Kaum ein Prozess gegen NS-Verbrecher erregte so viel öffentliches Aufsehen wie der Majdanek-Prozess, nicht nur wegen der monströsen Zahl von 250 000 Opfern im ehemaligen Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek, sondern wegen seiner langen Verhandlungszeit, die in die Geschichte der Justiz der Bundesrepublik Deutschland eingegangen ist. Sechs Jahre dauerte der Prozess, von 1975 bis 1981. Zwar war das öffentliche Interesse dahingehend nicht konstant, doch die Berichte, Filme und Bücher, die in dieser Zeit entstanden stießen auf allgemeines Interesse. Der in Düsseldorf zu verhandelnde Prozess war auch als der schwierigste, mühsamste Prozess aus der NS-Zeit, mit nahezu 350 Zeugen, annähernd 25 Reisen des Gerichts ins Ausland, mit fast 50 Ablehnungs- und ebenso vielen Beweisanträgen der Verteidigung, mit 20 000 Seiten Vorvernehmungsakten und weit über 4 000 Seiten Gerichtsprotokollen; mit Zeugen, die inzwischen verstorben oder wegen Krankheit nicht mehr vernehmungsfähig waren; mit aussageunwilligen Angeklagten, mit Verschleppungsmanövern einiger Anwälte; mit Prozessunterbrechungen wegen Erkrankung von Richtern oder Beschuldigten, mit ständigen Terminverschiebungen wegen fehlender Unterlagen, die noch übersetzt werden mussten; wegen ausländischer Zeugen, die nicht erschienen waren oder deren Vernehmungen sich derart in die Länge zogen, dass andere Zeugen wieder ausgeladen und zu einem neuen Zeitpunkt neu geladen werden mussten. Die Geschichte des Verfahrensablaufs überdeckte häufig völlig die Geschichte, die verhandelt werden sollte: den Mord an mindestens 250 000 Menschen in den Jahren von 1942 bis 1944; andere Quellen sprechen von einer Million.
Das Lager Majdanek war 1941 nahe der Stadt Lublin im damaligen Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete eingerichtet worden. Der Name stammt vom Lubliner Stadtteil Majdan Tatarski, offiziell trug es den Namen Konzentrationslager Lublin. Insgesamt wurden im Lager Majdanek etwa 250.000 Menschen ermordet beziehungsweise in den Tod getrieben. Am 23. Juli 1944 wurde das Lager durch die Rote Armee befreit. Durch eine polnisch-sowjetische Kommission begann noch im Juli die erste Untersuchung der Verbrechen. Es kam dann in Lublin vom 27. November 1944 bis zum 2. Dezember 1944 zur Gerichtsverhandlung, in der alle sechs Angeklagten zum Tode verurteilt wurden. Ein Angeklagter verübte im Laufe des Verfahrens Selbstmord. Am 3. Dezember 1944 wurden die Todesurteile durch Erhängen vollstreckt. Zwei Jahre danach, ebenfalls in Lublin, wurde gegen 95 SS-Angehörige verhandelt. Nach dem zweijährigen Prozess wurden sieben der Angeklagten 1948 zum Tode verurteilt und hingerichtet, darunter auch die frühere Oberaufseherin des Frauenlagers, Else Ehrich, die anderen erhielten Haftstrafen.
