das derzeit am häufigsten zu sehende Mittel bei der Abgabe von Kompetenzen ist der Versuch, bestimmte Politiklinien durch langfristige Verträge festzuzurren. Es gehört zum elementaren demokratischen Konsens, dass Entscheidungen, die von einer Regierung getroffen wurden, von der nächsten wieder aufgehoben werden können. Dies ist der Ausdruck des Volkswillens, wie er im Parlamentarismus eben zu gerinnen pflegt. Die langrfristigen Verträge heben natürlich eben diese Fähigkeit auf. Beispiele für solche Verträge sind die vielen PPP (Private-Public-Partnership) Verträge, die besonders im kommunalen Raum geschlossen wurden und oftmals auf Jahrzehnte äußerst unvorteilhafte Bedingungen festschreiben. So werden etwa Klärsysteme oder soziale Wohnungsanlagen an Investorengruppen verkauft und dann zurückgemietet - ein praktisch immer äußerst nachteiliges Geschäft und kaum mehr zu revidieren. Auch Verträge wie der Atomausstiegsausstieg gehören dazu.
Gerne wird dabei darauf abgehoben, dass die Vertragspartner Rechtssicherheit wollen und die Verträge deswegen eingehalten werden müssen. Das ist nicht falsch; Infrastrukturgroßprojekte wie Stuttgart21 sind nicht ohne langfristige Verträge möglich, an die auch Nachfolgeregierungen sich halten. Es ist auch nicht neu. Neu ist, dass solche Verträge ohne Not geschlossen werden und in ihnen gerade im PPP-Bereich Kompetenzen in großer Zahl auf Jahrzehnte hinaus abgegeben werden. Wo solche Verträge also hoheitliche Aufgaben wie etwa den Straßenbau nicht begleiten, sondern komplett aus den Händen gewählter Volksvertreter nehmen, entsteht ein echtes Problem. Nachfolgenden Generationen und Regierungen ist es absolut unmöglich, irgendetwas an dieser Situation zu ändern, die ihr Leben fundamental beeinflusst.
Der zweite Faktor ist die Selbstbeschränkung der Politik durch Gesetze. Gerade in der Großen Koalition von 2005-2009 gab es eine starke Tendenz, im Grundgesetz herumzupfuschen und dort Artikel zu hinterlassen, die ohne Not auch in normale Gesetzesform hätten gegossen werden können. Nur, dann hätten sie ihren Zweck verfehlt. Es ist praktisch unmöglich, jemals wieder das Grundgesetz entsprechend zu verändern, wenn kein parteiübergreifender Konsens existiert, etwa durch eine entsprechend große Koalition oder vorherige Überzeugungsarbeit. Dies allerdings ist in den meisten Fällen kaum möglich, besonders dann nicht, wenn es Kräfte gibt die ein Interesse am Bestand der aktuellen Situation haben. Mustergültig lässt sich das an der Schuldenbremse erkennen: hier beschränken Politiker ihren eigenen Handlungsspielraum elementar. Das ist ein eigentlich völlig unzulässiger Zugang. Die Volksvertreter nehmen hier effektiv dem Volk, in dessen Namen sie handeln, Kompetenzen aus der Hand. Die dahinter stehende äußerst bedenkliche Geisteshaltung werden wir später analysieren.
Der dritte Faktor ist das Outsourcen des Gesetzgebungsprozesses. Die Gesetze haben in der letzten Zeit an Komplexität dramatisch zugenommen und werden effektiv nur noch von einer Handvoll Juristen verstanden, oft genug der, die sie selbst geschrieben haben. Dieses Übermaß an Komplexität einfach mit den Herausforderungen einer neuen Zeit, der Globalisierung oder den Sonnenflecken (wahlweise) zu erklären greift dabei viel zu kurz. Das resultierende Problem ist, dass die Volksvertreter nicht auch nur den Hauch einer Chance haben nachzuvollziehen, welche Implikationen das Gesetz überhaupt hat. Beispielhaft ist das im Falle von Guttenbergs Linklaters-Auftrag. Das resultierende Gesetz, so heißt es, sei von der Ministerialbürokratie, deren eigentliche Aufgabe es wäre, nicht zu bewältigen gewesen. Wenn aber selbst die Fachleute das nicht konnten, wie kann dann der Bundestag über das allem Anschein noch völlig unveränderte Gesetz abstimmen, das eine Fremdfirma unter reichlich dubiosen Umständen produziert hat? In einem solchen Gesetz können weiß Gott welche Bestimmungen versteckt sein, und es wird einfach durch den Bundestag gewunken, der sich selbst die Kompetenz darüber abspricht, solche Gesetze zu machen!
