Von Stefan Sasse
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit der CDU 2010.
Sarrazin und Steinbach haben in den letzten Tagen eine Entwicklung losgetreten, wie sie vor kurzem noch kaum vorstellbar war. Nachdem jahrelang das Spiel "Sehen wir mal, wie weit wir die Programmdebatte der SPD nach rechts schieben können" mit den Sozialdemokraten gespielt und von der Koalition des großen Geldes klar gewonnen worden war, findet sich die CDU unversehens im gleichen Spiel wieder. Nachdem bereits in den letzten Monaten von einer "Sozialdemokratisierung" der Union gemunkelt worden war, machen die Spieler jetzt ernst und beginnen, ihre Spielsteine aufs Feld zu setzen. Merkel findet sich damit urplötzlich in der Mitte eines Spiels, dessen Regeln zwar die gleichen geblieben sind, dessen Spielbrett und -steine aber von einem Moment auf den anderen ausgewechselt wurden. Zu allem Überfluss ist nicht ganz klar, ob Merkel eigentlich selbst Spieler oder Spielstein ist.
Was war geschehen? Der Vorwurf der "Sozialdemokratisierung" der Union war eigentlich nur ein wenig publizistische Begleitmusik zur schwarz-gelben Koalition in Richtung der CDU, um bloß allen als Ballast empfundenen Politikrest aus der Großen Koalition, der irgendwie noch als sozialdemokratisch zu identifizieren war (wenig genug!) loszuwerden. Doch als die FDP sich als die reine, bestechlich-korrupte Klientelpartei erwies, die sie nun einmal ist - ich warte ja immer noch darauf, dass sie endlich Quittungen ausstellt - zog die Debatte schnell ab, und in dem ganzen entstehenden Klein-Klein und den vielen Kunden, die für die Auszahlung ihrer Investitionen bei Schwarz-Gelb Schlange standen, fiel die CDU ein wenig in Vergessenheit. Doch ausgerechnet Sarrazin, der ja SPD-Mitglied ist, schlug unvermutet auf die CDU zurück. Zuerst schien es, als würde sich die Sarrazin-Debatte, die ja bereits zweimal zuvor hochgekocht war - einmal wegen seiner Pullover für frierende Hartz-IV-Empfänger und seinem Hartz-IV-Kochbuch, einmal wegen seinem Interview für Lettre International mit den "kleinen Kopftuchmädchen" und "türkischen Gemüseläden" - wie das letzte Mal negativ auf die SPD auswirken, die im Umgang mit ihrem Hausrassisten dilettantisch herumeierte. Dieses Mal aber war Sarrazin so weit gegangen, dass die SPD-Spitze eine eindeutige Reaktion abließ (die freilich gerade ins Wanken gerät), der sich Merkel fast noch vehementer anschloss. Für einen Moment stellte sich das politische Establishment wie ein Mann gegen Sarrazin.
Doch es war nicht die SPD, die durch Sarrazin eine Programmdebatte an den Hals bekam, obwohl ihre Basis doch so einhellig seine Thesen befüwortet (wohl wie der Rest dieser zustimmenden Mehrheit ohne sie überhaupt zu kennen), sondern die CDU. Das verwundert nur auf den ersten Blick, denn man darf das Gerede von der "Sozialdemokratisierung" nicht so leichtfertig wie die NachDenkSeiten beiseite wischen. Natürlich ist das Gerede vom "Linksrutsch" in der Union genauso Unsinn wie bei der SPD, davon kann keine Rede sein. Die neoliberalen Positionen sind allenfalls rhetorisch und wo es die Pragmatik erforderlich macht aufgeweicht, im Kern überhaupt nicht. Was aber in jedem Falle geschehen ist ist eine Liberalisierung der Union. Sicher steht sie immer noch für Law&Order, aber selbst dort tut sie es in Gestalt de Maizières mittlerweile mit einem Lächeln statt mit Schäubles Fratze. Am einschneidensten ist die Änderung der Merkel-Ära sicherlich auf dem Feld der Familienpolitik, wo die Union einen für ihre Verhältnisse radikalen Schwenk hingelegt und sich vom Bild des männlich dominierten Ein-Ernährerhaushalt endlich verabschiedet hat. Damit ist die letzte Bastion in der Avantgarde der Gesellschaft (also Medien, Wirtschaft, Politik und Kunst) in dieser Beziehung gefallen, ein liberales Scheidungsrecht, Homoehen und Ähnliches endgültig Mainstream geworden. Gleiches gilt für die Integrationsdebatte, wo man von der radikalen Leugnung jeglicher permanenten Einwanderung frührer Tage zur ersten deutschen Islamkonferenz kam. Nur hat die Bevölkerung diese Entwicklung bisher nicht gesamtheitlich mitvollzogen; die Avantgarde ist liberaler als die Bevölkerungsmehrheit. Mit links und rechts hat das erst einmal nichts zu tun.
