MAHANAGAR
Indien 1963
Mit Madhabi Mukherjee, Anil Chatterjee, Haren Chatterjee, Jaya Badhuri, Haradhan Bannerjee u.a.
Regie: Satyajit Ray
Drehbuch: Satyajit Ray nach zwei Geschichten von Narendranath Mitra
Deutschsprachige Kinopremiere 1964 anlässlich der int.Filmfestspiele Berlin, unter dem Titel Mahanagar – Die grosse Stadt
Dauer: 135 min
Vorspann:
Inhalt: Kalkutta, in den 50er-Jahren: Das Ehepaar Subrata und Arati Mazumdar lebt in einer winzigen Wohnung zusammen mit ihrem kleinen Sohn, Subratas Schwester, sowie dessen Mutter und Vater. Mit seinem Teilzeitjob bei einer Bank kann Subrata die Familie zwar durchbringen, es fehlt aber an allen Ecken und Enden. Als seine Frau Arati mit der Idee liebäugelt, sich ebenfalls Arbeit zu suchen, stösst sie damit bei ihrem Mann auf Skepsis und bei den Schwiegereltern auf offene Ablehnung. Trotzdem setzt sie ihr Vorhaben in Tat um und bewirbt sich für eine Stelle als Vertreterin für ein elektronisches Haushaltsgerät. Zusammen mit anderen jungen Frauen tourt sie fortan als “saleswoman” von Tür zu Tür und hat mit ihrer liebevollen Art grossen Erfolg. Doch die Familie setzt ihr zu, vor allem der Vater ihres Gatten, ein pensionierter Lehrer, dessen ehemalige Studenten es im Leben weiter gebracht haben als sein Sohn. Subrata drängt seine Gattin zur Kündigung.
Der Film:
Der indische Film in der Zeit vor “Bollywood”. Letzteres ist heute bei uns in aller Munde – die Filme des grossen Satyajit Ray hingegen sind fast in Vergessenheit geraten. Im deutschsprachigen Raum jedenfalls ist kein einziger von Rays Klassikern auf DVD oder Blu-ray erhältlich, und in Reclams Buch der Filmregisseure ist der Mann nicht verzeichnet. Dabei enthüllen seine Filme ihn als einen der feinfühligsten, genausten und menschlichsten Beobachter des Lebens und der Gesellschaft, welche die Filmgeschichte hervorgebracht hat.
Aufgrund obiger Inhaltsangabe würde man bei Mahanagar nun einen Film erwarten, mit dessen Themen “der Westler” nicht viel wird anfangen können: Ausbruch der Frau aus den Strukturen einer patriarchalischen Gesellschaft, Gleichberechtigung im Indien der 50er-Jahre – was geht uns das heute an? Doch Mahanagar ist ein Film, der auch 50 Jahre nach seinem Erscheinen packt, über die zeitliche und kulturelle Distanz aktuell und ansprechend ist. Auch für “Westler”. Abgesehen davon ist er wunderschön anzuschauen, höchst unterhaltsam, spannend erzählt, hervorragend gespielt und mit einer Vielzahl liebevoll gezeichneter Figuren bevölkert.
Aktualität
Mahanagar dokumentiert das “Erwachen” einer jungen Frau in der Anfangszeit der indischen Unabhängigkeit. Regisseur Ray wollte einerseits die Erfahrung seiner Landsleute in dieser Zeit des gesellschaftlichen Erwachens dokumentieren, andererseits das Spannungsfeld aufzeigen, das durch die noch immer stark wirksame, jahrhundertealte Tradition im Zusammenprall mit der von Präsident Jawaharlal Nehru vorangetriebenen Modernisierung entstand. Es ist unter anderem dieses gesellschaftspolitische Spannungsfeld, das Mahanagar über die Zeit hinaus interessant und lebendig erhalten hat, ein Spannungsfeld, das zu allen Zeiten zur menschlichen Gesellschaft gehört. Dass Ray in den Mittelpunkt des Films eine Frau stellt, ist eine kluge erzählerische Entscheidung, denn gerade das Leben der Frauen wird in traditionalistischen Gesellschaften viel stärker als jenes der Männer von rigiden Rollenmustern bestimmt: Sie sind darin gefangen, an ihnen lässt sich oben erwähntes Spannungsfeld am besten vor Augen führen. Somit hat der Film auch nach den 50 Jahren, die er inzwischen auf dem Buckel hat, Gültigkeit bewahrt und ist heute von mehr als nur historischem Wert.
