Unter dem Titel „Jetzt wird es ungemütlich“ erschienen in KONKRET 11/14
Wie die geopolitischen Auseinandersetzungen zwischen Ost und West die labile spätkapitalistische Weltwirtschaft zusätzlich destabilisieren.
Die westliche Wertegemeinschaft kann erste handfeste Erfolge bei ihrem Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation vorweisen. Während die russische Währung immer weiter abstürzt und Ende September mit einem Kurs von 39 Rubel gegenüber dem US-Dollar einen neuen Tiefstand erreichte, steht die Wirtschaft des flächenmäßig größten Landes der Welt am Rande der Rezession. Laut Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew kontrahierte die russische Ökonomie im ersten Quartal 2014 um 0,5 Prozent, wobei ein weiterer Rückgang der Wirtschaftsleistung dazu führen könne, das die Russische Föderation im ersten Halbjahr eine „technische Rezession“ erleben werde. Die nach unten revidierten Prognosen der russischen Regierung gehen für dieses Jahr dennoch von einem Wirtschaftswachstum von 0,5 Prozent aus, wobei für 2015 eine konjunkturelle Belebung erwartet wird, die das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 1,2 Prozent expandieren lassen soll.
Dieser optimistischen Einschätzung widersprach die Weltbank in einer Ende September publizierten Prognose, die Russland bestenfalls – sollten alle Sanktionen Ende 2014 schlagartig aufgehoben werden – in einer mehrjährigen Phase ökonomischer Stagnation versinken sieht, bei der das Wirtschaftswachstum sich im Promillebereich bewegen würde: „Die Wirtschaft befindet sich an der Schwelle zu einer Rezession und wird dort für einige Zeit bleiben“, erklärte die führende Russland-Analystin der Weltbank, Birgit Hansl, anlässlich der Vorstellung des Berichts. Demnach müsse sich Russland auf eine Phase anämischen Wachstums von 0,3 bis 0,4 Prozent in den kommenden zwei Jahren einstellen. Neben dem fallenden Konsum und der schwindenden Investitionsbereitschaft werden die fallenden Ölpreise die Konjunkturentwicklung in Russland zusätzlich belasten, meldete die Nachrichtenagentur Bloomberg ebenfalls Ende September. Russland, dessen Haushalseinnahmen zur guten Hälfte aus Steuern auf Energieträger bestünden, brauche einen Rohölpreis von über 100 US-Dollar, um eine Rezession langfristig zu vermeiden. Mitte September wurde das Barrel Rohöl bei 96,9 US-Dollar gehandelt (Futures der Sorte Brent), was einen Einbruch von 16 Prozent gegenüber dem Jahreshoch im Juni darstelle.
Dennoch scheint sich im Westen keine rechte Jubelstimmung über diesen erfolgreichen kleinen Wirtschaftskrieg einzustellen, da dessen Fallout inzwischen immer stärker die Europäische Union in Mitleidenschaft zieht. Die wechselseitigen Sanktionen zwischen Ost und West hätten die Befürchtungen verstärkt, dass „Europas Ökonomie in die Rezession zurückfallen könnte und in einer verlorenen Dekade zu versinken“ drohe, die ähnlich dem langfristigen deflationären Abschwung in Japan in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ausfallen würde, warnte etwa die Washington Times Mitte September.
Tatsächlich befindet sich die EU dank der deutschen Austeritätsmaximen, die den europäischen Krisenstaaten in Form drakonischer Sparauflagen oktroyiert wurden, auf dem besten Wege in eine ausgewachsene Deflation. Im zweiten Quartal stagnierte die Eurozone gegenüber dem Vorquartal, wobei Deutschland und Italien sogar leichte Kontraktionen des BIP erfuhren. Die New York Times zitierte Prognosen des Wirtschaftsforschungsunternehmens Markit Economics, denen zufolge der europäische Währungsraum bestenfalls auf ein Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent in diesem Jahr hoffen kann. Hinzu kommt der erlahmende Preisauftrieb, der aller Gelddruckerei der EZB zum Trotz kurz davor steht, die Schwelle zur Deflation zu überschreiten. Im August lag die Teuerungsrate in der Eurozone bei gerade mal 0,3 Prozent, im Juli waren es noch 0,4 Prozent. Zugleich sind offiziell rund 18,4 Millionen Lohnabhängige in dem EU-Währungsraum arbeitslos, was einer Arbeitslosenrate von 11,5 Prozent entspricht.
