Mahayoga

Von Rangdroldorje

Mahayoga betont die Erzeugungsstufe der Meditation, Anuyoga die Vollendungsphase mit Merkmalen und Atiyoga die Vollendungsphase ohne Merkmale. Die Erzeugungsphase – Mahayoga – basiert auf dem Prinzip der Reinigung. Reinigung bedeutet nicht, dass das Universum und alle Wesen unrein wären und gereinigt werden müssten. Es bedeutet, dass die inhärente Reinheit des Universums und aller Wesen offengelegt oder erkannt werden muss. Der Mahayoga-Pfad der Verwirklichung dessen, geschieht durch die vier Aspekte der Reinigung:

1)   Die Basis der Reinigung ist der grundlegende Grund der reinen Buddha-Essenz.
2)   Die Befleckungen, die gereinigt werden müssen, sind die vorübergehenden dualistischen Erscheinungen.
3)   Die Methode, die reinigt, ist die Erzeugungs- und Vollendungsphase der Meditation, die die unreine Wahrnehmung in reine Schau verwandelt.
4)   Das Ergebnis der Reinigung ist die Erlangung der zwei Kayas.

Es ist einfach, die Methode der Reinigung zu praktizieren, aber es scheint zuerst schwierig zu sein, weil wir in der unreinen Wahrnehmung verwurzelt sind, dass wir uns nicht bewusst sind, wie wir sie erschaffen. Wenn wir einfach erkennen können, dass Phänomene erscheinen, aber keine wahre Existenz haben, weil sie von großer Leerheit nicht zu trennen sind, werden wir unsere unreine dualistische Wahrnehmung zerstören. Im Mahayoga kommen wir zu dieser wichtigen Erkenntnis durch das Erzeugen der Erscheinung einer Weisheitsgottheit durch Visualisation, Mantra und Konzentration. Wenn wir die Gottheit auf diese Weise „erzeugen“, dann wissen wir, dass sie nicht substanziell und nicht existent ist, dennoch können wir unsere Erfahrung von ihr nicht leugnen. Durch Erweiterung erkennen wir dann, dass das für alle Phänomene wahr ist. Wir sehen die „Magie“ von Form und Leerheit und erkennen die Wahrheit der reinen Vision. Das ist eine große Befreiung, weil das heißt, dass unsere Befleckungen nicht wahrhaft existieren. Wenn wir beispielsweise eine Million Dollar haben und wir glauben, dass das wahr ist, dann haben wir eine Million Dollar, auf die wir sozusagen aufpassen müssen. Das ist nicht leicht. Wenn wir andererseits wissen, dass die Million Dollar wirklich nur ein Konzept ist und dass das untrennbar von Leerheit ist, dann wird unsere Beziehung zu dieser Million Dollar frei von Anhaftung und Greifen sein. Was ich aufzuzeigen versuche ist, dass Erscheinungen und Leerheit keine getrennten Wirklichkeiten sind, sondern eine einzige untrennbare Sphäre der Wahrheit. Vielleicht ist es schwer zu glauben, dass die Methode des Mahayoga der Reinigung durch die Gottheitenpraxis wirklich wirkt oder vielleicht scheint es schwierig zu sein, weil Gottheiten visualisiert werden müssen usw. Oder vielleicht denkt ihr, dass Gottheiten-Yoga die Konzepte vermehrt, statt sie auszulöschen.
Der Punkt, an den man sich erinnern muss ist, obwohl wir vorübergehend getäuscht sind, sind wir von Kuntuzangpo – dem uranfänglichen Buddha – nicht grundlegend verschieden. Einfach das zu wissen, ist inspirierend und gibt uns Zuversicht. Die einzige Art, wie wir uns unterscheiden, ist in Bezug auf die Erkenntnis der wahren Natur der Phänomene. Während Kuntuzangpo Phänomene als Ausdruck seiner eigenen Natur erkennt, machen wir das nicht. Mangels Erkenntnis externalisieren wir Phänomene und erfahren die Welt und die Wesen, die darin leben, als substanziell real. Das ist das Ergebnis von Ignoranz und Täuschung. Nichtdestotrotz ist die grundlegende Natur nicht verunreinigt oder durch unsere Täuschung verändert, weil sie jenseits von Ursache und Ergebnis und Umständen ist.
