Mal was grundsätzliches...zu Migration und Integration

Von Stefan Sasse
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit Migration und Integration.
Die Beziehung der Deutschen zu Migration und Integration ist eine sehr zwiespältige, von Ressentiments und Fehlinformationen stark überlagerte. Seit einigen Jahren existiert eine Dauerdebatte zum Thema "Integration", wie es sie vorher nie gab, und die jederzeit zum Flächenbrand werden kann - Im Sommer 2010 bewies der Profi-Pöbler Thilo Sarrazin, dass man nur genügend Unsinn behaupten musste, um das ganze Land in Atem zu halten. Interessant ist dabei, dass diese Debatte mit der Furie eines wilden Derwischs um Diskussionsgegenstände herumrast, die eigentlich Konsens sind, währen die eigentlichen Fragen überhaupt nicht besprochen werden. Doch bevor wir uns ansehen, wie das geschehen konnte und wo unsere Probleme liegen, müssen wir uns auf einen Ausflug in die Geschichte der Migration in Deutschland machen um überhaupt verstehen zu können, wie alles zusammenhängt und woher die Probleme eigentlich kommen. Zu diesem Zweck sei dringend empfohlen, meinen Artikel zu dem Thema auf dem Geschichtsblog vorher zu lesen. So, genug der Warnungen, los geht’s!
Zuerst müssen wir uns an eine kleine Begriffsklärung machen. "Migrant" ist der neue Begriff, mit dem man das alte "Ausländer" ersetzt hat, das zuletzt eine deutlich negative Konnotation erhalten hat. Die allerdings hat der "Migrant" inzwischen ebenfalls. Sowohl Ausländer wie auch Migranten umfassen theoretisch sämtliche Einwanderer, in Wahrheit jedoch ist damit praktisch immer eine Gruppe süd- oder osteuropäischer Abstammung gemeint. Franzosen, Belgier oder Kanadier fallen genausowenig unter "Ausländer" wie Schweden oder Dänen.Es geht um die diffuse Gruppe Ausländer, die uns "fremd" wirkt, deren Anblick und ebenso Unbehagen bereitet wie ihre Sprache oder ihre Gerüche. Man kann die Existenz dieses Unbehagens nicht wegreden; die meisten Menschen werden es wohl empfinden; der Autor selbst gehört dazu. Es ist vermutlich ein allzu menschlicher Grundzug.
Die Kontakte zwischen diesen Ausländern und den Einheimischen werden oft auf ein Minimum beschränkt. Man versucht, nicht in Gegenden mit hohem Ausländeranteil zu wohnen (was zu der Ghettoisierung der Innenstädte führt), man geht in den Öffentlichen Verkehrsmitteln oder auf der Straße schnell vorüber und unternimmt alles, damit sein Kind nicht auf die Hauptschule muss, wo sich die Ausländer ballen. Auf diese Art kommt man mit der Kultur der Ausländer kaum in Berührung, die es umgekehrt bald genauso halten, sei es, weil sie die Ablehnung spüren und Annäherungsversuche unfruchtbar bleiben, sei es, weil solche Versuche gar nicht erst unternommen und die Vertrautheit des eigenen Umfelds vorgezogen wird. An dieser Stelle gibt es zwei Möglichkeiten, in die sich das weiterentwickeln kann: entweder entsteht eine Parallelgesellschaft, die praktisch keine Berührungspunkte mit dem "eigentlichen" Deutschland besitzt (und bei entsprechender Größe einzelne Bereiche wie eben die "Ghettos" so weit dominieren kann, dass sie nicht mehr als deutsch zu erkennen sind) oder aber es bleiben durch die unabwendbaren Kontakte zur Außenwelt wie Arbeit, Schule oder Bürokratie so viele Berührungspunkte bestehen, dass eine Art Mischung aus beiden Welten besteht, die sich immer mehr abschleift und durch die Mehrheitsgesellschaft langsam über mehrere Generationen geprägt wird. Trotz aller panischen Weltuntergangsszenarien ist dieses Szenario deutlich wahrscheinlicher und der Normalfall.