Daraus erwachsen der Union nun aber große Probleme, denn auch wenn die SPD-Wähler die gleichen Ressentiment (wenn vielleicht auch schwächer) teilen wie ihre Union wählenden Mitbürger, so war es für die Sozialdemokraten nie eine so große Frage wie sie sich in diesem Thema positionieren wie für die Union, die das erklärte Ziel ausgegeben hat rechts von ihr (oder zumindest der CSU) keine andere Partei entstehen zu lassen. Nun gibt es heuer keine Gestalt wie Dregger oder Strauß mehr, die in kerniger Art und Weise diese rechtsgerichteten, konservativen Ansichten vertritt, die der Bevölkerungsmehrheit noch zu eigen sind. Deswegen irrlichtert dieses politische Element gerade herum und führt zu Spekulationen über die Gründung einer sechsten, rechtspopulistischen Partei, die aber vor allem den Zweck haben die CDU in ihrer Richtungsdebatte zu beeinflussen. Denn die kam durch den Rücktritt Steinbachs vom CDU-Vorstand erst richtig in Gang. Die Ablehnung Steinbachs nach ihrem relativierenden Mobilisierungs-Missgriff kommt für die CDU eigentlich genauso überraschend wie die einhellige Ablehnung Sarrazins. Es ist noch nicht so lange her, da hätten sich viele CDU-Politiker schützend vor den Vertriebenenverband geworfen und die deutsche Leitkultur zitiert. Nichts dergleichen, Steinbach schlug sofort harte Kritik aus den eigenen Reihen entgegen. Das ist neu, und hier liegt die wahre Positionsveränderung der CDU. Sie ist nicht sozialdemokratisch, in keinster Weise, sie ist liberal.
Vermutlich liegt darin auch ein Teil der Anziehungskraft der FDP bei der Bundestagswahl 2009, die sich ja zu einem Gutteil an enttäuschten CDU-Wählern gütlich tat. Dies wurde fast immer auf die "sozialdemokratische" Wirtschaftspolitik der CDU in der Großen Koalition geschoben, aber es gibt keine 16% in Deutschland, die ernsthaft die FDP-Wirtschaftspolitik wünschen könnten. Vielmehr hat sich die FDP in die Rolle einer Protestpartei hineingewachsen, die nicht nur wegen der "weichgespülten" Regierung mit den Sozialdemokraten Proteststimmen erhielt, sondern vielleicht gerade auch wegen Westerwelles beständigen Ausfällen gegen Hartz-IV-Empfänger, denen - Sarrazin beweist es - auch immer ein latent fremdenfeindliches Element mitschwang. Die aktuelle Panik besonders junger FDPler, dass die FDP dringend ihren "liberalen Markenkern stärken" müsse sind deswegen nicht von der Hand zu weisen, denn hier wird die Partei mittlerweile von allen anderen weit überholt. Die wahre Gefahr ist nicht die Gründung einer sechsten, rechten Partei in Deutschland, sondern die Wandlung der FDP zu genau dieser Partei, einer wirtschaftsliberalen, eher etwas konservativen, vor allem aber in Richtung auf die vornehmend ausländischstämmige Unterschicht rechtspopulistische Partei.
Diese Verwerfungen sind eine Aussicht, die das schwarz-gelbe Establishment in Angst und Schrecken versetzt. Für die Führungsspitze der Partei ist der ganze Streit eigentlich relativ irrelevant; die alten rechtskonservativen Positionen sind dort nicht mehr vertreten (ganz im Gegensatz zu den marktliberalen Positionen!). Weiter unten jedoch fürchten viele Hinterbänkler um ihre früher sicheren Mandate. Wo die Wahlkreise des Südens nicht mehr zuverlässig die Überhangmandate ausspucken, wenn man im Bierzelt ein wenig gegen faule Rumänen poltert und die deutsche Leitkultur preist, bricht die Lebensgrundlage vieler Basispolitiker plötzlich weg. Es ist wohl die Hoffnung bestimmter Kreise, dass eine Rückkehr zur rechtskonservativen Bierzeltgemütlichkeit der Straußtage die Partei wieder über 40% der Stimmen hebt und ihr den alten Volksparteistatus zurückgibt. Diese Hoffnung ist aber vergeblich. Weder die Integrations- noch die Familienpolitik ist ein Thema, das Wahlentscheidungen entscheidend beeinflusst. Die Chancen stehen vielmehr gut, dass die Bevölkerung diesen Schwenk über die Zeit nachvollziehen wird, wenn die Avantgarde nur genügend Sitzfleisch beweist und nicht für kurzfristige Zustimmung, die bereits morgen wieder vergessen ist, den Ressentiments nachgibt.
Es ist weniger damit zu rechnen, dass die CDU tatsächlich einen spürbaren Rechtsschwenk durchführen wird. Allenfalls wird sie einige "loose cannons" auf dem rechten Flügel poltern lassen, um ihr Image wieder etwas umzuprägen, genauso wie sie sich nur allzugerne das Image der "Sozialdemokratisierung" hat verpassen lassen. Die CDU lebt davon, dass Menschen sie wählen, die eine gewisse konservative Grundstimmung besitzen, nicht irgendwelche unzufriedenen Protestwähler ihr die Stimme geben. Die CDU ist eine Regierungspartei, die danach strebt, möglichst häufig an der Regierung zu sein. Wähler, die nur ihren Frust loslassen und über die tatsächlich ausgeübte Politik unzufrieden sind und der Partei in Scharen den Rücken kehren wenn diese dann tatsächlich Politik ausübt wie dies der FDP gerade geschieht kann sie eigentlich nicht gebrauchen.
Links: Konservatives Profil - Ist die CDU zu links? (Zeit)
Das Jammern der Konservativen (Weißgarnix)
Rechts von der Union, in den Schlangengruben (FAZ)
Dieser Artikel hatte einst die Überschrift "Konservativ, sozialdemokratisch oder liberal? Die Programmdebatte der CDU".