Mael liebt es zu spielen und zu basteln.
Es gehört zum Schönsten am Elternsein, sich täglich an der Entwicklung der eigenen Kinder erfreuen zu dürfen. Vom ersten Lächeln, dem ersten Wort, über den ersten Schritt, die erste windelfreie und trockene Nacht bis hin zur ersten Velofahrt oder dem ersten Schultag – jeder Schritt macht die Eltern stolz und erfüllt sie mit Freude, jede Weiterentwicklung beruhigt sie und macht sie bezüglich der Zukunft zuversichtlich.
Umso schwerer ist es für Eltern, in ständiger Sorge und Angst beobachten zu müssen, dass die Entwicklung des eigenen Kindes ab einem bestimmten Punkt in seinem Leben sozusagen im Rückwärtsgang erfolgt. Maels Eltern müssen das, denn der fünfjährige Mael leidet an der seltenen Stoffwechselkrankheit Niemann Pick C. Maels Eltern wissen, dass sie ihr Kind auf schlimme Art und Weise schleichend verlieren werden. Sie schauen hilflos zu, wie Mael in Zukunft all seine erlangten Fähigkeiten wieder verlieren wird.
Niemann Pick C – unheilbar und tödlich
Mael wird regelmässig untersucht
Niemann Pick C ist eine Stoffwechselkrankheit, die zu einer Ansammlung von körpereigenem Cholesterin in verschiedensten Organen wie Milz, Leber, Lunge, Knochenmark und Gehirn führt. Als Folge der übermässigen Ansammlung von Cholesterin in den Zellen wird die Zellfunktion so erheblich gestört, dass es zum Zelltod kommt. Je nach Auswirkungen auf die betroffenen Organe variieren das Krankheitsbild und der Krankheitsverlauf sehr. Es wird meist unterschieden zwischen einer frühkindlichen, einer jugendlichen und einer erwachsenen Form. Die Krankheit zeigt sich vorwiegend durch neurologische Symptome und führt in der Regel in den ersten zwei Lebensjahrzehnten zum Tod. Mael hat im Moment eine rund dreifach vergrösserte Milz und bereits mehrere neurologische Symptome. Mael ist schweizweit der jüngste Niemann Pick C-Patient, liegt aber mit seinen 5 Jahren im internationalen Durchschnitt, da bei dieser Krankheit die ersten Symptome mit rund 6 Jahren auftreten. Niemann Pick C ist wenig erforscht und derzeit nicht heilbar. Maels Lebenserwartung liegt bei 16 Jahren.
Die schreckliche Diagnose
Mael und sein mittlerer Bruder Lian
„Maels Leben begann sehr kämpferisch,“ erinnert sich Mutter Claudia Oetterli. „Nach einer sehr langen und schwierigen Geburt, entwickelte sich Mael aber prächtig. Es gab keine Auffälligkeiten, im Gegenteil: er entwickelte sich sehr schnell und gut und wir erlebten wunderschöne Monate mit unserem Bub!“
Doch bereits im Alter von sechs Monaten kommt der Verdacht auf, dass etwas nicht stimmt: Bei einem Routinecheck beim Kinderarzt erwähnt Claudia Oetterli, dass Maels Bauch auf der rechten Seite sehr hart ist. Ein Ultraschall im Spital bestätigt, dass die Milz viel zu gross ist. Es folgen unzählige Untersuchungen, Blutentnahmen und schliesslich eine Knochenmarkpunktion, die den Verdacht auf Niemann Pick bringt, eine unheilbare Erbkrankheit, an welcher die meisten Kinder aufgrund des neurologischen Zerfalls zwischen dem 10. und 20. Lebensjahr sterben.
„Zu jenem Zeitpunkt konnte Mael schon seit mehreren Monaten laufen und er sprach bereits einige Wörter“, erinnert sich Claudia Oetterli weiter. „Er schien so gesund, so wunderbar und perfekt!“
Nach der Diagnose bricht die Welt von Claudia Oetterli und ihrem Ehemann Matthias innert Sekunden zusammen. Und als wäre dieser Schicksalsschlag nicht schwer genug, kommt zur Sorge um Mael nun auch die Angst um den ungeborenen Lian dazu, der mit einer Wahrscheinlichkeit von 25% ebenfalls an dieser tückischen Erbkrankheit leiden könnte. Claudia Oetterli war damals mit ihrem zweiten Kind im sechsten Monat schwanger. Zwischenzeitlich hoffen Oetterlis noch, dass es sich bei Mael vielleicht um den Typus B der Niemann Pick-Krankheit handeln könnte, die mildere Variante dieser Erbkrankheit.