Anderer Natur ist die Kompetenzabgabe an Brüssel. Es ist zu einem beliebten Spiel geworden, auf nationaler Ebene Entscheidungen der EU-Kommission anzuprangern, die man zuvor in eben dieser Kommission selbst getroffen hat. Da die EU-Instititutionen überwiegend nicht gewählt werden und eine sehr hohe Komplexitätsdichte aufweisen, klappt dieser Schritt praktisch immer. Selbst der "Qualitätsjournalismus" sieht sich offenbar nicht in der Lage, diese Widersprüche aufzudecken. Die EU wie auch die WTO und andere supranationale Institutionen, an die die Nationalstaaten Macht abgegeben haben, besitzen den für Menschen dieser Geisteshaltung unwiderstehlichen Charme, dass ihre Entscheidungen frei von Diskussionen innerhalb der Parteien und der Vermittlung dieser Entscheidungen an Wähler getroffen werden. Sie werden so dargestellt, als ob sie Naturgewalten wären, gegen die man kaum etwas unternehmen kann. Das aber ist schlicht falsch; es sind Entscheidungen, die oftmals von genau den Menschen getroffen wurden, die sich danach über sie beschweren und unter dem Deckmantel gerechtfertiger Empörung verstecken.
Der fünfte Faktor letztlich ist der Ruf nach Volksentscheiden, der gerade immer wieder laut wird und der durch die offensichtliche Unzufriedenheit, die sich in seit Jahren nicht mehr gekannten Massendemonstrationen entlädt, befördert wird. Auch hier jedoch handelt es sich um eine weitere Variante des Abgebens von Kompetenzen. Es ist ein Verstecken hinter einer Volksentscheidung. Man sehe sich nur Stuttgart21 an: hier war die SPD jahrelang zusammen mit CDU und FDP für das Projekt und hat es mitgetragen. Jetzt, da der Volkszorn darüber sich so plötzlich entlädt, bekommen die Sozialdemokraten kalte Füße und fordern einen Bürgerentscheid. Die auch offen erklärte Hoffnung der SPD ist es dabei, dass der Volksentscheid FÜR Stuttgart21 ausfällt - es ist die offensichtliche Feigheit, sich hinter die eigene Entscheidung zu stellen und der Versuch, stattdessen ein direktes Votum nach vorne zu stellen, hinter dem man sich dann verstecken kann. Aber wenn die Entscheidungen ohnehin vom Volk getroffen werden sollen, wozu brauchen wir dann überhaupt ein Parlament? Lassen wir doch gleich Linklaters zwei Gesetzesentwürfe machen und dann das Volk über die beiden Varianten abstimmen.
Hinter all dieser Entsouveränisierung steht die gleiche, bedenkliche Geisteshaltung. Oftmals wird wahlweise Politik- oder Politikerverdrossenheit beklagt, aber gleichzeitig scheint in der Politik eine Wählerverdrossenheit zu bestehen. Weder traut die Öffentlichkeit ihren Vertretern etwas zu, noch diese Vertreter sich selbst. Am virulentesten manifestiert sich dieses Problem in der Finanzfrage. Über Jahre wurde ein Mantra in die Öffentlichkeit eingehämmert: der Staat ist der schlechtere Wirtschafter, privat ist effizient. Dieses Mantra dürfte inzwischen eigentlich als hinreichend widerlegt gelten, hat sich jedoch wie ein Krebsgeschwür ins öffentliche Bewusstsein gehämmert. Dies führt dazu, dass Politiker fast quer durch alle Parteien versuchen, als Sparkommissare dazustehen und unnötige Ausgaben zu vermeiden. Den Bund der Steuerzahler ficht das natürlich nicht an; diese Lobby der Gut- und Besserverdienenden gilt der Presse nach wie vor als seriöse Quelle zum Thema Staatsfinanzen und kann Horrormeldungen am laufenden Band herauskloppen, die sich meist um fünfstellige Beträge für angeblich nutzlose Kreisverkehre drehen, jedoch merkwürdigerweise nie die milliardenschweren Steuergeschenke für Reiche, Großunternehmen oder die Hochfinanz anprangern, die den Staat wirklich an den Bettelstab bringen.