Zur Illustrierung dieses Gedankengangs sehen wir uns einen deutschen und zwei amerikanische Fälle an. Deutschland ist erst seit kurzem anerkanntes Einwandererland, und auch tatsächlich ist es dies nicht sehr lange (im Gegensatz etwa zu England oder besonders den USA). Im 19. Jahrhundert war eine der größten Einwanderergruppen die so genannten "Ruhrpolen", also Polen, die ins Ruhrgebiet eingewandert waren und dort arbeiteten. Sie konnten kaum deutsch und übten untergeordnete Berufe aus. Gleichzeitig bildeten sie eigene Siedlungsgebiete und sonderten sich ab, so dass bereits damals panikartige Szenarien von der Majorisierung durch die geburtenstarken, fremden Polen in Umlauf waren. Heute erinnern nur einige Nachnamen im Ruhrgebiet noch an diese Gruppe, sie ist praktisch vollständig assimiliert. Ebenfalls im 19. Jahrhundert war in den USA eine aggressive Stimmung gegenüber irischen Einwanderern entstanden. Ebenso wie die Ruhrpolen waren sie traditionell katholisch, was damals in den protestantisch geprägten Gegenden genauso fremd erschien wie uns heute der Islam. Auch sie hatten ihre eigenen Siedlungen, sprachen noch mit gälisch eine fremde Sprache (obgleich sie meist natürlich auch Englisch konnten, wiewohl mit starkem Akzent) und wurden immer mehr. Heute sind die Iren kein Problem mehr. Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts stilisierte man in Amerika dann die Einwanderung von Osteuropäern zur Gefahr für den American Way of Life, die gar kein Englisch beherrschten, häufig orthodox und damit noch fremder waren. Heute erinnern nur noch entsprechende Nachnamen an sie.
Keine dieser Assimilierungen ging von jetzt auf nachher. Sie nahm mehrere Generationen in Anspruch, und sie war jedes Mal von starken Abwehrreaktionen der Etablierten begleitet. Am Ende erwies sich aber jedes Mal die Ursprungsgesellschaft als stärker und löste die Einwandererkultur größtenteils auf. Von den italienischen Gastarbeitern haben wir die Pizzerien übernommen - sonst ist spezifisch italienisches nichts auf die Gesellschaft überkommen. Wahrscheinlich wird uns von den Türken kulturell einmal nicht viel mehr als Dönerbuden bleiben.
Natürlich ist es einfach, auf diese Art und Weise mögliche Gefahren einfach beiseite zu stellen. Es ist tatsächlich möglich, dass es zu Gewalt und Ausschreitungen kommt. Die Ausschreitungen in New York in den 1860er Jahren, die zu regelrechten Straßenschlachten führten die erst vom Militär niedergeschlagen wurden (sehr schön in Martin Scorseses "Gangs of New York" verfilmt), sind ein Beispiel dafür. Wenn eine Parallelgesellschaft in ihren eigenen Ghettos erst einmal groß genug ist kann sie außerdem effektiv autark werden, indem alle lebensnotwendigen Bereiche von Migranten abgedeckt werden und der Kontakt mit der deutschen Außenwelt sich damit auf ein absolutes Minimum beschränkt, wahrscheinlich unter Vermittlung einiger weniger deutschsprechender Migranten. Dieses Szenario allerdings ist eines, das zwei Seiten besitzt. Ausschreitungen und Gewalt im Migrationskontext gehen oftmals eher von seiten der Einheimischen aus als von den Migranten selbst. Wenn diese sich dann aber alleine und schutzlos fühlen (angesichts der stark deutsch gesprägten Sicherheitsdienste ein zu erwartendes Gefühl) könnte dies zu einer Art schnellen Gewaltspirale führen.