Unter der Überschrift der Methode der Reinigung habe ich einfach von der reinen Wahrnehmung der Buddhas und der unreinen Wahrnehmung der getäuschten Wesen gesprochen. Aber es gibt auch noch eine dritte Art der Wahrnehmung – die Wahrnehmung des Vermittlers, die sich stufenweise von der unreinen zur reinen wandelt. Am Anfang muss der Vermittler eine bewusste Anstrengung unternehmen, um eine Erfahrung von Reinheit zu erzeugen. Aber wenn sich dann die Fähigkeit des Vermittlers verbessert und er oder sie sich entspannt, tritt die Erfahrung von Reinheit natürlich auf und vertieft sich mühelos. Wenn der Vermittler und die Erfahrung des Vermittlers ein und dasselbe sind, dann werden alle Erfahrungen als rein erkannt.
Wenn wir versuchen, die äußerliche physische Welt zu verstehen, dann reden wir möglicherweise von Atomen und Quantenteilchen. Aber die Wahrheit ist, dass der Ursprung des Universums nicht in den Atomen und Teilchen gefunden werden kann. Um die wahre Antwort zu finden, müssen wir inneres Wissen erlangen. Die äußere Welt und die sechs Bereiche der Wesen – „das Problem“ – wird in jedem Moment unserer Existenz durch Ignoranz und unser dualistisches Glaubenssystem erzeugt. Die Lösung – Weisheitsgottheit und reines Land – geschieht in derselben Weise, wie das Problem – das Universum und die Wesen – erscheint. Es sind nur die Ausgangspunkte verschieden – Ignoranz oder Erkenntnis. Was ich also sage ist, dass wir schon in der Lage sind, Nondualität zu erkennen. Was mir machen müssen ist, den richtigen Ausgangspunkt zu finden.
Das ist eine Geschichte! Ich möchte etwas über die Macht des Erzeugens von Wirklichkeiten erzählen. Als vor langer Zeit der Buddha seinen Schülern lehre, dass die äußere Welt nur eine Frage der Wahrnehmung ist oder mit anderen Worten, dass alles in unserem Geist ist, sagte ein Schüler: „Beliebt Ihr zu scherzen? Ihr meint, es gäbe keinen Ozean und keine Welt? Nicht existiert mit Ausnahme von Vorstellung?“ Als Antwort darauf erzählte der Buddha die Geschichte einer Frau, die einst in Varanasi, einer berühmten indischen Stadt, lebte. Zu dieser Zeit war es üblich, dass Diebe und Banditen die Stadt überfielen und die Bewohner quälten. Alle waren in Furcht und Panik. Der König versuchte sie zu beschützen, aber er war nicht erfolgreich. Eine Frau nahm die Sache in die Hand und verteidigte sich dadurch, dass sie meditierte, sie sei ein Tiger. Sie meditierte so stark darauf, dass ihre Nachbarn sie als Tiger zu sehen begannen und dann auch die Banditen. Das beseitigte ihr Problem!
Diese Geschichte erinnert mich, als ich zum ersten Mal lernte, Karten zu spielen. Ich war sehr aufgeregt darüber und konzentrierte mich so gut ich konnte. Als ich nachts schlafen ging, konnte ich sehen, wie die Zahlen auf den Karten vor meinen Augen vorüberflogen. Sie stoppten nicht. Meditation macht das genauso. Wenn ihr euch auf eine Weisheitsgottheit ausrichtet, werden alle Phänomene durch die Linse der reinen Schau betrachtet. Selbst wenn ihr von etwas Schrecklichem träumt, erkennt ihr das sofort als natürliche Manifestation und seid darüber nicht mehr erschrocken. Das geschieht ganz natürlich, weil ihr in der reinen Vision gefestigt seid. Das erinnert mich auch daran, was Dudjom Rinpoche einst sagte: „Zu Beginn jagt der Meditierende der Meditation nach, aber später jagt die Meditation dem Meditierenden nach.“ Ich mag das.

Diese Belehrung wurde von Lama Tharchin Rinpoche gegeben und das englische Original ist bei der Vajrayana Foundation Hawai‘i einsehbar.