ARTus-Kolumne »SO GESEHEN« Nr. 519
Von Gustav Mahler, geboren am 7. Juli 1860 in Kalischt, Böhmen, als zweites Kind einer wohlhabenden jüdischen Familie, die noch im Geburtsjahr von Gustav ins Mährische nach Iglau verzog, kannte ich bis 1971 kein einziges Musikstück. Ich war auf andere Musikwelten eingeschworen, hörte Bob Dylan, war angetan von John Lennons »Imagine«, mochte die Doors und von Pink Floyd die »Echoes«.
Aber dann, bis heute erinnere ich das grandiose Film-Erlebnis, sah ich im Leipziger Studiokino »Capitol« in der Burgstraße 7 den unendlich schönen, unendlich traurigen Visconti-Film »Tod in Venedig«. Umgehend besorgte ich mir die Dritte und Fünfte Sinfonie Gustav Mahlers auf Vinyl, spielte die Platten Woche um Woche. Ich war wie in Trance.
Lucino Visconti hatte Mahlers Musik in sanftesten Übergängen mit dem überquellenden Bilderepos einer lange vergangenen Zeit verwoben und das Gedankengut aus Thomas Manns Novelle »Der Tod in Venedig« frei zu nutzen verstanden, in erlesene Sätze gefasst. Ein so gesehen in sich stimmiges Gesamtkunstwerk war wie aus einem Guss geschaffen worden. Es gilt bis heute als cineastisches Meisterwerk.
Ich konnte mich am Film nicht satt sehen und nicht satt hören, sah hintereinander etliche Vorführungen und entdecke immer noch, sofern er im Kino oder Fernsehen läuft, erstaunlich aufschlussreiche Nuancen und mir neu erscheinende Verknüpfungen von Gegenwärtigem und Vergangenem.
Mahlers »Sphärenmusik« beschreibt den Zustand eines völligen Entrücktseins von der Realität, den Bruch mit tradierten Formen, zugleich aber das Herüberretten anspruchsvoller künstlerischer Werte und Stilideale.
Thomas Manns Novelle, bei der es um eine tief verunsicherte Künstlerpersönlichkeit und den Zusammenbruch der Wertmaßstäbe einer morbiden Gesellschaft geht, erfuhr in der Verfilmung mit der stimmigen Einfügung von Passagen aus Mahlers Dritter und Fünfter Sinfonie einen unglaublich suggestiven, emotionalen Schub. Visconti hatte mit dem schlüssigen Einbringen der Mahlerschen Tonalität die Zerrissenheit, »das Drama eines Künstlers, die Geschichte seiner Einsamkeit und seiner Verzweiflung« kongenial übersetzt.
Vor fast genau 115 Jahren entstanden die ersten Partituren der Dritten Symphonie. Die Fünfte Symphonie vollendete er im Sommer 1902. Aus ihr das Adagietto in F-Dur kann ich nicht langsam genug und überhaupt immer wieder hören. Es ist, als nähere sich die Musik jedem kommenden Morgen. Wenigstens diese Hoffnung bleibt. ARTus
Zum 100. Todestag von Gustav Mahler. Zeichnung: ARTus