Doch zurück zum Majdanek-Prozess der 70iger Jahre. Das, was Prozessbeobachter ganz besonders ins Auge stach, waren die Angeklagten: Die Herren in mehr oder weniger gut sitzenden Anzügen, doch immer mit gut gebügelten Hemden und dazu passenden Krawatten, saßen da mit unbeweglichen Gesichtern, so als ginge sie das Geschehen um sie herum nichts an, erinnern konnte sich keiner von ihnen, je irgendwelchen Gräueltaten beigewohnt zu haben, weit von sich wiesen sie Beschuldigungen, an solchen beteiligt gewesen zu sein. Doch da saßen auch die Frauen, die ehemaligen Aufseherinnen, mit frischen Dauerwellen, im gepflegten Kostüm oder Kleid, auch sie völlig emotionslos und so fürchterlich ‚harmlos’ wirkend. Dazu die Riege der Verteidiger, viele aus der bekannten rechten Szene, einige ausgewiesene NPD Mitglieder, deren Befragung der Zeugen mehr als häufig die angereisten Opfer-Zeugen demütigten und wieder zu Opfern machten. Mancher Angeklagte hatte bis zu drei Verteidiger, was zusätzlich auf viele einschüchternd wirkte. Auf der anderen Seite die Staatsanwaltschaft mit ihrem Hauptankläger Dieter Ambach und seinen Kollegen, die mit möglichst unbewegter Mine den zeitweise hoch emotionalen Prozesstagen, mit weitgehenst unbeweglicher Mine zu folgen hatten. Ambach dazu: "Angeklagt waren ungefähr 120 Taten, was auch eine Erklärung für die lange Laufzeit sowohl der Vorermittlungen als auch des Prozesses gewesen sind. Es sollte untersucht werden, welche Mordtaten in einem Konzentrationslager, Majdanek war ein besonderes, nämlich wie Auschwitz ein Vernichtungslager, sich ereignet hatten." Während des Prozesses erhielten die Richter und Staatsanwälte anonyme Drohungen von Sympathisanten der Angeklagten aus der rechtsextremen Szene. Zeitweilig stand Dieter Ambach unter Polizeischutz, Polizei überwachte seine Wohnung und seinen Parkplatz. Ambach: "Aber es ist letztendlich nichts passiert. Aber auch in der Zeit nach dem Verfahren bis in die jüngere Vergangenheit kommen ab und zu mal noch Anrufe nach wahrscheinlich irgendwelchen Kameradschaftsabenden, wo dann gesagt wird, dass man mich nicht vergessen habe, der ich doch die Kameradinnen und Kameraden so verunglimpft hätte." Dann, an der Stirn des Gerichtssaals der Vorsitzende Richter Günter Bogen mit seinen Richterkollegen und Beisitzern, der diesen schwierigen Prozessverlauf leitete. Die Verteidigungen der verschiedenen Angeklagten überhäuften immer wieder das Gericht mit den absurdesten Anträgen, einer davon war, dass sie einen Gutachter forderten, der nachweisen sollte, dass verbrannte Tierkadaver den gleichen Geruch verbreiten, wie verbrannte Leichen. Hierauf musste das Gericht verfahrenstechnisch korrekt entscheiden, so zogen sich die Prozesstage immer mehr in die Läge, doch die Verteidiger erreichten somit eine übermäßige Verschleppung des Verfahrens.
Doch am 369. Verhandlungstag, im fünften Jahr des Prozesses kam Bewegung in das Verfahren. Es war ein besonderer Verhandlungstag: Hermine Ryan, geborene Braunsteiner, 60 Jahre alt, verheiratet mit einem Amerikaner, von denen, die Majdanek überlebten, ‚Stute’ genannt, genauer aber: ‚Schindermähre’, war am 368. Verhandlungstag zusammengebrochen und hatte plötzlich laut geschrieen: „Ich kann es nicht mehr aushalten. Helft mir! Helft mir!“ Der Vorsitzende Richter Günter Bogen unterbrach die Sitzung. Am nächsten Verhandlungstag, bei dem ‚vorübergehend abgesetzten Verfahren gegen Hermine Ryan-Braunsteiner’, wurde erst der medizinische Sachverständige gehört, von dem es heißt, er sei in diesem Prozess der ‚wichtigste Mann’. Sie sei, so der Arzt, seit nunmehr 14 Jahren in einem Stresszwang, befinde sich in einer Konfliktsituation. Dann drang Richter Bogen in die vor ihm sitzende, bleiche Angeklagte, die ihren Mantel anbehalten hatte: Sie sollte sich jetzt, nachdem sie vier Jahre lang nichts gesagt habe, überlegen, ihr ‚totales Schweigen’ aufzugeben. „Ich bin dabei gewesen“ Es war still in dem großen, dunkel getäfelten, fast leeren Sitzungssaal 111 des Düsseldorfer Landgerichts: Vorn saß das Gericht mit dem Ersatzrichter, den Ersatzschöffen, der Protokollantin und dem Staatsanwalt. In den sonst voll besetzten Reihen vor der Richterbank wirkte die Angeklagte mit ihren beiden Verteidigern wie verloren. Auf den Zuhörerbänken warteten nur ihr Mann und drei Wachtmeister, die Hermine Ryan aus dem Untersuchungsgefängnis gebracht hatten. Dann sagte sie: „Es sei ihr Pech gewesen, dass die Oberaufseherin Ehrich sie als ihre Vertreterin ausgewählt habe. Während ihrer Zeit in Majdanek sei sie überhaupt acht Monate lang krank gewesen und anschließend in den Urlaub gefahren. Darum sei sie „nicht immer da gewesen, wenn etwas passiert sein sollte“. Dann gab sie zu, bei „Transporten, die weggingen, dabei gewesen“ zu sein, aber nicht bei „abgehenden“. Dann, als Richter Bogen weiter fragte, räumte sie endlich auch ein, bei den „ankommenden Transporten“ mitgemacht, also selektiert, für den Mord in der Gaskammer aussortiert zu haben.
