Von Stefan Sasse
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit Steuern.
Warum wollen wir Progressiven eigentlich immer hohe Steuern und einen expansiven Staatshaushalt? Was haben wir gegen die Idee, dass das Geld der Bürger besser bei den Bürgern verbleibt, die eigentlich besser wissen was damit anzufangen ist als die monströse Staatsbürokratie? Welche Argumente gibt es, die für eine Finanzierung des Staates durch Steuern sprechen? Hat Sloterdijk vielleicht doch Recht, wenn er eine langsame Umstellung auf Freiwilligkeit bei Steuern fordert? Wir wollen im Folgenden einen Blick hinter die Idee der Steuer und ihre Entstehung sowie die aktuellen Methoden werfen, ehe wir uns der Frage widmen, ob wir das eigentlich brauchen oder ob es nicht bessere Methoden gäbe.
Abgaben an das Staatswesen gibt es, seit die Menschen sich zu Gesellschaften zusammenschließen. Steuern allerdings sind abstrakter als etwa das Aufteilen der Jagdbeute oder das Abgeben des Zehnten von der eigenen Ernte. Sie erfordern Geld, und damit auch die Verbreitung von Geld, sowie das Vorhandensein einer Bürokratie und klaren Regeln. Diese Bedingungen waren nach dem Untergang des Römischen Reiches in weiten Teilen dessen, was heute Deutschland ist, erst mit der Verstädterung gegeben. Steuern dienten damals hauptsächlich der Finanzierung der herrschaftlichen Aufgaben, will heißen: der Repräsentation nach außen (der Hofhaltung) und der Aufrechterhaltung der Sicherheit, eine Aufgabe, die hauptsächlich durch die Armee geleistet wurde. Die Vorstellung, dass der Souverän andere Aufgaben mit dem Steuergeld durchführen könnte kam erst allmählich auf. Der Burgenbau beispielsweise wurde eher durch Abgaben denn durch Steuern finanziert, während die Infrastrukturprojekte der frühen Neuzeit bereits auf die Steuerfinanzierung zurückgriffen und Arbeiter anstellten anstatt sie zu Frondiensten heranzuziehen.
Überhaupt sah die Neuzeit einen Wandel der Abgabenform von den Naturalabgaben und Frondiensten hin zu Abgaben in Form von Geld, weil die Staatswesen größer wurden und mit den alten Abgabeformen nicht mehr zu arbeiten in der Lage waren. Der alte ritterliche Lehensnehmer lebte ja noch direkt vom Zehnten der Abgabeeträge und nutzte die Arbeitskraft seiner Leibeigenen, aber die Entstehung größerer Staatswesen wie etwa des französischen Königreichs machte dies unmöglich. Mit der Notwendigkeit von Geldzahlungen wuchs automatisch auch die Verbreitung von Geld und damit von Handel (schließlich mussten die Bauern ihre früheren Naturalabgaben nun zu Geld machen), und dies wiederum sorgte für die Notwendigkeit von Infrastruktur. So entstand ein Kreislauf, der zu einer immer feineren Ausdifferenzierung von Bürokratie, Staat, Wirtschaft und ultimativ dem Steuersystem führte.
Praktisch gleichzeitig zeigen sich bereits erste Ausprägungen der sozialen Frage, die mit Steuern verbunden ist: sowohl Klerus als auch Adel schafften es, sich der meisten Steuern und Abgaben zu entledigen, so dass die Last des Staatswesens auf den Schultern des Dritten Standes lag - einer der Hauptauslöser für die Französische Revolution und die Folgeverwerfungen, die zur Entmachtung zuerst des Klerus' und dann des Adels im 19. Jahrhundert führten. Es war auch die Französische Revolution, die die Idee eines aktiv steuernden Staats erstmals praktisch umzusetzen versuchte, eines Staates also, der seine Steuern nicht nur zur Aufrechterhaltung von Status und Sicherheit seiner selbst nutzte, sondern aktiv zum Nutzen der Bürger einsetzte. Dazu gehört auch - wieder zeigt sich die soziale Ausprägung - ein progressives Steuersystem, das jene mehr belastet, die mehr haben und so für eine gerechtere Verteilung der Lasten sorgt.