Nach etlichen weiteren Untersuchungen steht aber nach einer zermürbenden Wartezeit von sechs Monaten schliesslich fest, dass Mael leider nicht am milderen Typ B, sondern am schwereren Typ C der Krankheit leidet. „Mein Mann und ich verloren den Boden unter den Füssen,“ erzählt Claudia Oetterli „wir konnten uns kaum aufrichten, so traurig waren wir. Zudem mussten wir immer noch damit rechnen, dass wir am Ende gar zwei Kinder an diese Krankheit verlieren würden. Es war kaum auszuhalten.“
Nur eine Woche nach Maels schrecklicher Diagnose steht immerhin fest, dass Lian nicht an Niemann Pick C erkrankt ist. Zerrissen zwischen der Erleichterung, dass Lian gesund ist und der unendlichen Trauer, dass Mael dieses Glück nicht hat, versucht das Ehepaar Oetterli, sich aufzuraffen, das Leben wieder in die Hand zu nehmen, um für ihre Buben, die sie so lieben, da zu sein.
Zurück zum schmerzlichen Alltag
Maels 4. Geburtstag
So normal Oetterlis auch wirken, so verrückt ist ihr Leben, weil es aus lauter Fragen besteht. Alles ist in Frage gestellt, egal, was Mael tut oder sagt, immer steht die Frage im Raum: Wie lange kann er es noch? Die neurologischen Herausforderungen werden immer schwieriger, ausserdem macht auch die grosse Milz Sorgen, da diese mit 18cm rund dreimal so gross ist, wie sie sein sollte. Sie nimmt deshalb einen Grossteil seines Bauchraumes ein und drückt auf weitere Organe.
„Dieses ständige Beobachten von Maels Verhalten stellt eine ganz grosse Last dar“, erklärt Claudia Oetterli, „immer und immer wieder analysieren wir ihn. Auch wenn wir so gut es geht versuchen, im Hier und Jetzt zu leben und nicht zu weit nach vorne zu blicken. Ständig begleiten uns Fragen wie: Welche Symptome werden demnächst auftreten? Ist sein Verhalten normal oder ist es schon die Krankheit, die sich bemerkbar macht? Das macht es nicht einfach, im Hier und Jetzt zu leben. Jedes Stolpern, jeder unsichere Schritt, jedes Wort, dass er falsch ausspricht, jeder Blick seiner Augen, der etwas „komisch“ ist, machen uns Angst. Die Angst vor den Symptomen und dem Fortschreiten der Krankheit ist ein riesiger ständiger Druck, der auf uns lastet.“
Mael ist kognitiv fast normal entwickelt. Er beobachtet viel, erzählt gerne, was die anderen Kinder machen, er nimmt alles ganz genau auf. Daher ist ihm schon seit längerer Zeit nicht entgangen, dass er anders ist. Doch was er genau weiss, das wissen auch seine Eltern nicht. Es gab eine Zeit, in der Mael viel traurig war. „Mami, wann geht das wieder weg?“, fragte er immerzu und bezog sich auf seine Milz.
Die Eltern versuchen Maels Fragen immer ehrlich zu beantworten, auch wenn dies nicht einfach ist. Mael hat den ganz normalen Wunsch eines jeden Kindes, gross und stark zu werden. Maels Aussagen am Familientisch wie „Mami, wenn ich gross bin, kann ich auch Auto fahren und ich werde dann auch einen Bart haben“ schmerzen unbeschreiblich schwer. Mael hat eine Zeit lang aber auch Fragen gestellt, die nicht altersgerecht waren: Brauche ich einen Rollstuhl? Kann ich überhaupt zur Schule gehen? Diese Fragen haben Oetterlis dazu bewogen, vorübergehend eine Kinderpsychiaterin miteinzubeziehen, die mit Mael zusammenarbeitet.
Oetterlis leben in einer ständigen Zerrissenheit: auf der einen Seite Mael, ein aufgestellter und fröhlicher Bub, der nicht weiss, wohin seine Reise geht, auf der anderen Seite seine Eltern, die das wissen, ihm aber trotzdem seine Fragen nach der Zukunft möglichst positiv beantworten, obwohl sie innerlich weinen, weil sie wissen, dass Mael nie gross und stark werden oder Auto fahren wird.
Maels Entwicklung geht so unerträglich gegen die natürliche Entwicklung eines gesunden Kindes, dass Oetterlis manchmal denken, es wäre einfacher zu verkraften, wenn Mael gewisse Symptome schon gehabt hätte und man sich darauf konzentrieren könnte, dass sich diese vielleicht verbessern. Doch das Wissen, dass NPC unheilbar und tödlich verläuft, das ist grausam und nur sehr schwer zu ertragen.
