Von Stefan Sasse
Den Oeffinger Freidenker gibt es nun seit über vier Jahren. Viele Themen wurden bereits mehrfach in unterschiedlichen Beiträgen behandelt, so dass es dem Autor oftmals unnötig erscheint, bestimmte Anspielungen oder Einstellungen näher zu erläutern. Seit 2006 hat sich die Leserschaft jedoch stark vergrößert, und für die, die neu dazugekommen sind, mag nicht immer alles sofort klar sein, was der Oeffinger Freidenker schreibt. Die neue Serie "Mal was grundsätzliches…" soll diese Lücke schließen, in dem noch einmal eine Zusammenfassung zu bestimmten Themen gegeben wird. Diese Folge befasst sich mit der Agenda 2010.
Als Schröder 2003 die Agenda2010 zur Bekämpfung der immer größer werdenden Arbeitslosigkeit verkündete, war diese zuvor bereits in enger Kooperation mit wirtschaftsnahen Kräften - vorrangig dem später namensgebenden Manager Hartz - und den damals oppositionellen Unionsparteien durchgesprochen worden. Durchgesetzt werden musste sie, das war klar, vorrangig gegen die eigene Partei. Die SPD besaß einen großen Bestand an Arbeitnehmertradition, mit der sich die Agenda kaum vertrug. Wir wissen, dass Schröder dies gelungen ist, und die Partei hat einen entsetzlichen Preis dafür bezahlt. Die Ziele der Agenda waren auf zwei Ebenen positioniert. Die erste Ebene ist die lokalen Ebene, auf der einerseits Wiedereingliederungsmaßnahmen und Selbstständigkeitsförderung Arbeitslosen helfen sollte, erneut eine Stelle zu finden, und auf der auch durch die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosengeld endlich die Diskriminierung der Sozialhilfempfänger abgeschafft werden sollte. Die zweite, globale Ebene, sah ein Aufbrechen der korporativen Arbeitswelt vor (nachdem der juristische Bruch mit der Steuerfreistellung von Gewinnen aus Unternehmensveräußerungen vollzogen werden sollte), also die Schaffung eines großen Niedriglohnsektors und dadurch Reduzierung der Arbeitslosigkeit. Akzeptiert man diese Zielsetzungen, kann die Agenda trotz Niederlagen in Teilbereichen - vor allem bei den Fördermaßnahmen Hartz I-III - als Erfolg bezeichnen.
Tatsächlich ist die nominelle, also von der Agentur für Arbeit gemessene, Arbeitslosigkeit von deutlich über fünf Millionen auf unter drei Millionen gesunken. Von Sozialhilfeempfängern redet niemand mehr, und der Niedriglohnsektor beschäftigt inzwischen mit steigender Tendenz über sieben Millionen Menschen. Trotzdem ist der Unmut über die Agenda und die mit ihr verbundene Politik in den letzten Jahren immer weiter angestiegen, und eine wachsende Minderheit innerhalb ihrer Mutterpartei SPD wünscht sich den Bruch. Die Frage, die man sich bei der Bewertung der Agenda2010 stellt muss also nicht lauten, ob sie erfolgreich umgesetzt wurde. Sie muss lauten, ob die Prämissen richtig waren. Zur Erinnerung: die Prämissen sind Schaffung eines Niedriglohnsektors und Absenkung des deutschen Lohnniveaus durch Senkung der Lohnnebenkosten wie der Reallöhne, denn letztlich ist Arbeitslosigkeit in diesem Weltbild nur auf zwei Faktoren zurückzuführen: freiwillige Arbeitslosigkeit und zu hohe Kosten der Arbeit. Die Agenda erhebt den Anspruch, beides zu beheben.
