Jan Falk: Stefan, wir haben mittlerweile beide den Real Crime-Hit “Making a Murderer” auf Netflix gesehen, der den umstrittenen Justiz-Fall von Steven Avery über drei Jahrzehnte begleitet. Avery saß seit 1985 18 Jahre lang unschuldig wegen Vergewaltigungsvorwürfen hinter Gittern, wurde dann durch neue Testmethoden entlastet und freigelassen, nur um kurze Zeit wieder angeklagt zu werden, diesmal wegen Mordes an einer jungen Frau. Über die Serie, die in ihrer Wirkung und Machart stark an den Podcast-Hit des vergangenen Jahres, Serial, erinnert, ist in den letzten Wochen viel geschrieben worden. Und zurecht: Die Serie wirft eine Reihe von Fragen auf, nicht nur über der Qualität des US-Justizsystems, sondern auch über den Modus solcher Entertainment-Formate, so etwas wie Aufklärung leisten zu können. Und ich möchte später anknüpfend an die Serie auch noch über Transparenz und Kontrolle der deutschen Justiz sprechen.
Zunächst sollten wir unsere Leser jedoch warnen, dass dieses Gespräch natürlich den Fortgang und das (vorläufige) Ende der Serie spoilert. Und ich denke, dass noch eine Warnung angebracht ist: Murderer ist kein Popcorn-TV wie andere moderne Serien, bzw. nicht nur. Denn natürlich entfaltet sich auch hier dieser Sog, weiterschauen zu wollen, zu bingewatchen. Ich habe die Serie bis tief in die Nacht an einem Stück geschaut. Doch zugleich ist sie nur schwer zu verdauen, sie verstört, macht wütend, hilflos und ich würde sie nur eingeschränkt weiterempfehlen. Wie war Deine Rezeptionserfahrung?
Stefan Sasse: Ich habe die Serie nicht am Stück, sondern verteilt über knapp eine Woche gesehen, aber das lag hauptsächlich an...real life concerns, nicht daran dass es nicht zu ertragen gewesen wäre oder so. Die Serie ist aber unzweifelhaft harter Tobak, und man schaut sie definitiv nicht, weil sie im klassischen Sinne unterhaltend wäre, und man wird auch nicht von einem ständigen heiligen Zorn an den Bildschirm gefesselt, wie ihn etwa Michael Moore immer wecken konnte. Stattdessen ist was passiert im besten Sinne betäubend.
Ich will diese Diskussion daher auch kurz mit einer Diskussion über die Serie als Serie, also als Unterhaltung, beginnen. Die zehn Folgen sind grandios aufgebaut, haben einen klaren Spannungsbogen und fangen die Aufmerksamkeit des Publikums auf eine ungeheure Art und Weise ein. Man taucht richtiggehend in die Geschehnisse ein, wird quasi selbst ein Zuschauer im Gerichtssaal.
Gleichzeitig ist aber auch immer wieder offensichtlich - und durch die Berichterstattung seit Erscheinen auch bestätigt - dass die Macher eine deutliche Schlagseite haben und für Steven Avery und Brendan Dassey eintreten. Sie sind effektiv die “Guten”, und das sagt eine ganze Menge, denn beide sind wahrlich keine Sympathieträger. Von daher, kudos für die Macher und ihr offensichtliches Können im Schneideraum, aber man muss sehr vorsichtig sein, alles für bare Münze zu nehmen. Letztlich ist am Ende der zehn Stunden immer noch genauso unklar wie am Anfang, ob Avery und Dassey nun schuldig sind oder nicht - und das wahrlich nicht in einem formalen Sinne. Ich bin bei weitem nicht so sehr von ihrer Unschuld überzeugt wie viele andere Rezipienten. Wie ging es dir da?
[embed]https://www.youtube.com/watch?v=qxgbdYaR_KQ[/embed] Jan: Ich frage mich, ob diese narrative Einseitigkeit, diese Zuspitzung überhaupt nötig waren. Die Autorinnen der Serie, Moira Demos und Laura Ricciardi, erklären sie auch damit, dass etwa Staatsanwalt Ken Kratz nicht eben kooperativ war. Dennoch: Serial etwa hat es geschafft, hat den Fall um Adnan Syed offener zu halten, ohne dadurch Spannung zu verlieren.
