Magdalena Taube & Krystin Woznicki (Hg.): Modell Autodidakt ... was ist eigentlich Bildung?

Von Derdigitaleflaneur

Ein Autodidakt (altgr. αὐτός autos, selbst‘ und διδάσκειν didaskein, lehren‘) ist jemand, der sich autodidaktisch (d.h. im Selbststudium) eine Bildung auf hohem Niveau aneignet. Anders als der Dilettant, der sein dem Autodidakten gegenüber meist geringeres Wissen zwar auch autodidaktisch erworben haben kann, strebt der Autodidakt in der Regel eine professionelle Anwendung seines Wissens an und mitunter auch dessen gesellschaftliche und wissenschaftliche Anerkennung. Quelle: Wikipedia

Was ist eigentlich Bildung? Bereits an dieser scheinbar banalen Frage scheiden sich die Geister, erregen sich die Gemüter. Kann Bildung verstanden werden als die per Dokumente beglaubigten Leistungen und Bewertungen, die "man getrost nach Hause tragen" kann? Oder sind nicht eher die schlecht protokollierbaren Soft Skills und stillen Bildungsresourcen bedeutender? 
Welches der beiden (idealtypisch verkürzten) Modelle wird in Zukunft eine größere Relevanz besitzen: die strategisch klug durchorganisierten, bruchlosen Bildungsbiografien mit frühem Abschluss oder eher das lebenslange, freiwillige & selbstmotivierte Weiterbildungsideal des LLL (Lifelong Learning) mit den bewussten Abzweigungen vom festgefügten, chronologischen Bildungsweg. Erst Ausbildung, dann Studium oder eben auch umgekehrt - dieser Weg ist in Deutschland kein vernachlässigbarer Minderheitendiskurs, sondern faktische Realität, der auch in der Bildungsorganisation begegnet werden muss. 
Sogenannte "gebrochene Biografien" galten lange (insbesondere im akademische Kosmos) als eher exotisch, nur eine Sparte kann eigentlich als Ausnahme gelten, innerhalb der Presse und der Medien galten Quereinsteiger als gern gesehene Ergänzungen zum klassisch ausgebildeten Fachpersonal - die vielseitigen Spezialisten mit Generalistenskills sind flexibel, vielseitig & im besten Falle durch ihre unorthodoxe Herangehensweise an einen spezifischen Sachverhalt erfolgsversprechend. Soweit so gut, aber die Kernfragen der aktuellen Diskussion drehen sich noch immer um die beiden altbekannte Faktoren: Was wird wann & wo benötigt - Generalisten oder Spezialisten - selten wird aber nach den Generalisten mit Randspezialisierungen gefragt - warum eigentlich?
Vielleicht glaubt man noch immer, dass alles Notwendige im Rahmen einer Lehre vermittelt werden kann. Übersehen wird dabei oftmals, dass verschiedene Bildungskompetenzen überhaupt nicht mehr im Rahmen der regulären schulischen, beruflichen oder akademischen Ausbildungen erworben werden können, auch weil es manchen Dozenten selbst an Kompetenz(en) mangelt. Oftmals sind die zeitintensiveren Vorbereitungen der Kinder auf die deutlich komplexer gewordene Arbeitswelt in den Lernplänen überhaupt nicht vorgesehen - dem Zeitdruck sei Dank. 
Ausserdem sind wir innerhalb der Bildungsvermittlungsinstanzen tagtäglich deutlich häufiger mit kompetitiven, denn kooperativen Lebensbewältigungsszenarien konfrontiert, der Frontalunterricht ist noch immer weit verbreitet, manch ein Dozent reißt seit Jahren den exakt gleichen Unterricht herunter und wer kennt nicht die Zugeständnisse an den zuständigen Prüfer, die schlußendlich zu einer Aufweichung der ursprünglichen Fragestellungen führen. Die Diagnose dieser Defizite ist jetzt aber keine wirkliche Neuigkeit, eine kritische Diskussion über sie steht noch immer aus.