Die Lohnkosten sollten vorrangig durch eine Senkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung erreicht werden, deren Charakter als Versicherung bis auf das erste Jahr der Arbeitslosigkeit quasi vollständig abgeschafft wurde. Die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe endete damit, dass alle unterschiedslos Sozialhilfe erhielten - einen fixen, kleinen Geldbetrag, der von einer ausufernden Bürokratie nach undurchsichtigen Bedürftigkeitskriterien ausgeteilt wird wie einst Brosamen an die Bettler. Hartz-IV hat den Charakter einer milden Gabe des Staates an all jene, die nicht fähig oder willens sind, für sich selbst zu sorgen. Die erwartete Kostensenkung trat allerdings nicht ein: die Vorausberechnungen waren fehlerhaft und von falschen Annahmen durchsiebt gewesen. Auf diesem Feld versagte die Agenda vollständig.
Die freiwillige Arbeitslosigkeit ist eine Prämisse, wie sie falscher kaum sein kann. Ihr wird ein überökonomisiertes Weltbild zugrundegelegt, das mit der Lebenswirklichkeit nichts zu tun hat. Demzufolge entscheiden sich Menschen nicht zu arbeiten, wenn sie erwarten können, dass die Arbeitslosenhilfe ihnen einen gewissen materiellen Lebensstandard sichert. Ist Arbeit also billig - eine Voraussetzung, die mit dem Niedriglohnsektor geschaffen wurde - kann weitere Arbeitslosigkeit nur mit der Faulheit der Arbeitslosen erklärbar bleiben. Um dieses nicht-existente Problem zu bekämpfen wurden in die Agenda-Gesetze zahlreiche Abschnitte eingebaut, die starke Repressalien beim Nicht-Annehmen von so genannter "zumutbarer" Arbeit beinhalten. Was aber "zumutbar" ist, entschieden allein die Macher des Gesetzes selbst, und sie setzten die Latte absichtlich extrem tief (selbst Prostitution ist prinzipiell zumutbar).
Die lokalen Folgen der Agenda2010 sind entsprechend: ein rapider Ansehensverlust aller, die Arbeit verloren haben, wird ihnen doch pauschal Faulheit unterstellt, und eine ebenso rapide Verschlechterung ihrer materieller Lebensbedingungen. Alle diejenigen, die Arbeit haben, stehen untern enormem Druck, diese auch zu behalten, da im Gegensatz zur früheren Arbeitslosenversicherung der soziale Absturz ins Nichts nach nur einem Jahr Arbeitslosigkeit droht, in dem der arbeitslos Gewordene auch noch von Amts wegen gezwungen ist, alle Investitionen zuerst zu verbrauchen, ehe er das Gnadenbrot erhält: von der staatlich geförderten privaten Rentenversicherung bis zum Traum der schwäbischen Hausfrau, dem eigenen Haus, muss alles versilbert und verkonsumiert werden. In Hartz-IV sind sie alle gleich; ein libertäres Egalitäts-Utopia, das einem Schauer über den Rücken jagt.
Doch diese lokalen Folgen sind vergleichsweise gut dokumentiert, und sie sind es, die Leute auf die Barrikaden bringen. Praktisch kaum ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind die globalen Folgen der Agenda, die erst langsam und Stück für Stück offenkundig werden und deren Wirkung im Gegensatz zu den brutalen Einschnitten von Hartz-IV langsam und schleichend vonstatten geht. Diese Wirkung der Agenda2010 - eine ebenfalls intendierte Wirkung - ist die vollkommene Umwandlung des wirtschaftlichen Systems der BRD. Dieses hatte seit dem Gründerkrach von 1873 einen korporatistischen Charakter, basierte auf der Kooperation anstatt der Konkurrenz etwa von Unternehmern und Gewerkschaften und kam durch die mannigfaltige Verflechtung von Aufsichtsräten und Vorständen mit anderen, artgleichen Firmen und den Branchenfinanzierenden Banken hauptsächlich dem langfristigen Stakeholder anstatt dem kurzfristigen Shareholder entgegen.