Deflationen wirken vor allem in hoch verschuldeten Wirtschaftsräumen verhängnisvoll, da sie zu einer Inflationierung der Schulden führen, die Nachfrage abwürgen und die Staatsfinanzen zerrütten. Sobald das Geld anfängt, an Wert zu gewinnen, steigt auch der Wert aller Schulden. Zudem führen fallende Preise dazu, dass die staatlichen Einnahmen aus der Mehrwertsteuer schrumpfen – wobei Deflationen ohnehin mit einer abnehmenden Konsumneigung der Verbraucher einhergehen, die dazu tendieren, wichtige Anschaffungen aufgrund fallender Preise tendenziell zu verzögern. Die Ratingagentur Fitch sprach folglich Mitte September von einer klassischen Deflationsspirale, die sich in der Eurozone ankündige. Selbst eine niedrige Deflation würde die durch Berlin europaweit forcierte Sparpolitik vollends ad absurdum führen und die Staatsschulden massiv erhöhen, so der Fitch-Report, der wörtlich vor einer deflationären Untergangsspirale („doom loop“) in der Eurozone warnte. Und an Schulden herrscht in dem neuen Europa, in dem in wirtschaftspolitischer Hinsicht nur noch „deutsch gesprochen“ (Volker Kauder) werde, nun wahrlich kein Mangel. Allein im ersten Quartal 2014 erhöhte sich der europäische Schuldenberg auf 93,9 Prozent des BIP, im Vorquartal waren es 92,7 Prozent. Im Klartzext: Binnen eines Quartals stiegen die Schulen der Eurozone um mehr als einen Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung. Eine Deflation mitsamt Rezession würde somit das Fortbestehen der europäische Währungsunion gefährden.
Es ist kein großes Mysterium, wieso die expansive Politik der EZB – die ja inzwischen geldpolitisches Neuland betrat und einen negativen Einlagenzins für Banken einführte – bislang die deflationären Tendenzen und die wirtschaftliche Stagnation nicht bekämpfen konnte. Ernsthafte Bemühungen zur Bekämpfung der Deflation würden darin bestehen, die „monetären Anreize mit fiskalen Anreizen“ zu koppeln und die „Wahnvorstellung eines exportgetriebenen Wachstums als Retter der Eurozone“ aufzugeben, schrieb CNN in einem Kommentar zum sich abzeichnenden Desaster. Notwendig seien „enorme Anstrengungen zur Steigerung der Nachfrage“ und zur Belebung des Lohnwachstums. Bislang stießen solche Ideen auf teutonischen Granit. Zuletzt hatte EZB-Chef Mario Draghi Ende August mit Forderungen nach dem Ende des Spardiktats für Unmut in Berlin gesorgt und sich einen erbosten Anruf von Angela Merkel eingehandelt, in dem diese wissen wolle, ob er den deutschen „Sparkurs in der Eurozone noch mitträgt“, so Spiegel-Online.
Die Eurozone befindet sich damit in einer weitaus kritischeren Lage als die Russische Föderation, so dass selbst der begrenzte ökonomische Effekt der Sanktionen ausreichen dürfte, um den Währungsraum endgültig in Richtung Rezession und Deflation zu treiben. Der Fallout des Wirtschaftskrieges zwischen Ost und West könnte somit den berühmten letzten Tropfen darstellen, der das durch exzessive Gelddruckerei und gigantische Liquiditätsblasen zusammengehaltene Krisenfass zum Überlaufen bringt.
Inzwischen wird auch der deutsche Neomerkantilismus, der die Krisenverwerfungen durch gigantische Ausfuhrüberschüsse und die Marginalisierung der europäischen Konkurrenz buchstäblich exportieren konnte, von den einsetzenden Wirtschaftsabschwung erfasst – einfach deswegen, weil dem Exportüberschussweltmeister die ausländischen Absatzmärkte in dem rasant zusammenbrechenden kapitalistischen Weltsystem zusehend abhanden kommen. „Jetzt wird es ungemütlich“, kommentierte die FAZ den überraschend starken Rückgang des als konjunktureller Frühindikator geltenden IFO-Geschäftsklimaindex Ende September. Als Gründe für den einsetzenden Abschwung nannte die FAZ die Folgen der Krise in der Ukraine, das mit sieben Prozent „enttäuschende“ Wachstum in China, sowie die anhaltende Wirtschaftsmisere in der Eurozone, hier insbesondere in Frankreich und Italien, wo mehr als zwölf Prozent der deutschen Ausfuhren abgesetzt werden.