Nach “Murderer” war dann schon fast mit einer heftigen Reaktion der Öffentlichkeit zu rechnen. So gab es etwa eine Petition beim Weißen Haus, Avery zu begnadigen - dabei ist Washington gar nicht zuständig, was viel über das Wissen um das juristische System in den USA verrät. Zuständig ist übrigens der amtierende Gouvernor von Wisconsin, Scott Walker, der laut Berichten allerdings nicht zu einer Begnadigung bereit ist.
Ich war auch sehr viel vorsichtiger in meinem Urteil. Nicht nur, weil die Serie innerhalb der zehn Stunden es keinesfalls schafft, Averys Unschuld zu beweisen. Sondern vor allem auch, weil man ja eben - ohne massive eigene Recherchen, zu denen ich aber wirklich keine Lust hatte - eben nicht weiß, was die Autoren uns vorenthalten haben. Klar, von den 700 Stunden Bildmaterial konnten später nur zehn übrig bleiben - aber welche, das bleibt offen. Und so wundert es auch nicht, dass nun nach und nach von Seiten der Staatsanwaltschaft, aber auch durch Medien Kritik an der Montage durch Demos und Ricciardi laut wird.
Stefan: Dass Kratz nicht kooperativ war war wahrscheinlich das cleverste, was er in seiner Karriere gemacht hat. Es ist natürlich nicht nachzuweisen, aber ich denke er hat mit seiner Befürchtung Recht, dass sie ihn framen wollten. Der generelle Ton der Serie legt das ziemlich nahe, und die reichlich überflüssige abschließende Dekonstruktion mit dem Sexting-Skandal, der mit dem Thema wirklich nichts zu tun hat - dazu mit Averys Voice-Over, als ob der eine definitive moralische Autorität wäre - waren nur noch Nachtreten. Und auch das völlig unnötig - Kratz ist auch so eine zutiefst abstoßende Persönlichkeit. Da begeben sie sich in Tiefen, in die sie überhaupt nicht müssten. Sowohl Avery als auch Kratz hätten durchaus abgewogener dargestellt werden können, und die eigentlichen Problemthemen hätten weiterhin herausgestanden wie wunde Daumen, wenn man mir die krude Übersetzung des geflügelten Wortes von den sore thumbs erlaubt.
Der eigentliche Bösewicht sind nämlich nicht die Personen, die vor allem im Falle des anfänglichen Sexualverbrechens reichlich offensichtlich lügen. Das Problem ist struktureller Natur, und während das am Anfang der Serie noch sehr schön herausgearbeitet wird, geht es gegen Ende im schwarz-weißen Narrativ etwas unter.
Denn die Serie offenbart brutale Schwächen im amerikanischen Justiz- und Polizeisystem. Einige dieser Schwächen teilen sie mit jeder anderen Nation auch, sie lassen sich kaum vermeiden, egal wie gut das System konstruiert ist. Einige andere sind spezifisch amerikanisch, und ich würde gerne über beide reden.
Aber fangen wir einmal mit der an, die wir hier in Deutschland genauso haben: die unglaubliche Schwierigkeit, Polizisten, Richter und Staatsanwälte wegen Fehlverhaltens dranzukriegen. Auch in Deutschland sind die Staatsanwälte schließlich eng auf eng mit der Polizei, sollten aber gleichzeitig die Verfolgung übernehmen, so wie die Polizei ihre eigenen Verbrechen aufdecken soll. Auf der anderen Seite gibt es aber niemanden sonst, der das übernehmen kann. Parallele Polizeiorganisationen schaffen das offensichtlich auch nicht, teils verschlimmern sie das Problem noch, wie man in Wisconsin ja ebenfalls sehen kann. Was denkst du dazu?