Tradition und Moderne
Ray zeigt eine nach traditionellen Mustern funktionierende Familie, in welche die Moderne quasi über Nacht einbricht. Arati ist zunächst liebende Ehefrau, Mutter, ehrerbietende Schwiegertochter und verständnisvolle Schwägerin – sie geht in den tradionellen Rollen durchaus auf; doch die finanzielle Not und eine harmlose Konversation mit ihrem Ehemann bringt sie auf den Gedanken, Arbeit zu suchen. Er erzählt ihr nämlich von der Gattin eines Bekannten, welche als “saleswoman” arbeitet, um ein Zubrot zu verdienen. Nachdem Arati diese Möglichkeit bewusst geworden ist, die viele Frauen dank der liberalen Politik des damaligen Präsidenten ergreifen konnten, gibt es für sie kein Halten mehr: Sie möchte ihren Gatten im täglichen Kampf um die Ernährung der Familie unterstützen – ein zunächst durchaus traditionlaistisch gedachter Wunsch. Das traditionelle Denken ihres Gatten und vor allem ihrer Schwiegereltern setzen ihrem Vorhaben zunächst einen Dämpfer auf;
Kalkutta
Überhaupt – die Stadt! Sie ist als solche im Bild in nur ganz wenigen Einstellungen sichtbar, unter anderem in der berühmten Schluss-Sequenz. Die Stadt Kalkutta – Rays Heimatstadt notabene – wird ansonsten vielmehr über ihre Gegensätze charakterisiert. Die Stadt, das ist der Ort, wo die Tradition der Moderne Platz macht; der Ort der sozialen Gegensätze; wo verschiedene Lebensentwürfe aufeinanderprallen. Der Ort, der Möglichkeiten bereithält, von de
Dokumentarischer Wert
Eine weitere Thematik klingt in Mahanagar an, eine, die ebenfalls ewig aktuell bleiben wird und die zu den ständig wiederkehrenden in Rays Filmen gehörte: Die Auswirkung der Arbeit auf den Menschen. Ich habe bereits erwähnt, wie sich die neue Erwerbstätigkeit auf Aratis Selbstbewusstsein auswirkt. Auf der anderen Seite sehen wir ihren Gatten in depressiver Teilnahmslosigkeit versinken, nachdem er seine Arbeit verloren hat. Und dessen pensionierter Vater erniedrigt sich selbst, indem er bei seinen früheren Studenten um Unterstützung anbetteln geht. Mahanagar ist eine Studie der damaligen indischen Gesellschaft, die dokumentarischen Wert hat – neben den erwähnten Hauptthemen berührt der Film auf einer “Nebenschiene” auch noch den damals in der indischen Gesellschaft vorherrschenden Rassismus gegenüber den aus Mischehen hervorgegangenen Anglo-Indern. Gleichzeitig vermag das Werk auf der Ebene der Charakterzeichnung sehr zu berühren, da Ray hier mit sehr viel Feingefühl und Verständnis vorgeht. Seine humanistische Haltung macht Mahanagar zu einem leuchtenden Beispiel des filmischen Realismus und erhebt ihn über das dokumenarische Moment hinaus. Mahanagar hat nach all den Jahrzehnten nichts von seiner Strahlkraft eingebüsst.
Die Lampe
Der Schluss von Mahanagar ist verhalten optimistisch: Subrata und Arati – beide haben ihre Arbeit verloren – machen sich voll Hoffnung auf, eine neue Arbeit zu finden. “Für einen von uns wird in dieser grossen Stadt doch etwas zu finden sein”, meint Subrata. Die beiden entfernen sich von der Kamera und tauchen in der Menge der Stadt unter.
Die Schlussaufnahme gefällt mir ganz besonders – dank Rays Antworten auf die bohrenden Sinnfragen eines Kritikers aus einem Interview.
Abspann:
–Satyajit Ray schrieb nicht nur die Drehbücher zu seinen Filmen selbst und war massgeblich am Casting beteiligt, er komponierte auch seine eigene Filmmusiken.
–Jaya Badhuri, heute bekannt als Jaya Bachchan Badhuri, ist eine der bekanntesten Filmschauspielerinnen Indiens; in Mahanagar hatte sie ihren ersten Filmauftritt (als kleine Schwester des Hauptprotagonisten). Ihre zweite Filmrolle bekam sie erst 1970, von da an war sie regelmässig und in grossen Rollen im Kino zu sehen. Heute ist sie Mitglied des indischen Parlaments.
-Für Haren Chatterjee, unvergesslich in der Rolle von Subratas Vater, blieb Mahanagar der einzige Filmauftritt; er war im “echten” Leben Sänger und Laienschauspieler.
–Mahanagar war der erste eines “Dreigespanns” von Filmen Rays, die alle nacheinander gedreht wurden, und die alle die Stellung der Frau in der damals modernen indischen Gesellschaft beleuchten. Die beiden anderen Filme waren Charulata (1964) und Kapurush (1965). Anlässlich der Berliner Filmfestspiele 1964 erhielt Mahanagar den silbernen Bären für die beste Regie.