Frankfurter Buchmesse: Alle Jahre wieder gibt's den Deutschen Buchpreis
Bevor die Preisverleihung in die Zielgerade geht, möchte ich euch meinen Eindruck schildern, den ich nach dem Lesen der sehr unterschiedlichen "Häppchen" gewonnen habe.
Ohne ein paar Zahlen geht nichts
200 Titel waren vorgeschlagen worden, 20 von ihnen haben es in die engere Wahl, die Longlist, geschafft. Unter den Autoren sind 13 Männer und sieben Frauen; vermutlich hat es einfach nicht genügend Autorinnen gegeben, die gut genug schreiben können, um den erhöhten Anforderungen zu genügen und näherungsweise eine Parität herzustellen. Genug der Ironie.Der Deutsche Buchpreis wird keineswegs nur an deutsche Schriftstellerinnen und Schriftsteller verliehen, sondern die Autoren kommen aus deutschsprachigen Ländern, also neben Deutschland auch aus Österreich und der Schweiz. Von Verlagen aus diesen Ländern kamen Vorschläge für 174 Bücher, die übrigen 26 steuerte die Jury bei.
Meine Favoriten
Ich gebe zu: Fünf Seiten aus jedem Buch, die einen ersten Eindruck vermitteln sollen, sind nicht besonders viel. Geht das überhaupt? Lassen sich solche Textschnipsel in "Hopp" oder "Top" einteilen? Ich hätte es vorher nicht geglaubt ("Man muss dem Autor doch eine Chance geben, dass sich die Handlung entwickeln kann" usw.), aber ich habe tatsächlich ein paar Favoriten, die ich euch gern vorstellen möchte. Die Auswahl ist - wie kann es anders sein - an Subjektivität kaum zu überbieten. Ich habe mich dabei nur an die jeweils fünf Seiten gehalten und keine Klappentexte gelesen.- Romeo und Julia von Gerhard Falkner: Der Schriftsteller Kurt Prinzhorn reist zu einem Autorentreffen nach Innsbruck und bemerkt, dass jemand in sein Hotelzimmer eingedrungen ist. Nur ein Schlüsselbund fehlt. Was dazu gekommen ist, sind fremde lange, schwarze Haare, die in der Badewanne kleben. Im Textausschnitt wird Prinzhorn von einem Polizisten zu den Begleitumständen befragt, und es reiht sich eine Absurdität an die andere. Mehr als diese beiden Männer können Menschen kaum aneinander vorbei reden. Das Buch erscheint im September 2017 im Berlin Verlag.
- Das Floß der Medusa von Franzobel: Das Buch erzählt auf der Grundlage einer wahren Begebenheit von einem Schiffsunglück im Jahr 1816, in dessen Folge fast 150 Menschen vor der afrikanischen Küste auf einem Floß treiben. Als sie gerettet werden, sind nur noch 15 von ihnen übrig. Ihr Zustand ist erbärmlich: Sie sind bis auf die Knochen abgemagert, überwiegend apathisch und ein paar sind schlicht wahnsinnig geworden. Augenscheinlich hat sie nur der Umstand, dass sie ihre Mitreisenden nach und nach verspeist haben, vor dem sicheren Tod gerettet. Aber warum sind so viele Menschen dem Kannibalismus zum Opfer gefallen? Der Roman ist im Paul Zsolnay Verlag erschienen.
- Schau mich an, wenn ich mit dir rede! von Monika Helfer: Der Textausschnitt beginnt mit einer Szene in der U-Bahn. Die erzählende Beobachterin schildert, wie eine Mutter ihre zehn- oder elfjährige Tochter versucht, nach der neuen Freundin ihres Ex-Manns auszufragen. Das verschüchterte Kind hat keine Chance, dem selbstmitleidigen Gegreine der Mutter und deren Vorwürfen etwas entgegenzusetzen. Viele Mitfahrende sind ebenfalls unfreiwillige Zeugen des Wortwechsels, doch es ergreift niemand Partei für das überforderte Kind. Der Textausschnitt ist so authentisch geschrieben, als säße man direkt neben den beiden. Die Frau hat sich augenscheinlich bereits aufgegeben, weil ihr Leben nicht so verlaufen ist, wie sie es sich erträumt hat. Der Roman ist im Jung und Jung Verlag erschienen.
