Von Stefan Sasse Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit Religion und Glaube.
Religion und Glaube begleiten den Menschen gewissermaßen seit Anbeginn seiner Zivilisation. Bestattungsriten gehören mit zu den ersten Zeugnissen der Höhlenmenschen, die in der Bemalung ihrer Wände wohl erfolgreiche Jagden zu beschwören suchten. Wo immer der Glaube auftrat, folgte ihm die Religion auf dem Fuße. Bereits die Höhlenmenschen kannten wohl Priester irgendwelcher Art, die die Riten vollführten und eine "offizielle Quelle" für Omen und Ähnliches waren. Beide Phänomene sind dabei aber nicht wesensgleich; Religion und Glaube sind zu trennen. Der Glaube hat zu allen Zeiten wenig Schaden angerichtet, er ist gewissermaßen eine private Angelegenheit. Erst wo die Religion kommt, beginnt der Ärger. Sie ist eine janusköpfige Erscheinung, gibt sie dem Menschen doch zugleich Halt und ist ihm eine Geißel.
Ich will deswegen eigentlich nur über Religionen reden, denn über Glaube lässt sich bekanntlich nicht streiten. Ich möchte aber deutlich machen, wie ich dort selbst stehe. Ich betrachte mich als Agnostiker. Ich glaube nicht an die Existenz Gottes in welcher Form auch immer und auch nicht an eine "treibende Kraft", wie auch immer man die umschreibt. Ich glaube an die Geistskraft des Menschen und seine gewaltige Fähigkeit, dieses Potential ungenutzt zu lassen. Ein Atheist bin ich nicht, denn die "glauben", dass es Gott nicht geben kann. Ich würde mich vom Gegenteil durchaus überzeugen lassen. Darin aber bin ich wohl mit den meisten Menschen d'accord, die sich eigentlich als Atheisten bezeichnen. Echte Atheisten sind genauso alberne Eiferer wie Fundamentalisten aller Couleur.
Nun aber zu den Religionen. Die meisten von ihnen sind zersplittert in Richtungen und Auslegungsgruppen, etwa wie im Islam die Shiiten und Sunniten oder im Christentum die Protestanten und Katholiken (von denen erstere noch unendlich viel weiter zersplittert sind). Es gibt nur wenige, und diese sind auf der ganzen Welt stark verbreitet ("Weltreligionen"). Das sind das Christentum und der Islam; oft wird noch das Judentum hinzugezählt, das zwar nicht in der Zahl der Anhänger mit den anderen beiden mithalten können, aber doch in der Verbreitung. In der Zahl der Anhänger sind die großen fernöstlichen Religionen wie Buddhismus, Hinduismus und Shintoismus ebenfalls beachtlich, nicht jedoch so sehr in der geographischen Verbreitung.
Die beiden Religionen, die in der Öffentlichkeit wohl die plakativste Wirkung besitzen, sind Katholizismus und Islam. Die katholische Kirche ist gewissermaßen der Inbegriff einer organisierten Religion und als einzige Religion weltweit verfügt sie über ein einheitliches, organisatorisches Netz mit klarer Hierarchie und verbindlicher oberster interpretatorischer Instanz (der Papst und sein Recht ein Dogma auszusprechen). Mit ihren Ritualen und der Einheitlichkeit hat sie schon immer ein hervorragendes Feindbild abgegeben, ob nun Galilei seine Version des Inquisitionsprozesses zur allgemein anerkannten machen konnte, Bismarck den Kulturkampf ausrufen oder Ron Howard schlechte Bücher mit irgendwelchen Symbolspielen, die zu düsteren Geheimnissen führen schreiben konnte. Verdient hat sie das, wie ich im Artikel "Vier Irrtümer über das Mittelalter" dargestellt hat, nur teilweise.