Ich halte es jedoch für unwahrscheinlich, dass dies geschieht. Nicht nur ist die Zahl der Migranten insgesamt lange nicht so hoch, wie der hysterische Diskurs Glauben machen könnte; sie liegt noch immer deutlich unter 10% der Gesamtbevölkerung. Von diesen Migranten ist außerdem wiederum nur ein Bruchteil überhaupt in einer Lage, die eine solche Absonderung wahrscheinlich machen würde, ein Faktum, das nicht einmal die schärfsten Apologeten der Debatte leugnen. Eine so kleine Gruppe ist aber gar nicht in der Lage, sich autark abzusondern; sie ist zu Kontakt mit Deutschen oder anderen Migranten gezwungen. Die Vorstellung, dass alle Migranten eine homogene Gruppe seien, die eine gemeinsame, koordinierte Abgrenzungspolitik gegenüber den Deutschen durchführen könnten, ist so absurd, dass niemand sie ernsthaft diskutiert. Selbst aber die Gruppe der Migranten muslimischer Konfession aber ist so heterogen, dass ein gemeinsames Vorgehen kaum möglich erscheint.
Interessanterweise sind gerade die plakativsten Vertreter der Migrantenkultur, die die stärkste Ablehnung hevorrufen und an die man reflexartig denkt, wenn die Debatte darauf kommt, am allerwenigsten in der Gefahr, eine solche Gesellschaft aufzubauen: es sind die Jugendgangs, die ständig die Schlagzeilen der BILD beherrschen und Roland Koch die Munition für seinen Wahlkampf 2008 gaben, die "kriminellen Jugendlichen". Diese Gangs mit ihrem oft aggressiv nach außen getragenen Machoismus, der offensiven Religiosität und der beständigen Konfliktbereitschaft haben mit der Kultur ihrer Ursprungsländer, die sie oft genug allenfalls auf Urlaub gesehen haben, überhaupt nichts zu tun. Ihre Kultur ist eine Jugendkultur, eine Unterschichtenkultur, die sich mit wenigen Anpassungen auch unter Deutschen findet. Sie entspringt ihrer sozialen Lage, nicht ihrem Migrationshintergrund. Der ist nur das Gewürz in dem unappetittlichen Cocktail. Jugendgangs wie diese wollen provozieren und sich abgrenzen, immer schon. In den 1960er Jahren riefen die Hippies ähnliche Abwehrgefühle hervor wie heute die "Lans", die sich mit durchaus feinsinniger Klugheit oftmals das Schimpfwort von den "Kanacken" als Eigenbezeichnung übernommen haben, so dass es sie nicht mehr treffen kann. Ihnen ist klar, dass sie mit ihrem rückwärtsgewandten Machoismus effektiv Abgrenzung in einer sich als liberal und tolerant gebenden Gesellschaft betreiben können, ebenso wie die langen Haare der Hippies das in der Wirtschaftswunder-Konformität der Bürgerlichkeit in den 1960er Jahren taten. Wenn man dieses Phänomen bekämpfen will, muss man das unter sozialen Gesichtspunkten tun, nicht unter solchen der Integration. Wenn sich für diese Jugendlichen andere Perspektiven als die Straße öffnen, dann verschwinden auch ihre Gangs.
Was aber ist dann Integration? Eingangs habe ich festgestellt, dass um diesen Begriff eine Art Derwischtanz verübt wird und eine hysterische Debatte um einen Konsens geführt wird. Ich will das näher erläutern. Zwei elementare Punkte prägen die Integrationsdebatte: "die" sollen gefälligst deutsch lernen und "die" sollen sich an unsere Gesetze halten. Der Charme hinter diesen Forderungen ist, dass niemand dagegen argumentieren kann (daher auch die beständig hohen Zustimmungsraten für Brandstifter wie Thilo Sarrazin). Nur, dagegen argumentiert auch keiner. Es ist absolut Konsens, dass Menschen die hier leben auch die Sprache des Landes sprechen sollten; dass sie sich an die bestehenden Gesetze halten ist ohnehin klar. Es wird allerdings beständig so getan, als ob es sich hier um "unangenehme Wahrheiten" handle, die niemand aussprechen wolle. Im Windschatten dieser Trivialitäten können die Brandstifter dann immer noch allen möglichen anderen Unfug mitnehmen, wie etwa der Vulgär-Biologismus Sarrazins. Das eine hat mit dem anderen allerdings nichts zu tun. Integration ist überhaupt nicht definiert. Als Ziel wird sie beständig genannt, ohne dass jemals erklärt wurde, wann es eigentlich erreicht ist. Das ist bemerkenswert. Die oben genannten Konsens-Kategorien taugen als Ziel offenkundig nicht. Die Hamburger Attentäter von 9/11 sprachen perfektes Deutsch, studierten an der Universität und hielten sich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzungen. Nach den gängigen Maßstäben der Debatte waren sie perfekt integriert; allein, dass sie Flugzeuge ins World Trade Center steuerten beweist wie unzureichend diese Kategorien sind.