Es waren die Nationalstaaten, die sich im 19. Jahrhundert konstituierten, die das System zur vollständigen Ausreifung brachten und fein verästelte Bürokratien schufen, die Steuern aus vielen Quellen einzogen - ein Nebeneffekt des Umstiegs von der pauschalen Kopfsteuer auf progressive und ausdifferenzierte Steuersysteme - und an mindestens ebenso viele Quellen wieder verteilten. Steuern dienen seither nicht mehr allein der Finanzierung hoheitlicher Aufgaben, sondern sind auch ein aktives Steuerungsmittel von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sind tatsächlich mithin eines der besten Steuerungsmittel, das dem Staat zur Verfügung steht, indem er Anreize oder Hürden in Form von Steuererleichterungen oder Sondersteuern setzt und so bestimmte Industrien oder Verhaltensweisen fördert - die Subventionen für den Agrarsektor oder das Ehegatten-Splitting sind nur zwei besonders sichtbare Ausdrücke dieser Steuerungsmöglichkeit.
Inzwischen gibt es die Diskussion, Steuern auf transnationaler Ebene zu erheben, etwa durch die EU oder gar gleich durch die UNO, die dann zur Finanzierung von Aufgaben herangezogen werden sollen, die sich einem nationalen Zugriff entziehen. Wenn man den Vergleich etwa dehnt kann man dies durchaus mit der frühen Neuzeit vergleichen: ohne eigenes Budget ist ein effektives Arbeiten kaum möglich. Die transnationalen Organisationen sind derzeit von freiwilligen Gaben der Nationalstaaten abhängig, gegen deren Willen sie keine Initiativen durchführen können. Es ist anzunehmen, dass das Schaffen eigener Geldquellen für diese Organisationen dazu führen würde, dass sie mehr Aufgaben übernehmen und die Nationalstaaten an Bedeutung hinter sich lassen - ganz so, wie die Adeligen in der Neuzeit mehr und mehr Kompetenzen an den neuen, finanziell potenten Staat verloren (zumindest wenn man nicht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lebte).
Bevor wir in die versprochene Argumentation einsteigen, die erklärt, wozu wir eigentlich Steuern benötigen, sollten wir uns noch einmal Gegenargumente ansehen. Es gibt effektiv zwei Hauptargumentationslinien, die gegen hohe Steuern argumentieren. Ich will sie die FDP-Linie und die Republikaner-Linie (von der amerikanischen Republican Party) nennen, weil diese beiden Parteien öffentlich sichtbare Vertreter dieser Linien sind.
Die Republikaner-Linie dagegen argumentiert eher moralisch. Sie ist in den USA unglaublich beliebt (und spielt bei uns praktisch keine Rolle) und ein Hauptgrund dafür, dass die Amerikaner heute noch kein funktionsfähiges Gesundheitssystem haben. Vereinfacht gesprochen behaupten die Republikaner, dass der Staat nicht so gut mit dem Geld umgehen könnte wie die Bürger, die selbst am besten wüssten, wofür sie ihr Geld einsetzen wollen. Das erstreckt sich beispielsweise auf Bereiche wie Entwicklungshilfe, Klimaschutz und Ähnliches, aber auch das Schulsystem oder eben die Gesundheitsversorgung. Obwohl die Argumentation des Wirtschaftswachstums auch hier verwendet wird, ist den Republikanern immer der Punkt wichtig, dass dies den kleinen Unternehmen helfen würde (obwohl sie natürlich wie die FDP auch hauptsächlich große Konzerne verwöhnen). Das erklärt sich aus dem spezifischen Gründungsmythos der USA, denn letztlich brach die amerikanische Revolution aus, weil die Kolonisten keine Steuern bezahlen wollten (vgl. hier). Noch heute kann man deswegen mit Argumentieren gegen Steuern des Bundesstaats eine spezifische Saite der Amerikaner zum Klingen bringen, die hierzulande völlig stumm bleibt. Denn in Europa ist die Notwendigkeit bundesstaatlicher Steuern generell anerkannt. Zwar ächzt man unter der Last und wünscht, dass sie einen anderen treffen würde, die Legitimation von Steuern selbst ist aber nie angezweifelt. Das unterscheidet Europa deutlich von den USA, wo immer wieder ernsthaft das Recht des Staates auf Steuern überhaupt bestritten wird. So weit geht nicht einmal die FDP; diese möchte lediglich ihre eigenen Leute von Steuern befreien.
