Machu Picchu

Von Konradek

Philip

Es roch nach nasser Kleidung, Schweiß. Regentropfen schlugen auf das blau-weiße Wellblechdach, auf die weißen Kacheln im Bad. Ein Lieferwagen wurde gerade betankt, eine Hebebühne gesenkt. Wir hörten Kenny Burell, auf dem weichen, muffigen Bett liegend. Sarah trank Rum mit Cola, ich trank ihn pur. Das Dröhnen schwerer Lastwagen erschütterte die Fenster. Es hätte der erste Geburtstag seit der Kindheit sein können, an dem ich keinen Tropfen Alkohol anrühre. Aber irgendwie sind uns am späten Nachmittag die Worte ausgegangen. Der Rest unsere Gruppe saß unten im Restaurant, und spielte Karten.

Wir mussten uns umentscheiden. Der Salkantay-Treck wurde zum zweiten Mal abgesagt: Starke Regenfälle machten Teilstrecken unpassierbar. Nun machten wir einen Dschungel-Treck nach Machu Picchu. Wir waren zunächst Mountainbiken. Treffender wäre ›Rafting mit Fahrrädern‹. Ich übertreibe nicht, wenn ich schreibe, ich wäre auf der Straße beinahe ertrunken.

Und, was glaubst Du, inwiefern hat sich Deine Reise … Du selbst verändert?‹
Sarah ließ sich Zeit. Nun kam Bud Powell. Bevor ihre Antwort kam, ran der Rum ein weiteres Mal meine Kehle hinab.
Hm … weißt Du … sehr … Du warst doch auch in Ecuador?
Ja.‹
Und hast bestimmt auch die Quilotoa-Lagune besucht?‹
Ja, wunderschön war’s – hast’e auch die Spitze des Cotopaxi gesehen?‹
Ja … hm ja … weißt Du, da gab’s so’n Typen, Philip. Ich hab den zufällig in Latacunga kennengelernt … so wie man halt Reisende kennenlernt … da war nichts sexuelles oder so … Er wollte mich unbedingt begleiten. Also, wir wir sind zusammen zur Lagune gefahren. Ham’ da am ersten Abend übernachtet und wollten am nächsten Tag am Kraterrand um die Lagune spazieren‹
Hm …‹
Du weißt wie steil und gefährlich das war …‹
Ja, nich`einfach auf 4.000 Metern Höhe … Sand, kaum Schilder, Hunde …‹
Wir ham’ uns verlaufen. Die Leute sagten, dass das Umranden … so ungefähr 6 Stunden dauert … es wurde spät, noch nich’ dunkel, aber der Nebel wurde dichter … es wurde kälter … wir waren schon seit über 6 Stunden unterwegs … und irgendwann rutschten wir auf dem Hosenboden … bestimmt 20 Minuten lang … wir wussten nicht weiter, standen an einer Sackgasse … der Pfad hörte einfach auf …‹
Ich schmunzelte.
Hm … weißt du … ich … wir waren irgendwie in Panik … es wird ja auch kalt da oben … also wir sind gerutscht und gerutscht und gerutscht und ich dachte ›hoffentlich sind wir richtig‹ … wir war’n aber nicht richtig … wir standen plötzlich an einer Klippe … zurück den Hang wieder hinauf würden wir Stunden brauchen … wir waren echt müde geworden … wir hatten zwar noch was zu essen, aber nich viel … fuck‹
Was’ los?‹
Sarah stockte.
Als … also, wir standen da auf dieser Klippe und Philip sagte er würde versuchen auf den Vorsprung zu springen … wir könnten nicht zurück … er reichte mir seinen Rucksack … und er sprang …‹
Sie schaut mich an. Mit Tränen in den Augen. Ein kalte Schauer durchflutete meinen Körper:
Fuck und er sprang … und ich weiß nich was los war … er sprang … ja, er sprang einfach und ich sah noch seinen Körper wie er unten aufschlug … ja … aufschlug und und dann vielleicht war es die Höhe die macht einen so so so … ich weiß nich …man verliert die Fassung … er …‹
Blut schoss in meinen Kopf. Sie erzählte noch sehr ausführlich über seinen Tod, über die Tage danach – sich immer wieder wiederholend. Und ich hätte nie im Leben eine solche Antwort erwartet. Ich wurde nachdenklich. Sarah weinte viel. ›Sarah, wenn wir jetzt nach unten essen gehen, die werden denken, ich hab dich geschlagen‹ … sie heiterte ein wenig auf. Ich nahm noch ein Schluck.

Am nächsten morgen standen wir alle um 6 Uhr auf. Wir frühstücken und marschierten los.