Es war die Verkrustung dieses Systems, der so genannten "Deutschland AG", die in den 1990er Jahren den Ruf nach Reformen so groß und mächtig anschwellen ließ, und es war die Regierung Kohl, die mit ihrer Entflechtung letztlich scheiterte. Es war Schröder, der den gordischen Knoten mit der Steuerfreistellung der Unternehmensveräußerungsgewinne und dem Einladen der Hedge-Fonds zerschlug, und die was diese Maßnahmen auf juristischem und betriebswirtschaftlichem Gebiet waren, sollte die Agenda volkswirtschaftlich flankieren: die gewaltige Umwälzung des Arbeitsmarkts, um den Bedürfnissen der neuen Post-Deutschland-AG-Wirtschaftswelt zu entsprechen. Die Folgen beobachten wir seit Längerem: ein rapider Ansehens- und Machtverlust der Gewerkschaften, der sich selbst mit Fusion und Konzentration nicht mehr stoppen lässt (siehe ver.di), ein Niedergang der alteingesessenen Unternehmer, deren Kapitalreserven nicht mit denen international agierender Finanzkonglomerate mithalten können, eine Konzentration auf kurzfristige Gewinne und deren Auschüttungen im Shareholder Value. Ein Arbeitsmarkt wie der vorher koporatistisch eingepflegte mit seinen bindenden Flächentarifverträgen und Schutzmechanismen stand dieser Umwandlung im Wege, und es ist diese Prämisse der Agenda2010, die man teilen muss um ihren Erfolg zu bejubeln, denn ihr folgt sie in all ihren Facetten.
Die Agenda2010 hat sich also die Umwandlung der deutschen Volkswirtschaft zum Ziel gesetzt. Sie soll stärker konkurrieren, auf jedem Feld, und international durch Senkung von Kosten standortfähig sein. Dieses Ziel zu verfolgen aber heißt, sich auf einen Irrweg zu begeben. Deutschland ist eine vollentwickelte Industrienation und wird mit seinen Löhnen niemals soweit sinken können, als dass es mit Niedriglohnländern konkurrieren könnte. Die Idee, niedrigqualifizierte Beschäftigung durch Absenkung von Regulierung und Lohnniveau im Land zu halten, Deutschland quasi analog zu afrikanischen Bananenrepubliken in eine europäische Spargelrepublik zu verwandeln, ist falsch. Was damit erreicht wurde ist, eine beispiellose Abwärtsdynamik in der gesamten EU in Bewegung zu setzen, die unsere Nachbarn zwingt, den deutschen Weg mitzugehen. Langfristig kann in diesem Spiel niemand dauerhaft Wettbewerbsvorteile sichern, es zwingt alle nur, immer weiter nach unten zu gehen, sich ständig zu unterbieten. Die Niedriglohnländer in Afrika, Asien und Südamerika dagegen werden stets billiger bleiben. Das Schlimmste aber ist, dass die gnadenlose Ökonomisierung des Alltags durch die Agenda unter diesen Prämissen eigentlich jedem echten Liberalen die Schamesröte ins Gesicht treiben müsste, denn möglich ist die Operation einzig durch massive staatliche Intervention, ja, der ganze Niedriglohnsektor hängt letztlich am Tropf des Staates. Es ist kein Zufall, dass zwar unter drei Millionen arbeitslos gemeldet sind, aber fast sieben Millionen Hartz-IV erhalten. Viele Millionen Niedriglöhner erhalten Hartz-IV oder Wohngeld als Aufstockung, weil ihre Arbeit nicht genug hergibt um über das Existenzminimum zu kommen. Letztlich sind die Lohnsenkungen also von den Steuern finanziert, die vom mühsam erarbeiteten Lohn abgehen - ein wahrhaftiger Teufelskreis, von dem sichtbar nur wenige profitieren:
Grafik von Feynsinn nach statistischem Bundesamt
Der umgekehrte Weg war ebenfalls in der Agenda2010 angelegt, im Punkt des Förderns. Die deutschen Arbeitnehmer sollten weiter qualifiziert werden, um schneller wieder Arbeit finden zu können. Dieser positive, ambitionierte Teil der Agenda ist jedoch gleichzeitig eine Geschichte großen Scheiterns. Die Ich-AGs und die Förderung von Selbstständigkeit - ein Milliardengrab und viele verkrachte Existenzen später ohne viel Aufhebens zu den Akten gelegt. Die Weiterbildungsprogramme - nur mehr eine bequeme Möglichkeit, im Rahmen der bestehenden Gesetze praktisch unendliche Statistikkosmetik zu betreiben, zählen Arbeitslose in Fortbildungsmaßnahmen doch nicht als arbeitslos. Die Ein-Euro-Jobs - vernichten mehr und mehr bestehende Arbeitsplätze und dienen der Ausbeutung und Ausgrenzung, anstatt als Durchlauferhitzer auf dem Weg zu dem nächsten Job zu diesen, dem sie eher im Weg stehen, weil die Jobber voll beschäftigt sind und sich nicht im gebotenen Maß der Jobsuche widmen können.