Ich bin der Überzeugung, dass Steuern und Abgaben eine notwendige Angelegenheit sind. Ich gebe ja zu, ich zahle sie auch nicht gern. Das tut denke ich niemand. Aber die Konsequenz aus ihrer Abschaffung ist zu deutlich, um die Alternative ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Allein die Vorstellung der Abschaffung der Lehrmittelfreiheit beispielsweise ist erschreckend. Sie würde den Bürgern vielleicht 50 Euro im Jahr an Steuern sparen, aber jeder, der Kinder auf der Schule hat, könnte diesen Betrag dann monatlich selbst bezahlen. Oder denken wir an Autobahnen; hohe Mautgebühren wären notwendig, um diese privat zu bauen und zu betreiben - wenn es überhaupt rentabel wäre. Ohne Steuern hätten wir vermutlich keinen Kilometer Straße gebaut. Ohne Steuern hätte die Eisenbahn nie den Wilden Westen erobert. Und ohne Steuern gäb es weder Polizei noch Feuerwehr.
Steuern sind ein Mittel der Umverteilung von Wohlstand. Das ist ein Fakt. Es ist dem spezifischen Kurs des Diskurses der letzten 30 Jahre zu verdanken, dass dies als ein rein negativ zu bewertendes Fakt in der Gleichung auftaucht. Umverteilung hat einen negativen Klang, obwohl die Zahl der Profiteure deutlich höher sein dürfte als derer, die darunter leiden, und selbst die "Netto-Zahler" profitieren mittelbar durch eine gestiegene Stabilität des Systems. Ein Staatswesen nämlich, dass sehr geringe Steuern erheben würde, könnte für die Sicherheit seiner Bürger gar nicht mehr garantieren. Wer Geld hätte, müsste sich einmauern, private Sicherheitsdienste heuern und so weiter. Chaos und Anarchie wären die Folge - kaum das Umfeld, in dem man tatsächlich leben möchte. Die steuerliche Umverteilung ist der Alternative also jederzeit vorzuziehen.
Steuerliche Umverteilung sorgt außerdem für eine Garantie der Marktwirtschaft, so paradox sich das auf den ersten Blick auch anhören mag. Ohne Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer und ähnliche Vehikel akumuliert der Reichtum allzu schnell in den Händen einer winzigen Gruppe. Das aber verhindert Wettbewerb, der ja - wir erfahren es aus allen Sonntagsreden - der Motor des marktwirtschaftlichen Wohlstands ist. Ein aktiver, ins Wirtschaftsleben eingreifender Staat ist die Vorbedigung für eine Marktwirtschaft, und das beste Steuermittel des Staates sind Steuern (die semantische Überschneidung ist kein Zufall!). Die direkte Übernahme der Wirtschaft durch den Staat ist, da haben die Neoliberalen durchaus Recht, in den meisten Fällen (die unteilbaren Güter wie Energie, Wasser, Infrastruktur einmal ausgenommen) weniger effektiv als eine marktwirtschaftliche, durch Wettbewerb gekennzeichnete, vorausgesetzt, dieser Wettbewerb findet statt.
Genau das ist das absurde an der Linie der FDP. Sie tritt für offiziell für Marktwirtschaft und Wettbewerb ein und tut mit ihrer Steuerpolitik doch alles, um ihn abzuschaffen. Steuern sind das Mittel, mit dem der Staat die Stabilität und Gerechtigkeit einer Gesellschaft durch aktive Steuerung und Umverteilung bewerkstelligen kann. Steuern sind das Gegenstück zum Wettbewerb der Wirtschaft. Beide können ohne einander nicht sein. Wir müssen deswegen überlegen, wie wir in Zukunft unser Steuersystem gestalten wollen - gestalten, nicht abschaffen und verkrüppeln.