Es gehört vermutlich zur Janusköpfigkeit der Religionen, dass sie Gutes und Schlechtes getan haben, dass in ihrem Namen Verbrechen ebenso wie große Taten begangen wurden. Eine einheitliche Verdammung ist deswegen schwierig. Auf dem Sündenkonto der christlichen Religionen finden sich die frühen Heidenausrottungen in Mittel- und Osteuropa, die Kreuzzüge, die Religionskriege und die Conquista in Amerika, auf das des Islam sind deren eigene brutale Bruderkämpfe, blutige Missionierungen in Europa und Asien und der aktuelle Terrorismus gebucht. Wer ohne Sünde ist, kann hier den ersten Stein werfen. Andererseits haben die Religionen aber auch Einiges vollbracht. Nicht nur stellten sie eine rudimentäre Armenversorgung, bevor der Staat diese Aufgabe übernahm (falls er es tat). Oftmals wirkten sie auch als Zentren kulturellen und intellektuellen Lebens, waren Förderer von Wissenschaft und Kultur.
Doch die meisten dieser Aufgaben hat inzwischen der laizistische Staat übernommen. Die Armenversorgung ist ein zentrales Aufgabengebiet des Staates, hinzugekommen ist sogar noch die Prävention. Vor 150 Jahren, also einem historischen Katzensprung, war das noch undenkbar. Genauso bringt man heute die Religionen kaum mehr mit Kultur und Wissenschaft in Verbindung. Was sie heute noch Gutes tun beschränkt sich auf die Seelsorge. Dagegen steht aber eine rapide steigende Zahl von Taten, die man nicht gut heißen kann. Wenn etwa die katholische Kirche die Verbreitung von Kondomen behindert, wo sie nur kann, und das besonders und bei vollem Bewusstsein in Gebieten, in denen AIDS grassiert, der Bildungsstand niedrig ist und internationale Hilfsorganisationen versuchen, durch Verhütung Ansteckungen zu vermeiden, dann ist das praktisch auf einer Stufe mit den Bekehrungen mit Feuer und Schwert, die man an den Indios in der Conquista vollführt hat.
Wenn es nach den Kirchen ginge, so würden Inhalte an der Schule wieder stärker an das "christliche Weltbild" geknüpft, was auch immer das heißen mag - von einer Definition sieht man ja wohlweislich ab. Die Gefährdung, die derzeit von den Religionen ausgeht, ist massiv. Das beschränkt sich nicht nur auf den Islam, der wegen seiner Zersplitterung und der aufgeheizten Lage im Nahen Osten wohl nicht einmal zur Friedensstiftung in der Lage wäre, wenn er denn wöllte - die christlichen wie auch die jüdische Religion sind ganz massiv dabei. So ist die Machtposition der ultraorthodoxen Juden in Israel, ihre religiös unterfütterten Siedlungsprojekte und ihre Versuche, einen araberfreien Gottesstaat zu schaffen, sicherlich nicht zum Friedensstiften angetan. Die katholische Kirche hat unter Benedikt XVI. eine reaktionäre Wendung genommen, die ihresgleichen sucht und ist in Verhaltensmuster der Kirchenpolitik des 19. Jahrhunderts zurückgefallen. Unter dem Einfluss radikaler Evangeliker ist in den USA eine Strömung an die Macht gekommen, der Bush und die Geistesverwandten der Tea-Party-Bewegung ihren Aufstieg verdanken und die auch in Europa eine immer stärkere Stellung erobern.
Während sich die Religionen untereinander gerne bis aufs Messer bekämpfen, als würde man sich noch im Dreißigjährigen Krieg befinden, sind sie sich in dem Ziel einig, die Trennung von Staat und Kirche und den in Europa fortgeschrittenen Laizismus in Europa zurückzudrängen. Nichts missfällt den Moralheuchlern in allen Religionen so sehr wie die Liberalisierung Europas, die sexuelle Revolution und der non-existente Einfluss der Kirchen. Selbst in Deutschland, wo die beiden christlichen Amtskirchen massiv vom Staat mit Steuergeldern auf Kosten aller und zum Schaden anderer Religionen unterstützt werden, haben sie kaum mehr Einfluss. Es geht weniger um Sachfragen wie den Nutzen des Kondoms; der ist nur Ausdruck des Betons, den sich die Kirchenvertreter auf den Kopf gekippt haben. Es ist eine Frage der Macht und Deutungshoheit. Die Religionen wollen wieder selbst bestimmen können, was Recht und Unrecht ist, die Macht darüber besitzen und so an vergangene Zeiten anknüpfen. Das gilt es zu verhindern.