Maels fröhliche Welt
Mael liebt die Bewegung
Mael hat ein buntes Wochenprogramm: MuKi-Turnen, Schwimmen, Pony-Reiten, Spielgruppe. Maels Tage sind zur Zeit nicht viel anders als diejenigen eines gesunden 5-jährigen Buben. Von aussen betrachtet, ist Mael ein ganz normales Kind. Und doch gibt es Unterschiede: sein Tagesablauf ist durch die Einnahme der Medikamente stark strukturiert. Diese erfolgt drei Mal täglich und gibt auch den Mahlzeiten-Rhythmus vor, an den sich die ganze Familie halten muss. Ausserdem machen sich die ersten Einschränkungen bemerkbar: während andere Kinder in seinem Alter zum Beispiel Ski oder Velo fahren, ist das für Mael kein Thema, weil er unter anderem Koordinationsschwierigkeiten und schwache Muskeln hat und er schnell müde wird. Noch sieht man von aussen keine wirklichen Unterschiede zwischen Maels Welt und derjenigen eines gesunden Kindergartenbubs. Doch Mael ist jetzt schon anders als andere Buben in seinem Alter und irgendwann wird man das auch sehen, spätestens dann, wenn Mael nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen, sprechen oder nicht mehr schlucken kann.
Obwohl Maels Eltern es anfänglich nie in Erwägung gezogen haben, besucht Mael seit letzten Sommer nicht nur die Spielgruppe, sondern auch die Waldspielgruppe im Dorf. Es gefällt ihm sehr gut und er fühlt sich sehr wohl unter all den anderen Kindern. Die Gesellschaft der Kinder tut Mael gut und motiviert ihn zu besonderen Leistungen. Zum Beispiel mag er mit den Spielgruppenkinder ganz gut bis zum Wald und zurück spazieren, was sonst manchmal nicht ganz so einfach für ihn ist.
Mael besucht bald den Kindergarten
Diesen Sommer kommt Mael in den Kindergarten. Er wird diesen an der normalen Schule besuchen, betreut durch eine Klassenassistenz und eine Heilpädagogin der Stiftung Rodtegg. Den Kindergartenweg wird Mael allerdings nicht alleine gehen können, aufgrund seiner Schwierigkeiten beim Gehen und seinen Gleichgewichtsproblemen. Es ist zu gefährlich.
Am allerliebsten ist Mael mit seiner Familie zu Hause und geniesst das schöne Umfeld, das ihm zur Verfügung steht. Vieles im Alltag der Familie Oetterli dreht sich um Mael und dies wird wohl auch so bleiben. Aber Oetterlis geben täglich ihr Bestes, dass jedes einzelne Familienmitglied – unterdessen zählt nebst dem dreijährigen Lian auch der 17-monatige Nevin zur Familie – auf seine Kosten kommt und einen erfüllten Tag erleben darf.
Die Gefühlswelt der Eltern
Mael und sein kleiner Bruder Nevin
Unmittelbar nach der Diagnose wurden Maels Eltern im Spital psychologisch betreut. Heute kann Claudia Oetterli persönlich keinen grossen Nutzen mehr ziehen aus einer psychologischen Betreuung. „Es gibt nichts für mich, das man wegdiskutieren, keinen Knopf, den ich lösen könnte. Es ist so wie es ist“, sagt Claudia Oetterli traurig. „Wir können nichts machen, ausser unseren drei Buben das bestmögliche Leben im Hier und Jetzt zu ermöglichen und unseren ganzen Schmerz und unsere Trauer möglichst nicht an sie weiter zu geben.“
Dies ist aber alles andere als einfach. Gerade in den Anfangszeiten weinte Claudia Oetterli viel. Die beiden grösseren Buben, Mael und Lian, haben gespürt, dass etwas nicht stimmt. Und auch heute gibt es immer wieder Momente, in denen Tränen laufen und die Kinder nicht verstehen, weshalb.