Dazu ist es zum Einen notwendig, eine echte progressive Besteuerung durchzuführen, die nicht wie derzeit die Mittelschicht überproportional belastet (dass der Spitzensteuersatz bereits ab einem Jahreseinkommen von rund 53.000 Euro greift ist einfach lächerlich). Dazu ist es zum anderen notwendig, steuerliche Anreize aktiv zu setzen, indem beispielsweise regenerative Energiequellen Steuerboni genießen. Dazu ist es vermutlich auch notwendig, supranationalen Institutionen endlich ihre eigenen Steuern zu geben, damit diese mit eigenem Budget operieren und endlich große Aufgaben wie Umweltschutz oder Steuerung internationaler Finanzströme in Angriff nehmen können. Dazu aber müssen wir uns von der Vorstellung befreien, Steuern würden in einem schwarzen Loch eines gesichtslosen Molochs "Staat" verschwinden. Staat sind wir alle, und Steuern dienen dazu, unser eigenes Leben zu gestalten.
Bildnachweise:Laffer-Kurve - Vanessaezekowitz (GNU 1.2)
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit Steuern.
Warum wollen wir Progressiven eigentlich immer hohe Steuern und einen expansiven Staatshaushalt? Was haben wir gegen die Idee, dass das Geld der Bürger besser bei den Bürgern verbleibt, die eigentlich besser wissen was damit anzufangen ist als die monströse Staatsbürokratie? Welche Argumente gibt es, die für eine Finanzierung des Staates durch Steuern sprechen? Hat Sloterdijk vielleicht doch Recht, wenn er eine langsame Umstellung auf Freiwilligkeit bei Steuern fordert? Wir wollen im Folgenden einen Blick hinter die Idee der Steuer und ihre Entstehung sowie die aktuellen Methoden werfen, ehe wir uns der Frage widmen, ob wir das eigentlich brauchen oder ob es nicht bessere Methoden gäbe.
Abgaben an das Staatswesen gibt es, seit die Menschen sich zu Gesellschaften zusammenschließen. Steuern allerdings sind abstrakter als etwa das Aufteilen der Jagdbeute oder das Abgeben des Zehnten von der eigenen Ernte. Sie erfordern Geld, und damit auch die Verbreitung von Geld, sowie das Vorhandensein einer Bürokratie und klaren Regeln. Diese Bedingungen waren nach dem Untergang des Römischen Reiches in weiten Teilen dessen, was heute Deutschland ist, erst mit der Verstädterung gegeben. Steuern dienten damals hauptsächlich der Finanzierung der herrschaftlichen Aufgaben, will heißen: der Repräsentation nach außen (der Hofhaltung) und der Aufrechterhaltung der Sicherheit, eine Aufgabe, die hauptsächlich durch die Armee geleistet wurde. Die Vorstellung, dass der Souverän andere Aufgaben mit dem Steuergeld durchführen könnte kam erst allmählich auf. Der Burgenbau beispielsweise wurde eher durch Abgaben denn durch Steuern finanziert, während die Infrastrukturprojekte der frühen Neuzeit bereits auf die Steuerfinanzierung zurückgriffen und Arbeiter anstellten anstatt sie zu Frondiensten heranzuziehen.
Überhaupt sah die Neuzeit einen Wandel der Abgabenform von den Naturalabgaben und Frondiensten hin zu Abgaben in Form von Geld, weil die Staatswesen größer wurden und mit den alten Abgabeformen nicht mehr zu arbeiten in der Lage waren. Der alte ritterliche Lehensnehmer lebte ja noch direkt vom Zehnten der Abgabeeträge und nutzte die Arbeitskraft seiner Leibeigenen, aber die Entstehung größerer Staatswesen wie etwa des französischen Königreichs machte dies unmöglich. Mit der Notwendigkeit von Geldzahlungen wuchs automatisch auch die Verbreitung von Geld und damit von Handel (schließlich mussten die Bauern ihre früheren Naturalabgaben nun zu Geld machen), und dies wiederum sorgte für die Notwendigkeit von Infrastruktur. So entstand ein Kreislauf, der zu einer immer feineren Ausdifferenzierung von Bürokratie, Staat, Wirtschaft und ultimativ dem Steuersystem führte.