Unfassbar war der ‚Alltag’ in Majdanek: Sechs Gaskammern ‚arbeiteten’ jahrelang, Tag und Nacht. Andere Opfer, vor allem Frauen, Kinder und Kranke, wurden erschlagen, erdrosselt, erhängt, ertränkt. Die Angeklagte Ryan wurde ‚Schindermähre’ genannt, weil sie Menschen, die in ihre Gewalt gerieten, mit ihren Stiefeln totgetreten haben soll. Hildegard Lächert, die eine Reihe hinter ihr saßt und vor der Zeuginnen bei der Gegenüberstellung noch heute zittern, hieß ‚blutige Brygidda’, weil sie immer sofort zugeschlagen haben soll, mit der Peitsche oder einer Latte, so lange, bis sich das Opfer nicht mehr rührte. All das gab Hermine Ryan nun zu. Aussage der Zeugin Rachel Nurman zu den Vorkommnissen im Lager: "Unter den SS-Männern und -Frauen waren auch diese beiden hier sitzenden weiblichen Angeklagten. Ich erkenne sie beide wieder. Die dahinten hat mich ja geschlagen. Sie hat auch einmal so lange auf ein Mädchen eingeschlagen, bis es tot dalag. Sie wurde im Lager die 'Blutige Brigida' genannt. Wir hatten alle Angst, sie auch nur anzusehen. Ich erkenne sie wieder an ihrem Gesicht und den starken Backenknochen. Sie war früher sehr hübsch und gesund. Sie trug ihre dunkelblonden Haare meist hoch und hatte ein leuchtendes Gesicht. Sie konnte mit einem Fußtritt ein Mädchen töten. Sie hatte auch immer einen großen Hund bei sich, den sie mit sadistischem Vergnügen auf uns Häftlingsfrauen hetzte, wenn wir beim Spinatpflücken waren. Ich selbst habe noch jetzt eine Narbe von einem solchen Hundebiss auf dem Rücken." Wörtliche Aussage des Zeugen Mendel Miller: "Als wir einmal in die Gärtnerei kamen, befanden sich dort eine SS-Aufseherin und ein kleiner Mann in einem schwarzen Anzug. Dieser sagte zu der Aufseherin: "Geben Sie mir Ihre Pistole, damit ich die dreckigen Juden erschießen kann!" Daraufhin erwiderte die Aufseherin: "Das Vergnügen möchte ich lieber selbst haben." Daraufhin schloss sie in die Gruppe der Häftlinge hinein. Ein Häftling fiel gleich tot zu Boden, ein anderer blieb schwer verwundet liegen. Wir bekamen dann den Befehl, diese beiden Personen zurückzutragen, damit beim anschließenden Appell die Zahl stimmte. Die SS-Frau trug die übliche deutsche Uniform von beigebrauner Farbe. Sie trug eine Jacke, Rock und eine Kopfbedeckung in Art eines Schiffchens. Ich glaube, dass die hier in der ersten Reihe sitzende Frau diese Frau gewesen ist." Hermine Ryan blieb die einzige Angeklagte, die sich geäußert hatte, die einzige in irgendwo ein Funken Menschlichkeit verblieben war.