„Der Schmerz ist permanent da,“ sagt Claudia Oetterli, „es gibt keine Minute, in der ich nicht daran denke, in der es nicht so furchtbar weh macht. Es gibt am Tag tausende von Inputs, die mir Schmerzen bereiten und Angst machen, weil sie mir vor Augen führen, dass alles was Mael macht, verloren gehen wird. Jedes Wort, jeder Schritt, jeder Gedanke, alles. Auch dann, wenn Mael etwas ganz speziell Schönes macht, wenn er aufgestellt ist, in den Momenten, in denen man doch nur das Glück sehen sollte. Denn Glück und Trauer sind bei uns oft ganz nah zusammen.“
Claudia Oetterli kann nachts nicht gut schlafen. Sie verfügt über keinen Knopf, an dem sie drehen könnte, um abschalten zu können. Immerzu drehen sich tausende Gedanken in ihrem Kopf. In ihrer kargen Freizeit liest Claudia viel über die Krankheit, sucht nach neuen Informationen, vernetzt sich weltweit mit betroffenen Eltern. Immer wieder wird sie mit den Folgen der Krankheit konfrontiert, doch sie lernt auch immer etwas Neues dabei. Auch wenn dies alles so schmerzvoll ist: Claudia Oetterli will lieber diese Krankheit kennen und kann dadurch ein bisschen besser mit dem Schicksal umgehen.
Claudia Oetterlis Ehemann Matthias hingegen hat zwar die Diagnose akzeptiert, aber sich ganz bewusst noch nicht mit den Folgen auseinander setzen wollen. Für ihn ist das Ende der Geschichte noch nicht geschrieben, da niemand genau sagen kann, wie es mit Mael weitergeht. Anfänglich erweckte das bei Claudia Oetterli den Eindruck, dass ihr Mann überhaupt nicht traurig sei und sie alles alleine tragen müsse.
Unterdessen akzeptieren Claudia und Matthias Oetterli die jeweiligen Standpunkte des anderen und können sich damit gegenseitig auch helfen. Matthias Oetterli sieht mehr und mehr, was alles auf Mael und auf die ganze Familie zukommen wird und kann auch besser nachvollziehen, weshalb seine Frau diesen ständigen Schmerz spürt und immer traurig ist. Sie malt nicht mehr ganz so dunkelschwarz wie unmittelbar nach der Diagnose. Das grosse Engagement für die beiden mitgegründeten Vereine NPSuisse und „Maels Leben“, die Auseinandersetzung mit der Krankheit und mit den Folgen für Mael und für die ganze Familie haben das Ehepaar Oetterli trotz unterschiedlicher Bewältigungsstrategien zusammengeschweisst.
Der Gang an die Öffentlichkeit
Mael ist ein Tiernarr
Nach der Diagnose erfahren Oetterlis, dass es in der Schweiz weitere Fälle von Niemann Pick C gibt. Diese Patienten sind allerdings alle älter als Mael und bei ihnen ist die Krankheit auch erst viel später als bei Mael ausgebrochen. Dennoch schliessen sich diese Familien zusammen und gründen den Verein „NPSuisse“. Ihr Ziel ist es, diese seltene Krankheit und die allgemeinen Probleme im Zusammenhang mit seltenen Krankheiten bekannt zu machen.
Das Echo ist sehr gross und der Verein wird mit zahlreichen Anfragen konfrontiert: viele verschiedene Medien portraitieren die Oetterlis und daraus entwickeln sich Themen, die auch auf politischer Ebene diskutiert werden und in der Schweiz etwas zum Thema „Seltene Krankheiten“ in Bewegung setzen können. „Es ist wichtig zu wissen, dass es so Krankheiten gibt“, sagt Claudia Oetterli, „auch für Eltern, die sich wegen Bananen-Flecken auf den T-Shirts ihrer Kinder aufregen. Bei allem Verständnis für banale Alltagssorgen, aber die Menschen müssen sensibilisiert werden, dass es auch anderes gibt. Und nicht nur das, sondern ganz viele weitere tragische Krankheiten, die Kinder betreffen. Seltene Krankheiten betreffen viele Menschen auf der ganzen Welt, einfach nur immer in kleinen Gruppen. Doch die damit verbundenen Probleme sind überall die gleichen: Finanzierungsprobleme, fehlende Forschung, hohe administrative Hürden und keine politische Strategie.“
Deshalb ist auch die Webseite www.maelsleben.ch entstanden – eine Kombination von Informationsplattform und persönlichem Krankheitstagebuch. Wer will, erfährt mehr über die Krankheit und kann von den Erfahrungen profitieren, die Oetterlis machen. Gleichzeitig kann Claudia Oetterli, die selber leidenschaftlich gern schreibt, auf dieser Plattform auch etwas Ballast ablegen. Auch auf Facebook sind Oetterlis präsent. „Wenn wir über diese Plattformen positive Rückmeldungen bekommen, gibt uns dies Kraft und wir wissen dann, dass wir nicht alleine sind, dass es Menschen gibt, die sich mit uns freuen und mit uns leiden“, so Claudia Oetterli.