Praktisch gleichzeitig zeigen sich bereits erste Ausprägungen der sozialen Frage, die mit Steuern verbunden ist: sowohl Klerus als auch Adel schafften es, sich der meisten Steuern und Abgaben zu entledigen, so dass die Last des Staatswesens auf den Schultern des Dritten Standes lag - einer der Hauptauslöser für die Französische Revolution und die Folgeverwerfungen, die zur Entmachtung zuerst des Klerus' und dann des Adels im 19. Jahrhundert führten. Es war auch die Französische Revolution, die die Idee eines aktiv steuernden Staats erstmals praktisch umzusetzen versuchte, eines Staates also, der seine Steuern nicht nur zur Aufrechterhaltung von Status und Sicherheit seiner selbst nutzte, sondern aktiv zum Nutzen der Bürger einsetzte. Dazu gehört auch - wieder zeigt sich die soziale Ausprägung - ein progressives Steuersystem, das jene mehr belastet, die mehr haben und so für eine gerechtere Verteilung der Lasten sorgt.
Es waren die Nationalstaaten, die sich im 19. Jahrhundert konstituierten, die das System zur vollständigen Ausreifung brachten und fein verästelte Bürokratien schufen, die Steuern aus vielen Quellen einzogen - ein Nebeneffekt des Umstiegs von der pauschalen Kopfsteuer auf progressive und ausdifferenzierte Steuersysteme - und an mindestens ebenso viele Quellen wieder verteilten. Steuern dienen seither nicht mehr allein der Finanzierung hoheitlicher Aufgaben, sondern sind auch ein aktives Steuerungsmittel von Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sind tatsächlich mithin eines der besten Steuerungsmittel, das dem Staat zur Verfügung steht, indem er Anreize oder Hürden in Form von Steuererleichterungen oder Sondersteuern setzt und so bestimmte Industrien oder Verhaltensweisen fördert - die Subventionen für den Agrarsektor oder das Ehegatten-Splitting sind nur zwei besonders sichtbare Ausdrücke dieser Steuerungsmöglichkeit.
Inzwischen gibt es die Diskussion, Steuern auf transnationaler Ebene zu erheben, etwa durch die EU oder gar gleich durch die UNO, die dann zur Finanzierung von Aufgaben herangezogen werden sollen, die sich einem nationalen Zugriff entziehen. Wenn man den Vergleich etwa dehnt kann man dies durchaus mit der frühen Neuzeit vergleichen: ohne eigenes Budget ist ein effektives Arbeiten kaum möglich. Die transnationalen Organisationen sind derzeit von freiwilligen Gaben der Nationalstaaten abhängig, gegen deren Willen sie keine Initiativen durchführen können. Es ist anzunehmen, dass das Schaffen eigener Geldquellen für diese Organisationen dazu führen würde, dass sie mehr Aufgaben übernehmen und die Nationalstaaten an Bedeutung hinter sich lassen - ganz so, wie die Adeligen in der Neuzeit mehr und mehr Kompetenzen an den neuen, finanziell potenten Staat verloren (zumindest wenn man nicht im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation lebte).
Bevor wir in die versprochene Argumentation einsteigen, die erklärt, wozu wir eigentlich Steuern benötigen, sollten wir uns noch einmal Gegenargumente ansehen. Es gibt effektiv zwei Hauptargumentationslinien, die gegen hohe Steuern argumentieren. Ich will sie die FDP-Linie und die Republikaner-Linie (von der amerikanischen Republican Party) nennen, weil diese beiden Parteien öffentlich sichtbare Vertreter dieser Linien sind.