… selbst war enttäuschend. Für wenige Stunden folgten wir einem Inka-Pfad, durch schwülen Dschungel, an Hänge gebaute Treppen, später hauptsächlich auf Straßen, die auch von Fahrzeugen benutzt wurden. Es klingt makaber, wenn ich schreibe, dass der Höhepunkt der zweitägigen Wanderung ein Erdrutsch war, der uns zwang, einen Umweg durch ein Tal zu machen. Ich fragte David, unseren Führer, warum man die Straßen nicht von vornherein befestigt. Mit spöttischen Ton sagte er, dass die Gemeinden in den Bergen kein Geld dafür haben. Die Regierung ist lieber an Restaurants und Hotels in der Region interessiert … aber im April sind Neuwahlen in Peru. Das erklärte mir auch die Allgegenwärtigkeit der Propaganda, die des öfteren so absurd wirkt: Denn in manchen trostlosen, verwittern Dörfern, ist sie mit ihre farbigen Lettern und Signets, meist das Einzige, was Leben suggeriert.

Machu Picchu

Und dann saßen wir beide auf dem kalten feuchten Stein, am Recinto del Guardián, dem Häuschen, von dem aus das weltberühmte Postkartenmotiv, die verlorene Stadt der Inkas mit dem Huayna Picchu im Hintergrund aufgenommen wird. Irritierend, verstörend war es, eben keine Irritation, Begeisterung oder dergleichen zu spüren. Fast schon gleichgültig saßen wir auf dem kalten feuchten Stein und aßen Erdnüsse und Äpfel. Und diese Leere – ›vielleicht kommt das Gefühl noch, oder?‹ – versuchten wir mit Worten zu umschreiben. Aber vielleicht waren wir im Schockzustand, den man anfänglich auch nicht begreift. Nebel, immer wieder wehte milchiger nasser Nabel über die fast 500 Jahre alten Ruinen.

Und nun sitze ich hier, wieder in Cuzco und kann es kaum fassen diesen Ort gesehen zu haben. Ich würde gerne noch einmal dort hin, denn wir hatten Pech mit dem Wetter: Es war größtenteils nebelig, kalt und nass. Und wir waren erschöpft. Denn um 4 Uhr morgens mussten wir los, in Aguas Calientes, der dort gelegenen abscheulichen armseligen Tourismus-Hölle – Armut und die Chance mit DER Touristen-Attraktion schlechthin Geld zu verdienen, entschuldigen nicht alles. Bereits um halb Fünf morgens bildete sich eine Schlange vor dem Eingang. Warum so früh? Nun, zum einen gibt es nur ein begrenztes Kontingent an Freikarten für die Besteigung des Huayna Picchu – und bekanntlich fängt früher Vogel den Wurm. Des Weiteren sind morgens weniger Touristen auf Machu Picchu.

Nach dem beschwerlichen Aufstieg, verschnauften wir kurz. Unser Führer berichtete viele interessante Dinge über Machu Picchu. Zunächst einmal bedeutet Machu Picchu selbst ›alter Gipfel‹, der gegenüberliegende Berg Huayna Picchu, den man auf DEM Postkartenmotiv erblickt, bedeutet ›junger Gipfel‹. Den Inkas waren die Berge heilig, denn diese beschützen sie. Wer die über 5.000 Stufen zur verloren Stadt erklimmt, fragt sich natürlich, warum man diese Stadt, welche in ihrer Hochblüte um die Tausend Einwohner umfasste, ausgerechnet dort gegründet hat. Nun, erbaut wurde die Stadt vom Inka Pachacútec Yupanqui. Mit dem Bau wurde 1450 begonnen. Noch während der Spanischen Eroberung wurde an Machu Picchu gebaut. Yupanquin entschied sich aufgrund von Konflikten mit anderen Volksgruppen für diese Lage, sie schütze ihn quasi. Ferner bildet diese Region die natürliche Grenze zwischen Dschungel und Hochland, was zum einen den Anbau von Bananen und Koka, sowie die Kultivierung von Kartoffeln und Getreide erlaubt. Letztlich wird – aufgrund der Höhe (2.400 m. ü. NN) – auch die Nähe zum Sonnengott Inti, dem Yupanquin mit einem Kult huldigte, als Grund genannt. Beim näheren Betrachten der Architektur fällt auf, dass manche Häuser ohne Fugen gebaut wurden. Jeder Stein ist perfekt auf den anderen zugeschnitten. Diese besonders aufwendige Produktion war ausschließlich religiösen Stätten vorbehalten. Ein Grund für die lange Bauzeit Machu Picchus war das unheimlich mühsame Herstellen der passenden Steine: Die Sklaven der Inkas bohrten oder schlugen mithilfe von Metallen (wie Eisen oder Silber) Loch an Loch in die Felsen. In diese Löcher wurde trockenes Holz eingeführt, welches dann regelmäßig begossen wurde. Das Holz dehnte sich folglich aus – es wuchs – und der Felsen barst. So gewann man aus den Felsmassiven immer kleinere Steine. Um diese zu glätten, verwendete man ein schwarzes, noch härteres, Gestein und polierte mit Zunahme von Sand die ›Ziegel‹. Frappant ist die Symbolik der Ziffer ›3‹: Einige Gebäude haben beispielsweise nur drei Fenster oder drei Wände. Die Inkas gliederten ihre Welt in drei Spähren – in die des Kondors (Oberwelt), die des Menschen (Erde) und die der Schlange (Unterwelt).

Danach streiften wir fast den ganzen Tag durch die Ruinen Machu Picchus. Und erst jetzt begreife ich. Seltsam.