Die Folgen der Sanktionsspirale zwischen dem Westen und Russland manifestieren sich beispielsweise für die deutsche Autoindustrie in einem massiven Einbruch des Autoabsatzes in der Russischen Föderation, der laut dem Branchenverband VDA im August um „fast 26 Prozent“ zurückging. Die „weltweite Autokonjunktur stehe auf der Kippe“, kommentierten Mitte September Analysten der Beratungsunternehmen Ernst & Young die Lage auf dem globalen Automarkt, der nur durch gute Zahlen aus den USA und China stabilisiert werde. Gleichwohl können die Autobauer ihre Hoffnungen auf steigende Absätze in den jahrelang als künftige Weltwirtschaftsmotoren gehypten Schwellenländern getrost fahren lassen. Um 17 Prozent sei der Autoabsatz etwa in Brasilien, das sich inzwischen in einer ausgewachsenen Rezession befindet, im vergangenen August eingebrochen, meldete die VDA.
Viele Schwellenländer befinden sich spätestens seit der Anfang 2014 eingeleiteten „Zinswende“ der amerikanischen Notenbank Fed im konjunkturellen Abschwung – oder bereits in Rezession und Krise. Der Versuch der US-Notenbank, die expansive Gelddruckerei und die historisch einmalige expansive Geldpolitik (der Leitzins verharrt seit inzwischen schon sechs Jahren bei 0,25 Prozent) wieder einzudämmen, hat die Träume von einem Anschluss der Schwellenländer an die kriselnden Zentren des kapitalistischen Weltsystems platzen lassen. Bis zum Oktober soll die stufenweise Aussetzung von Anleiheaufkäufen, die im September nur noch zehn Milliarden US-Dollar umfassen sollen, abgeschlossen sein. Zur Erinnerung: Die Fed hat im Gefolge der global platzenden Immobilienblasen mit Niedrigzinsen und den massiven Aufkäufen von Schrottpapieren das Weltfinanzsystem vor dem Zusammenbruch bewahrt – und die eigene Bilanzsumme von 900 Milliarden US-Dollar am Vorabend der Krise auf die Kleinigkeit von derzeit rund 4,5 Billionen US-Dollar anschwellen lassen.
Der Boom der Schwellenländer, der ihnen nach dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 2007/08 den Nimbus künftiger „Lokomotiven der Weltwirtschaft“ verschaffte, gründete gerade auf dieser expansiven Geldpolitik der US-Notenbank. Die weit geöffneten Geldschleusen der Fed haben nämlich das konjunkturelle Strohfeuer in den Schwellenländern in den vergangenen Jahren massiv befördert, da anlagewilliges Kapital auf der Suche nach höheren Renditen in diese Volkswirtschaften strömte. Die Kapitalzuflüsse in die Schwellenländer seien seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers von vier auf acht Billionen US-Dollar jährlich angeschwollen, erläuterte die Zeitung The Telegraph Anfang 2014. Das Wachstum vieler aufstrebender Volkswirtschaften wie Brasilien, Türkei oder Südafrika wurde somit maßgeblich von diesen Kapitalzuflüssen – und den korrespondierenden Verschuldungsprozessen – befeuert. Doch nun führt die Zinswende der Fed zu massiven Kapitalabflüssen aus den Schwellenländern in die USA – und sie treibt viele Schwellenländer in Schuldenkrisen, Rezessionen oder gleich, wie im Fall Argentiniens, in den (abermaligen) Staatsbankrott. Der kurzfristige Boom der Schwellenländer war somit nur ein Echo der geplatzten Defizitkonjunkturen und Schuldenblasen in den Zentren des kapitalistischen Weltsystems – eine Folge der Krisenmaßnahmen, die von der Fed nach 2008 eingeleitet worden waren.