Vereinfachte Darstellung der Laffer-Kurve
Die FDP-Linie verläuft effektiv entlang der Argumentationsroute, dass niedrigere Steuern das Wachstum anregen und auf diese Art und Weise zu gleich hohen oder sogar höheren Erträgen für den Staat führen; beispielhaft wurde dies in den 1980er Jahren von dem Ökonomen Laffer - einem Reagan-Berater - anhand der berühmten Laffer-Kurve deutlich gemacht. Demnach sorgen zu hohe Steuersätze dafür, dass Wirtschaftstätigkeit zum Erliegen kommt, weil jeder Anreiz dafür wegen der hohen Abgaben zum Erliegen kommt. Weniger häufig wird darauf verwiesen, dass dies auch für zu niedrige Sätze gilt, bei denen der Staat so wenig einnimmt, dass er seinen Aufgaben nicht mehr nachkommen kann, was ultimativ ebenfalls zu einem Niedergang der Wirtschaftstätigkeit führen dürfte. Die prinzipielle Richtigkeit dieses Ansatzes ergibt sich jedem, der ein bisschen logisch denken kann. Das Problem bei dem Konzept ist den Punkt zu finden, an dem die Steuern genau die richtige Höhe haben (und nein, er liegt nicht bei 50%, wie diese vereinfacht symmetrische Darstellung zu implizieren scheint). Die FDP-Linie diskreditiert sich dieser Tage stark selbst, weil sie zur Legitimierung einer reinen Klientelpolitik benutzt wird, die in niedrigen Steuern ein Allheilmittel sieht und sie allen zugesteht, die vorher eine Parteispende geleistet haben.Die Republikaner-Linie dagegen argumentiert eher moralisch. Sie ist in den USA unglaublich beliebt (und spielt bei uns praktisch keine Rolle) und ein Hauptgrund dafür, dass die Amerikaner heute noch kein funktionsfähiges Gesundheitssystem haben. Vereinfacht gesprochen behaupten die Republikaner, dass der Staat nicht so gut mit dem Geld umgehen könnte wie die Bürger, die selbst am besten wüssten, wofür sie ihr Geld einsetzen wollen. Das erstreckt sich beispielsweise auf Bereiche wie Entwicklungshilfe, Klimaschutz und Ähnliches, aber auch das Schulsystem oder eben die Gesundheitsversorgung. Obwohl die Argumentation des Wirtschaftswachstums auch hier verwendet wird, ist den Republikanern immer der Punkt wichtig, dass dies den kleinen Unternehmen helfen würde (obwohl sie natürlich wie die FDP auch hauptsächlich große Konzerne verwöhnen). Das erklärt sich aus dem spezifischen Gründungsmythos der USA, denn letztlich brach die amerikanische Revolution aus, weil die Kolonisten keine Steuern bezahlen wollten (vgl. hier). Noch heute kann man deswegen mit Argumentieren gegen Steuern des Bundesstaats eine spezifische Saite der Amerikaner zum Klingen bringen, die hierzulande völlig stumm bleibt. Denn in Europa ist die Notwendigkeit bundesstaatlicher Steuern generell anerkannt. Zwar ächzt man unter der Last und wünscht, dass sie einen anderen treffen würde, die Legitimation von Steuern selbst ist aber nie angezweifelt. Das unterscheidet Europa deutlich von den USA, wo immer wieder ernsthaft das Recht des Staates auf Steuern überhaupt bestritten wird. So weit geht nicht einmal die FDP; diese möchte lediglich ihre eigenen Leute von Steuern befreien.
Ich bin der Überzeugung, dass Steuern und Abgaben eine notwendige Angelegenheit sind. Ich gebe ja zu, ich zahle sie auch nicht gern. Das tut denke ich niemand. Aber die Konsequenz aus ihrer Abschaffung ist zu deutlich, um die Alternative ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Allein die Vorstellung der Abschaffung der Lehrmittelfreiheit beispielsweise ist erschreckend. Sie würde den Bürgern vielleicht 50 Euro im Jahr an Steuern sparen, aber jeder, der Kinder auf der Schule hat, könnte diesen Betrag dann monatlich selbst bezahlen. Oder denken wir an Autobahnen; hohe Mautgebühren wären notwendig, um diese privat zu bauen und zu betreiben - wenn es überhaupt rentabel wäre. Ohne Steuern hätten wir vermutlich keinen Kilometer Straße gebaut. Ohne Steuern hätte die Eisenbahn nie den Wilden Westen erobert. Und ohne Steuern gäb es weder Polizei noch Feuerwehr.