Jan: Ich bin neulich durch einen Tweet von Welt-Redakteuer Stephan Dörner in einem ganz anderen Kontext auf etwas aufmerksam geworden, das ich allerdings gar nicht empirisch nachweisen kann, sondern nur einen subjektiven Eindruck widergibt: Die - im Vergleich zu anderen Systemen wie Wirtschaft und Politik - nur schwach ausgeprägte mediale Beobachtung und Transparenz der Justiz in Deutschland. Dörner hatte versucht, das Amtsgericht München für eine Recherche zu erreichen. Aber: “Das Arbeitsgericht München hat keine E-Mail-Adresse. Anfragen per Fax oder Post.” Nur eine Kleinigkeit, aber doch symptomatisch, glaube ich.
Wie viel weiß man eigentlich über unsere Judikative wirklich? Sicher, einzelne spektakuläre Fälle werden auch medial begleitet, etwa der NSU-Prozess, auch im Lokalen gibt es Gerichtsreporter. Aber ich meine strukturell: Wer sind unsere Richter, wie werden sie ausgewählt, wo stehen sie politisch (was im Falle des Verfassungsgerichts schnell relevant wird)? Wie sozial gerecht fallen Urteile und Strafmaße aus, und wie unterscheiden sich etwa Richter verschiedener Bundesländer in ihren Urteilen? Wie effizient arbeiten Gerichte, wie viele Fehlurteile gibt es? Noch ein Beispiel: Erst kürzlich hat das Recherchebüro Correctiv systematisch öffentlich gemacht, an welche Organisationen eigentlich Geldstrafen verteilt werden. Super interessant. Aber auch eine Ausnahme, die die Regel bestätigt, nämlich, dass man über all das (als durchschnittlicher Bürger) nur sehr sehr wenig weiß. Und mehr noch: Man merkt es nicht einmal, dass man es nicht weiß, weil es medial kaum thematisiert wird. Das sind “unknown unknowns”, um mit Donald Rumsfeld zu sprechen. Die Gerichte dürften das begrüßen, doch es offenbart im Grunde ein leicht vormodernernes Verständnis in einer Demokratie. Diese Problematik dürfte übrigens auf der anderen Seite des Atlantiks ähnlich ausfallen.
Und insofern sind populäre Einzelfallbetrachtungen wie Murderer, trotz der nun immer deutlicher werdenen Schwächen, die Du beschrieben hast, so wichtig, um überhaupt Fehlleistungen der Justiz einmal auf die öffentliche Agenda zu setzen, um ein Bewusstsein zu schaffen. Der nächste Schritt wäre, dies sehr viel systematischer zu betreiben. Und dabei könnte ja durchaus auch herauskommen, dass Justiz und Polizei etwa in Deutschland, oder auch den USA, in den allermeisten Fällen fabelhaft und korrekt arbeiten. Oder auch nicht. Aber es wäre doch wichtig, das erst einmal zu wissen. Und erst dann lässt sich eine gesellschaftliche Debatte über Reformen führen.
Stefan: Wir müssen hier zwei Dinge unterscheiden, die du aktuell noch zusammenwirfst: Transparenz und demokratische Strukturen. Wie du richtig beschreibst, mangelt es sowohl in Deutschland als auch in den USA an Transparenz im Gerichtswesen (gibt es überhaupt Staaten wo das besser ist?). Aber die USA bauen ihr System demokratisch auf, mit gewählten Sheriffs, Richtern und Staatsanwälten, während in Deutschland Polizei und Justiz in obrigkeitsstaatlicher Tradition Beamte sind und vom Staat direkt eingesetzt werden.
Ich halte jedoch das deutsche System für besser. Das Wählen der Richter und Staatsanwälte in den USA setzt Anreize, die ungeheuer negativ sind und trägt, wie du bereits beschrieben hast, kaum zur Transparenz bei. John Oliver hatte diese perversen Mechanismen in einer Sondersendung bereits beschrieben. Genau diese Mechanismen sehen wir in “Making a Murderer” direkt bei der Arbeit. Richter wie Staatsanwalt müssen “tough on crime” sein, wenn sie wiedergewählt werden wollen. Wir sehen diese Dynamik auch im Pflichtverteidiger von Brendan Dassey: der Mann will in die Politik, und ein erfolgreicher Freispruch eines möglichen Sexualmörders aus Mangel an Beweisen schadet da ziemlich. Daher dessen Drang, Dassey zu einem Geständnis zu bewegen und sich als Star an der Seite von Kratz inszenieren zu können, um am Ruhm der Verurteilung Averys teilzuhaben.