- Schreckliche Gewalten von Jakob Nolte: Die Zwillinge Edvard und Iselin werden 1953 geboren und wachsen die ersten 20 Jahre ihres Lebens in einem Elternhaus auf, in dem Gefühlsäußerungen nicht vorkommen oder unterdrückt werden. Der Vater, ein Arzt, konnte zwei seiner Söhne nicht retten: Sie starben trotz seiner Bemühungen an Tuberkulose. Aber es wird nicht darüber gesprochen, die Trauer findet hinter geschlossenen Türen statt. Doch dann scheint die Atmosphäre überzukochen: Die Mutter tötet den Vater 1973 offenbar im Affekt, und ihre beiden Kinder erleben sie im Krankenbett des Gefängniskrankenhauses in einer Gemütsverfassung, die zwischen Reue, Verwirrung und Wahnsinn schwankt. Das Buch ist im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienen.
- Außer sich von Sasha Marianna Salzmann: Der in Deutschland lebende Ich-Erzähler fährt mit seinem Vater und seiner Schwester zu den Großeltern nach Moskau. Die Drei sind mit Geschenken aus West-Produktion beladen und freuen sich darauf, in Moskau auch die alten Freunde wiederzusehen. Aber der Erzähler und die einstigen Freunde sind einander fremd geworden und beschimpfen ihn, der ihnen sogar Geschenke verspricht, als Judensau und Schwuchtel. Das, was in der alten Heimat einmal vertraut war, fühlt sich jetzt fremd an. Das Buch erscheint im September 2017 im Suhrkamp Verlag.
- Peter Holtz von Ingo Schulze: Peter Holtz wächst in der DDR in einem Kinderheim auf und ist von der Idee des Kommunismus' überzeugt. Diese Überzeugung überträgt er wie selbstverständlich in seinen Alltag. Im Sommer 1974 sitzt der fast zwölfjährige Peter in einem Ausflugslokal und wird aufgefordert, die Rechnung von 4,50 Mark zu bezahlen. Doch er sieht das ganz anders: Die Gesellschaft hat die Pflicht, jederzeit und überall für ihre Kinder zu sorgen. Die Rechnung muss also entweder durch jemand anders oder gar nicht beglichen werden. Er erntet kein Verständnis, und bei dem Versuch, "seine" Kellnerin zu finden, drückt ihm ihr Kollege das Gästebuch in die Hand, in dem sich Beschwerden der Gäste finden. Peter schreibt seine sozialistische Botschaft hinein und stellt sich vor, wie sie in der Gaststätte Diskussionen auslöst und zur Läuterung beiträgt. Der Roman erscheint im September 2017 im S. Fischer Verlag.
- Katie von Christine Wunnicke: Es geht im London des Jahres 1870 um die Frage, ob es sich beim Spiritismus um eine ernstzunehmende Wissenschaft oder einfach nur Hokuspokus handelt. Der britische Physiker, Chemiker, Wissenschaftsjournalist und Parapsychologe William Crookes will der Sache mithilfe des 200 Jahre alten Mediums Katie auf den Grund gehen. In der hier präsentierten Szene besucht der Forscher den Physiker Michael Faraday (bekannt durch den faradayschen Käfig), der sich zu diesem Zeitpunkt geistig mehr im Jenseits als in der Gegenwart befindet. Er möchte von dem erfahrenen Kollegen einen Rat, doch Faraday erkennt ihn nicht. Ein sehr eindringlicher Monolog, der den Leser in die Atmosphäre des 19. Jahrhunderts zurückversetzt. Wie es zu diesem Gespräch kommen konnte, obwohl Faraday bereits seit drei Jahren tot war, weiß ich nicht. Dazu muss ich das ganze Buch lesen, das im Berenberg Verlag erschienen ist.