Steuern sind ein Mittel der Umverteilung von Wohlstand. Das ist ein Fakt. Es ist dem spezifischen Kurs des Diskurses der letzten 30 Jahre zu verdanken, dass dies als ein rein negativ zu bewertendes Fakt in der Gleichung auftaucht. Umverteilung hat einen negativen Klang, obwohl die Zahl der Profiteure deutlich höher sein dürfte als derer, die darunter leiden, und selbst die "Netto-Zahler" profitieren mittelbar durch eine gestiegene Stabilität des Systems. Ein Staatswesen nämlich, dass sehr geringe Steuern erheben würde, könnte für die Sicherheit seiner Bürger gar nicht mehr garantieren. Wer Geld hätte, müsste sich einmauern, private Sicherheitsdienste heuern und so weiter. Chaos und Anarchie wären die Folge - kaum das Umfeld, in dem man tatsächlich leben möchte. Die steuerliche Umverteilung ist der Alternative also jederzeit vorzuziehen.
Steuerliche Umverteilung sorgt außerdem für eine Garantie der Marktwirtschaft, so paradox sich das auf den ersten Blick auch anhören mag. Ohne Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer und ähnliche Vehikel akumuliert der Reichtum allzu schnell in den Händen einer winzigen Gruppe. Das aber verhindert Wettbewerb, der ja - wir erfahren es aus allen Sonntagsreden - der Motor des marktwirtschaftlichen Wohlstands ist. Ein aktiver, ins Wirtschaftsleben eingreifender Staat ist die Vorbedigung für eine Marktwirtschaft, und das beste Steuermittel des Staates sind Steuern (die semantische Überschneidung ist kein Zufall!). Die direkte Übernahme der Wirtschaft durch den Staat ist, da haben die Neoliberalen durchaus Recht, in den meisten Fällen (die unteilbaren Güter wie Energie, Wasser, Infrastruktur einmal ausgenommen) weniger effektiv als eine marktwirtschaftliche, durch Wettbewerb gekennzeichnete, vorausgesetzt, dieser Wettbewerb findet statt.
Genau das ist das absurde an der Linie der FDP. Sie tritt für offiziell für Marktwirtschaft und Wettbewerb ein und tut mit ihrer Steuerpolitik doch alles, um ihn abzuschaffen. Steuern sind das Mittel, mit dem der Staat die Stabilität und Gerechtigkeit einer Gesellschaft durch aktive Steuerung und Umverteilung bewerkstelligen kann. Steuern sind das Gegenstück zum Wettbewerb der Wirtschaft. Beide können ohne einander nicht sein. Wir müssen deswegen überlegen, wie wir in Zukunft unser Steuersystem gestalten wollen - gestalten, nicht abschaffen und verkrüppeln.
Dazu ist es zum Einen notwendig, eine echte progressive Besteuerung durchzuführen, die nicht wie derzeit die Mittelschicht überproportional belastet (dass der Spitzensteuersatz bereits ab einem Jahreseinkommen von rund 53.000 Euro greift ist einfach lächerlich). Dazu ist es zum anderen notwendig, steuerliche Anreize aktiv zu setzen, indem beispielsweise regenerative Energiequellen Steuerboni genießen. Dazu ist es vermutlich auch notwendig, supranationalen Institutionen endlich ihre eigenen Steuern zu geben, damit diese mit eigenem Budget operieren und endlich große Aufgaben wie Umweltschutz oder Steuerung internationaler Finanzströme in Angriff nehmen können. Dazu aber müssen wir uns von der Vorstellung befreien, Steuern würden in einem schwarzen Loch eines gesichtslosen Molochs "Staat" verschwinden. Staat sind wir alle, und Steuern dienen dazu, unser eigenes Leben zu gestalten.
Bildnachweise:Laffer-Kurve - Vanessaezekowitz (GNU 1.2)