Dabei ist Bildung heute mindestens dreierlei: Zunehmender Selektionsdruck, hilfreiches Distinktionsmerkmal, und praktisches Mittel zur Selbstbehauptung - und über all diese Faktoren muss gesprochen werden. Zum ersten - warum Selektion? Nun - der vermeintlich Ungebildete, der in der vertrackten Theoriesprache Unbehauste fällt raus. Die abstrakten sprachlichen Bilder und Anspielungen grenzen aus - oftmals intendiert. Welchen Nutzen diese Praxen besitzen sollen, erschliesst sich mir noch immer nicht. 
Bildung kann hilfreich sein, weil man schneller Anschlussstellen & Überschneidungen mit anderen Menschen entdecken kann, oftmals reicht eine Anspielung aus um einen dynamischen Austausch anzustossen, die Absicht ist ein kooperativer, ein spielerischer Austausch zwischen verwandten Geistern, anstelle einer bewussten sozialen Stigmatisierung des Anderen.  
Und zum dritten ist Bildung natürlich auch eine Immunisierungsstrategie gegen die skizzierten Abwertungskonzepte der Sozialphysik. Wer nichts weiss' muss nicht nur alles glauben, sondern kann auch nicht unterscheiden, ob ein eleganter Sprecher auch zugleich ein kluger Sprecher ist. Wie soll man auch die Nebelwände der Inszenierungsbefähigten durchschauen können, wenn man den Bildungshorizont des Anderen nicht besitzt/teilt? Bildung ist somit auch Selbstbefähigung zur Entzauberung und damit auch eine höchstpolitische Begabung - wie die Demaskierung verschiedener öffentlicher Personen in den letzten Monaten eindrücklich beweist.
Die beiden Herausgeber haben sich mit vergleichbaren Fragestellungen beschäftigt: Was ist (Herrschafts-)Wissen, was ist Bildung, wer darf sie besitzen, wieso ist Wissensvermittlung oftmals so strukturkonservativ, wie wird sie vermittelt, wer vermittelt sie und wie wird Wissen tradiert? Warum grenzt man bewusst Menschen aus und warum lehnt sich manch einer selbsthemmend gegen die unaufhaltbaren Veränderungen der Mediennutzungsgewohnheiten auf, statt sie zu geniessen? Fragen um Fragen. 
Die 21 hochkarätigen Autoren stellen in kurzen, sehr gut lesbaren Texten hellsichtig & gewitzt ihre persönlichen Bildungsbiografien und -ansichten dar. Unmöglich sie alle vorzustellen, ich möchte nur drei Autoren exemplarisch herausgreifen. Zum einen wäre Alain de Botton zu nennen, der als Journalist und Philosoph unter dem Titel "Schule des Lebens" kritische Fragen nach dem Nutzen des institutionellen Lernens formuliert - und glücklicherweise nicht beantwortet.  
Peter Glaser, Pionier des technophilen Popfeuilletons und möglichweise das bekannteste Mitglied des Chaos Computer Clubs, spottet in seinem Beitrag "Im Twitter-Stream ist kein Platz für Frontalunterricht" elegant gegen die Kritik an der fortschreitenden Demokratisierung des Wissens. Abschliessend möchte ich noch den ehemaligen Spexredakteur (inzwischen als Migrationsforscher tätig) Mark Terkessidis hinweisen, dessen charmant rotzige Schilderung der teilweise absurden Momente seiner Bildungsbiografie "mit Migrationshintergrund" einfach nur hinreissend ist.
Entstanden ist das Textkonvolut im Rahmen einer Untersuchung zum eigenverantwortlichen Selbststudium, die den Jahresschwerpunkt der Forschung des Netzjournals Berliner Gazette 2010 bildete. Bildungsorganisation, Widerständigkeit, Selbstermächtigung - alles sehr grosse (und hier hervorragend aufbereitete) Themen, die ich euch sehr ans Herz legen möchte und 12 Euro für 21 nachhaltige Denkanstösse erachte ich als prima Investition - greift hier zu.