Die Agenda schaufelt letztlich das Loch tiefer, in dem die deutsche Wirtschaft und damit auch die deutschen Arbeitnehmer sitzen. Die Realwirtschaft wird immer weiter ausgehölt, verliert zunehmend an Boden und muss teils absurde Renditeforderungen erfüllen. Der Binnenkonsum stagniert seit Jahren und ist selbst für deutsche Verhältnisse erschreckend niedrig, weil die ständige Lohndrückerei und das stark am Existenzmininum kratzende Arbeitslosengeld II kaum Raum für Konsum lassen. Gleichzeitig gibt es angeblich einen riesigen Fachkräftemangel, der qualifizierte (und lohnsenkende) Einwanderung notwendig macht, andererseits aber einen riesigen Haufen arbeitsloser Ingenieure, die zwar viele un- oder lächerlich gering bezahlte Praktika angeboten bekommen, aber keine festen Jobs - es sei denn hunderte von Kilometern entfernt, wie vor einigen Jahren, als sich eine in Hamburg ansässige Firma über die unflexiblen schwäbischen Ingenieure echauffierte, die nicht einfach alle Zelte abbrechen und für einen Job ans andere Ende der Republik ziehen wollten.
Was nötig ist ist, um mit den Worten Köhlers zu sprechen, tatsächlich eine Agenda 2020 - die aber nicht einfach eine Agenda2010+10 ist, sondern ein echtes Programm entwirft, das die Probleme beheben kann, die sich aufgetan haben. Dazu gehört ein Rückfahren der Bevorzugung vagabundierenden Kapitals, das Unternehmen nur als schnelle Profitmaximierungsmaschinen sieht und eine Rückkehr des Stakeholder-Gedankens. Dazu gehört eine Verbesserung der Lebensstandardsicherung von Arbeitslosen, um den Konsum wenigstens auf einem Mindestniveau halten zu können. Dazu gehört eine Stärkung der Arbeitnehmerinteressen, entweder indem die Gewerkschaften wieder mehr in die aktuellen Prozesse eingebunden werden oder indem der Staat ihre Aufgabe übernimmt und mit Mindestlöhnen an die Stelle der wegfallenden Flächentarifverträge tritt. Dazu gehören Fördermaßnahmen für Arbeitslose, die den Namen auch verdienen und nicht nur der Beschäftigung und Statistikkosmetik dienen. Und ja, dazu gehören dann auch Fordermaßnahmen, denn wenn der Staat all diese Bedingungen schafft und tatsächlich echte, wirklich zumutbare Jobangebote bestehen - dann darf man auch erwarten, dass dafür gearbeitet wird, und wenn der Staat letztlich solche Stellen selbst schaffen muss, nicht als Ein-Euro-Jobs, sondern als sozialversicherungspflichtige Vollzeitstellen.