Es ist geradezu absurd, dass es der Lobbyistenoffensive gelungen ist breitflächig die Ansicht zu verbreiten, dass nicht eine auf das Gemeinwohl verpflichtete Politik, sondern eine Partikularinteressen verpflichtete das Maß aller Dinge sei und zu besseren Ergebnissen führe. Entsprechend ging damit ein unglaublicher Ansehensverlust der Politik einher, den diese auch noch beständig bestätigte. Früher hieß es, Sozialdemokraten könnten nicht mit Geld umgehen. Heute heißt es, alle Politiker könnten nicht mit Geld umgehen, und die bestätigen es auch noch und werfen es mit vollen Händen in den Rachen derer, die es angeblich können, auch dann, wenn die es gerade in einer Höhe verbrannt haben, in der es der Politik niemals möglich wäre. Wenn der Staat Geld "verschwendet", so gibt es am Ende doch meistens irgendetwas, und wenn es nur eine Brücke ist, über die niemand fährt. Dieses "etwas" hat dann meist wenigstens irgendjemandem Arbeit gegeben. Wenn die Privatwirtschaft Geld verschwendet, wirft sie es als Bonus- und Abgangszahlungen in den Rachen inkompetenter Manager, die sie anders nicht mehr los wird, oder verbrennt es gleich in einer Immobilienblase in Quantitäten, von denen die Politik nur träumen kann. Hat jemals jemand von einer politisch induzierten "Investitionsblase" gehört?
Das aber führt dazu, dass nicht nur niemand mehr der Politik irgendwelche Problemlösungskompetenz zutraut; sie tut das nicht einmal mehr selbst und lässt die Probleme außerhalb lösen. Aber hier schlagen Partikularinteressen gnadenlos zu. Eine mit der Abfassung eines komplizierten Gesetzes beauftragte Großkanzlei hat ein Interesse daran, dieses Gesetz noch komplizierter zu machen als notwendig, denn dann kann sie danach die Beratung dafür teuer verkaufen - sowohl an ihre ursprünglichen Auftraggeber als auch an diejenigen, die die Lücken wissen wollen, die die Kanzlei wohlweislich hineingeschrieben hat. Auch supranationale Institutionen werden beständig herangezogen, um diese Entsouveränisierung durchzuführen und damit Verantwortung abzuschieben. Die Entsouveränisierung der Politik verläuft somit zweigleisig. Zum einen werden hoheitliche Kompetenzen abgegeben, die nie hätten staatliche Hände verlassen dürfen - aktuell debattiert Röttgen allen Ernstes die Privatisierung der Atommüllendlagerung! - und zum anderen versuchen die Politiker auch noch die Verantwortung abzuschieben, indem sie sich hinter dem "Volkswillen" oder supranationalen Institutionen verstecken.
Das alles fußt auf der gigantischen Meinungsmache und Gehirnwäsche, die im letzten Jahrzehnt über unsere Gesellschaft hinweggerollt ist und die oben genannten Axiome fest in den Köpfen der Menschen verankert hat. Es gilt, diese Gehirnwäsche zurückzufahren und von den Volksvertretern zu verlangen, Entscheidungen wieder selbst zu treffen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Experten kann man auch in die Ministerialbürokratie einbinden und somit an den Staat, anstatt sich vollständig den Partikularinteressen zu orientieren. Es ist notwendig, dass das Heft des Handelns wieder an die geht, die dafür gewählt wurden. Wenn sie der Überzeugung sind, dafür nicht qualifiziert zu sein, sollen sie gefälligst Platz machen für die, die es sind. Nur eines ist sicher: die Entscheidung darüber, wofür Steuergelder ausgegeben werden, ist ganz bestimmt nicht bei denen richtig aufgehoben, deren einzige Motivation vertraglich fixiert auf Profit lautet.

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