Auch die sogenannte ‚Aktion Erntefest’ wurde im Prozessverlauf eingehend behandelt, die Zeugenaussagen waren eindeutig, wenn auch subjektiv, aber doch gerichtsverwertbar. Dazu der ehemalige Staatsanwalt Ambach: "Eine der grausamsten Aktionen im Lager Majdanek war die so genannte Aktion "Erntefest". Das bedeutete, an diesem Tag Anfang November 1943 wurden sämtliche Juden aus der Umgebung Lublins und sämtliche Juden, die noch im Lager lebten, zusammen getrieben. In den Tagen vorher hatten die im Lager lebenden Juden Gräben ausheben müssen, in diese Gräben wurden dann schubweise die Juden nach Entkleidung hinein getrieben und wurden von SS- und Gestapo-Angehörigen, die am Grubenrand standen, erschossen. Bei dieser Aktion, die sich von morgens früh bis zum Abend hingezogen hat, sind mindestens 18.000 Juden erschossen worden."
Doch insgesamt war es eine schwierige Prozessführung, denn nach 30 Jahren konnten nicht alle angereisten Zeugen die Täter identifizieren, zumal ihnen damals verboten war, den uniformierten Männern und Frauen ins Gesicht zu schauen, auch konnten sie nicht immer korrekte Angaben zu Tagen oder Monaten der Mordgeschehen machen, doch überschnitten sich die Aussagen der Opfer so häufig, das ein Tatablauf rekonstruiert werden konnte, wobei die Tatbeteiligung der Angeklagten, entsprechend ihrer Position innerhalb des Lager klar war, nicht immer eindeutig nachgewiesen werden konnte. So blieb das Gericht in seiner Urteilverkündung oftmals weit unter den Anträgen der Staatsanwaltschaft. Diese Urteilsverkündung hinterließ einen Sturm der Entrüstung in den Medien und der Öffentlichkeit.
Hermine Braunsteiner-Ryan, Aufseherin: Lebenslänglich
Hildegard Lächert, Aufseherin: 12 Jahre Haft
Hermann Hackmann, SS-Hauptsturmführer: 10 Jahre Haft
Emil Laurich, SS-Hauptscharführer: 8 Jahre Haft
Heinz Villain, SS-Unterscharführer: 6 Jahre Haft
Fritz Heinrich Petrick, SS-Oberscharführer: 4 Jahre Haft
Arnold Strippel, SS-Unterscharführer: 3,5 Jahre Haft
Thomas Ellwanger, SS-Rottenführer: 3,5 Jahre Haft
Heinrich Groffmann, SS-Hauptscharführer: Freispruch
Bei den anderen Angeklagten wurden die Verfahren abgetrennt, manche wurden verhandlungsunfähig, beziehungsweise verstarben.
Auch wenn der Ausgang des Prozesses als unbefriedigend zu sehen ist, so muss beachtet werden, dass hier ein Versuch unternommen wurde, Gräueltaten wie die in Majdanek aufzuarbeiten, denn zu sühnen sind sie nach menschlichem und juristischem Ermessen nie wirklich. Auch darf nicht unbeachtet bleiben, unter welchen Schwierigkeiten die Ermittlungen litten, denn viele Unterlagen waren zu dieser Zeit hinter dem sogenannten ‚Eisernen Vorhang’ des ‚Kalten Kriegs’ und somit nicht einsehbar. Hier waren die damalige Sowjetunion und Polen nicht sehr kooperativ.
Doch in der Zeit des sechsjährigen Prozesses und darüber hinaus arbeiteten Historiker, Journalisten und viele andere an diesem Thema, auch Filmemacher wie Eberhard Fechner, mit seinem Dokumentarfilm.
In jüngster Zeit hatte der Roman ‚Der Vorleser’ und seine Verfilmung noch einmal ein Streiflicht auf den Majdanek-Prozess gelenkt.
Weiterlesen:
➼ Majdanek • Hölle der Zwangsarbeit und Vernichtung
➼ Die schändliche „Aktion Erntefest“
➼ Otto Freundlich • Pionier der Abstrakten • Vergast in Majdanek
darüber hinaus:
➼ Index der Täter • Die Blutspur des Arnold Strippel