In Averys Fall wird diese Problematik noch mehrfach potenziert. Der Fall fand in einem dörflichen Umfeld statt, wo jeder jeden kennt. Der Sheriff und seine untergeordnete, ihm persönlich verpflichtete Organisation (Klientelismus ist ein ebenso typisches Problem der USA wie Griechenlands) von Deputys hassen die Familie. Die Averys sind abgehängtes Prekariat und Nichtwähler. Das Opfer dagegen ist ein aktives Mitglied in der community, Kleinunternehmer (nichts vergöttern die Amerikaner wie small business owners) und garantierte Wähler. Selbst ohne die persönlichen Fehden und verwandtschaftlichen Bindungen, die der Sheriff in seine Ermittlungen einbrachte, entsteht hier ein toxischer Mix. Und den hast du in den USA überall auf dem Land. Das ist ein Problem, das du in Deutschland deutlich weniger hast.
Dazu kommen zwei weitere Eigenheiten des US-Systems, die unserem Rechtsstaatsverständnis eher entgegenlaufen. Das wäre zum einen die Tatsache, dass die Staatsanwälte nur in eine Richtung ermitteln. Wenn Kratz ausschließlich belastende Beweise vorbringt und von Anfang an eine Story konstruiert, die er dann nur noch zu bestätigen versucht - genauso wie die Sheriffs - dann ist das Justizsystem nicht ein ermittelndes, sondern, wie Averys Anwälte richtig sagen, nur an einer Verurteilung, nicht aber an der Wahrheitsfindung interessiert. Das ist in Deutschland wenigstens dem Anspruch nach anders.
Das andere ist das Jurysystem. Diese Einrichtung macht nur historisch Sinn. Die Zeit aber, in der eine “jury of your peers” das einzige Mittel war, gegen die Willkürjustiz königlicher, adeliger Beamter bestehen zu können, sind schon lange vorbei, weswegen wir den Unsinn nicht mehr haben. Der gewaltige Fokus auf die Persönlichkeit des Angeklagten, die strafrechtlich völlig irrelevant ist, lässt sich nur aus diesem abstoßenden Show-Element erklären. Kratz erklärt im ersten Satz seines Plädoyers, dass er zeigen will, was für ein widerlicher Mensch Avery ist! Das wäre in Deutschland, genauso wie die künstliche Dramatik, völlig undenkbar, genauso die reichlich arbiträre Verurteilung auf Basis einer intransparenten Mehrheitsentscheidung von Leuten, die keinerlei Erfahrung und jeweils ganz eigene Vorurteile haben. Das ist ein völlig veraltetes, irres System, und Making a Murderer zeigt diese Mechanismen deutlich auf, wenn man sich der Spannung des eigentlichen Dramas um Avery für einen Moment entziehen kann.
Jan: Deine Analyse klingt jedoch plausibel. Dass etwa mit dem Geschworenensystem etwas nicht stimmen kann, siehst Du tatsächlich schon an den Berichten über nachträgliche Aussagen der Juroren, die teils widersprüchlich ausfallen und von “Kompromissen” bei der Urteilsfindung berichten. Ich war eher auf Fragen der mangelnden Öffentlichkeit und Transparenz eingegangen, da mir dieser Aspekt des Justizsystems als Journalist und Kommunikationswissenschaftler am deutlichsten aufgefallen war und diese auch Voraussetzung für weitere gesellschaftliche Debatten sind.
Anyway, um unseren Artikel nicht zu lang werden zu lassen, ich denke, dass schon unser kleiner Anriss der Implikationen und Fragestellungen, die Making a Murderer aufgeworfen hat, wie wertvoll dieses (gigantische) journalistische Projekt bei allen Schwächen doch ist.