Der zweite Grundfehler der ganzen Debatte neben der unzureichenden Definition von "Integration" ist, den Prozess als Einbahnstraße zu begreifen. "Die" haben sich gefälligst zu integrieren, wobei damit oftmals die direkte Assimilation, die faktische Selbstauflösung, gemeint ist. Das aber ist verlogen. Der typische bayrische Kleinbürger, der beständig mit lauter Stimme am Stammtisch die Forderung nach "Integration" erhebt, würde nämlich auch dann nicht gerne seine Tochter mit Ali dem Türken verheiraten, wenn Ali perfektes Deutsch mit dem örtlichen Akzent sprechen, Weißbier trinken und Weißwurst essen und Lederhosen tragen würde. Man sollte sich hüten, diesen Instinkt pauschal zu verurteilen oder gar zu verleugnen. Er ist natürlich und er ist menschlich. Die Frage ist, wie man von diesem Instinkt aus weitergeht. Integration kann nicht erreicht werden, solange dieser Instinkt noch virulent vorhanden ist, und derzeit ist er das ohne Zweifel. Allein großer Erfolg macht Ausländer derzeit sozial gesellschaftsfähig, sei es als Vorstände oder Spitzenpolitiker. Aber diesen Weg können nur wenige gehen.
Dies ist ein Plädoyer für Geduld. Wir sollten die Hysterie aus der Debatte nehmen. Aus den oben genannten Gründen ist die Gefahr einer militanten Parallelgesellschaft auf kultureller Unterwanderungsmission deutlich überschaubar. Das Integrationsproblem ist zu großen Teilen ein soziales Problem. Wo Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit regiert, fällt Abgrenzungssucht und Gewaltbereitschaft auf fruchtbaren Boden. Wäre die Arbeitslosigkeit kein solches Problem, würden viele der ausländischen Jugendlichen, die heute den braven Bürger auf der Straße verschrecken, vermutlich eine Lehre machen und ein relativ normales Leben führen wie Millionen Deutscher auch. Der deutsche Lebensstil - tagsüber arbeiten, Wohnung sauber halten, samstags Auto waschen, Sonntags Verwandte besuchen - würde sich fast automatisch einstellen, wie er dies auch mit anderen Migrantengruppen wie den Ruhrpolen getan hat. Gleichzeitig muss einfach völlig eindeutig klar gemacht werden, dass der Boden des Grundgesetzes von niemandem verlassen wird. Man braucht überhaupt keine Diskussion darüber anfangen, ob Ehrenmorde, Zwangsheiraten und Unterdrückung der Frau zu dieser oder jener Kultur gehören (was sie oftmals ohnehin nicht tun) - sie sind in Deutschland verboten, Punkt aus Ende. Das gleiche gilt für die deutsche Sprache. Die Amtssprache in Deutschland ist Deutsch, sie wird an den Schulen und auf den Ämtern gesprochen. Wenn man das durchzieht und einfach bestehende Gesetze achtet reicht das völlig aus. Aber die Debatte gibt es ständig und immer, seien es die in Preußen einwandernden Hugenotten des 17. Jahrhunderts oder die türkischen Einwanderer im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Sie gehören zur Gesellschaft wohl irgendwie dazu, und sie werden einfach durch ein jeweils anderes Subjekt abgelöst, sobald sich eines auftut. 
Links: Wanderungen in Deutschland (Statistisches Bundesamt) Kalkulierter Irrtum (FTD) Zurück ins Vorgestern (Zeit) Heinz Kühn statt Sarrazin (Weißgarnix)Man muss nur "spanisch" durch "türkisch" ersetzen (Welt)Integriert euch! (Freitag)

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