Die Familie Oetterli hat viele gute Freundschaften, doch so richtig verstehen, können auch ihre Freunde kaum, was Oetterlis täglich durchleben. Deswegen sind für Oetterlis Kontakte zu Betroffenen so wichtig, weil diese dasselbe durchleben wie sie. So pflegt Claudia Oetterli gute internationale Kontakte, vor allem zu englischen und amerikanischen Familien, die genau am selben Punkt sind wie sie. „Dieser Austausch ist für mich sehr wichtig, „ sagt Claudia Oetterli „auch wenn es manchmal sehr schmerzt, weil man bei der anderen Familie genau das sieht, was man selber auch gerade erlebt oder in Zukunft erleben wird.“ In diesem Sommer wird Claudia Oetterli sogar an zwei NPC-Treffen in den USA teilnehmen.
Forschung ist die grösste Hoffnung
Oetterlis hoffen auf einen medizinischen Durchbruch
Ein ganz grosser Teil ihrer Kraft schöpfen Oetterlis aus der Hoffnung, die sich aber immer wieder verändert: „Als die Diagnose stand“, so Claudia Oetterli, „hofften wir, dass die Krankheit lange nicht ausbricht, wie in anderen bekannten Fällen nämlich erst mit 30 Jahren. Da diese Hoffnung mit der Bestätigung der ersten neurologischen Symptome rasch zerschmettert wurde, setzen wir nun alles auf einen medizinischen Durchbruch. Diese Hoffnung – und wenn sie noch so gering ist – hilft uns nach vorne zu schauen.“
Die grösste Hoffnung setzen sie in eine Studie mit dem Wirkstoff Cyclodextrin, die im Januar am National Institutes of Health (NIH) in den USA gestartet ist und in der zweiten Phase in frühestens einem Jahr auch in Europa durchgeführt werden soll. Der Wirkstoff wird über ein so genanntes „Ommaya-Reservoir“ verabreicht. Das Plastik-Element wird unter der Haut des Vorderkopfes eingepflanzt. Durch einen feinen Schlauch gelangt das Cyclodextrin dann ins Gehirn. Auch Cyclodextrin wäre keine Heilung, aber eine weitere Chance auf ein besseres und längeres Leben. Denn der Wirkstoff könnte die schädlichen Stoffe in den Zellen abtransportieren, was das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen oder gar stoppen könnte. Aber ohne Risiken ist eine solche Therapie nicht. Denn die Infusionen mit einem solchen Implantat im Gehirn haben ein ziemlich hohes Infektionsrisiko, was schwerwiegende Folgen haben könnte.
Nebst der sehr schwierigen Risikoabschätzung ist auch nicht sicher, ob Mael überhaupt an dieser Studie teilnehmen kann. Deshalb suchen Claudia und Matthias Oetterli auch Möglichkeiten, um die Therapie allenfalls mit einer Sonderbewilligung in der Schweiz zu starten. Es gibt noch unzählige offene Fragen und die wohl schwierigste ist für die Oetterlis, ob sie ein solches Risiko überhaupt eingehen wollen oder nicht. Es ist alles ein Wettlauf mit der Zeit. Denn auch wenn sie nicht wissen, wie sich die Krankheit entwickeln wird und wie viel Zeit Mael noch hat – sie wissen, dass sie ihren Sohn ohne einen medizinischen Durchbruch und eine neue Therapie verlieren werden. Jeden Tag ein bisschen.
Kraft schöpfen am Kap der guten Hoffnung
Ferien in Südafrika: Mael wollte Zebras auf Safari sehen
Die Oetterlis geben die Hoffnung nicht auf und kämpfen an verschiedenen Fronten weiter dafür, dass Mael möglichst lange ein erfülltes und glückliches Leben hat. Denn das ist das einzige, was sie im Moment für ihn und seine Brüder tun können. Besonders glücklich macht Mael die Reise nach Südafrika, die er gemeinsam mit der ganzen Familie im vergangenen März macht. Mael hegte schon länger den Wunsch, seine Lieblingstiere Zebra auf Safari in Afrika zu sehen. Seine Eltern erfüllen ihm diesen Traum und reisen zusammen mit der ganzen Familie nach Südafrika. Denn sie können solche Träume nicht in die Zukunft schieben, da sie nicht wissen, wie lange Mael überhaupt noch so eine Reise machen kann, wie lange sein Gesundheitszustand das zulässt. Und so nehmen sie jeden Tag nach dem anderen und versuchen zusammen mit ihren drei Buben so glücklich wie nur möglich zu sein und die vielen schönen Momente zu geniessen:
„Denn das Hier und Jetzt und die Liebe zu unseren Kindern – das ist das einzige, das zählt und uns auch diese Krankheit nicht nehmen wird“, sagt Claudia Oetterli.
weiterführende Links:
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