Selbst China, das ja immer noch ein stabiles – wenn auch gegenüber früheren Zeiten vermindertes – Wachstum aufzeigt, ist von der globalen Schuldenexplosion voll ergriffen worden. Laut der Financial Times beliefen sich die Gesamtschulden der „Volksrepublik“ Ende Juli auf rund 250 Prozent des BIP, während diese Ende 2008 bei 147 Prozent des BIP lagen. China hat in den vergangenen Jahren offensichtlich eine Defizitkonjunktur durchlaufen – einen Aufschwung, der durch Schuldenmacherei befeuert wird.
Die Anfänge dieser chinesischen Defizitkonjunktur können relativ genau datiert werden: Mit dem Ausbruch der Finanz- und Weltwirtschaftskrise ab 2007 und 2008 geriet das bisherige chinesische Wirtschaftsmodell in die Krise. Bis zu diesem Zeitpunkt beruhte das stürmische Wachstum der Volksrepublik auf der Exportindustrie, die mit einem Millionenheer billiger und gut ausgebildeter ArbeiterInnen versorgt wurde. Die enormen Handels- und Leistungsbilanzüberschüsse Chinas bildeten bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise den mit Abstand wichtigsten Konjunkturmotor und die Quelle der gigantischen chinesischen Devisenreserven. Doch nach den massiven Wirtschafts- und Nachfrageeinbrüchen in den chinesischen Exportmärkten der USA und insbesondere Europas musste Peking reagieren: China legte ab 2008 das in Relation zur Wirtschaftsleistung weltweit größte Investitionsprogramm auf (es umfasste rund 12 Prozent des damaligen BIP!), das zur Grundlage der derzeitigen Schuldenblase wurde.
Chinas Wachstum war eigentlich schon seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts auf Verschuldung angewiesen – nur wurde sie bis 2008 exportiert. Irgendwer musste ja die Waren aufkaufen, die Chinas ArbeiterInnen produzierten, ohne selber konsumieren zu können. (Der Anteil des Konsums am chinesischen BIP sank von gut 50 Prozent in den frühen 90er Jahren auf nur noch 35 Prozent in 2011.) Diese Exportüberschüsse Chinas resultierten in einem gigantischen Leistungsbilanzüberschuss, der 2007 den Spitzenwert von 10 Prozent des chinesischen BIP überschritt. Das war nur möglich, weil sich die Zielländer der Exporte selber verschuldeten. Dies geschah in Form der sattsam bekannten Defizitkonjunkturen in den USA und Europa, die China die Anhäufung der riesigen Devisenreserven ermöglichten. Nach dem Platzen der Blasen in den USA und Teilen Europas – und dem Einbruch der chinesischen Handelsüberschüsse, die inzwischen niedriger sind als diejenigen Deutschlands – verlagerte China im Gefolge der gigantischen Konjunkturprogramme die Verschuldungsdynamik ins Binnenland, die damit anstelle der Exportmärkte zum Wachstumsmotor wurde.
Wie sehr das an seinen wachsenden inneren Widersprüchen zugrunde gehende spätkapitalistische Weltsystem in seiner Gesamtheit von Verschuldungsprozessen abhängig ist, machten Zahlen des alljährlich publizierten Geneva Report deutlich, dessen Autoren laut dem britischen Guardian vor einer „giftigen Kombination“ aus wachsenden Schulden und stagnierendem Wirtschaftswachstum warnten, die „eine neue Krise auslösen“ könnte. Der globale Schuldenberg wachse demnach „in einem ungebremsten Tempo“ an und habe inzwischen 212 Prozent der Weltwirtschaftsleistung erreicht, was einer Steigerung von 38 Prozent gegenüber dem Krisenjahr 2008 entspreche. Wurde die „Akkumulation von Schulden“ – die ja im Endeffekt die krisenbedingt erlahmende Kapitalakkumulation in der Warenproduktion prolongiert – bis zum Kriegsausbruch von den „entwickelten Volkswirtschaften angeführt“, so sind es nun vor allem die Schwellen- und Entwicklungsländer, die sich besonders stark verschulden, um einen an seiner eigenen Produktivität erstickenden Spätkapitalismus zusätzliche kreditfinanzierte Nachfrage zu verschaffen.
Dieser gigantische globale Schuldenturmbau steht selbstverständlich in Wechselwirkung mit der globalen Blasenbildung auf den Weltfinanzmärkten. Das US-Wirtschaftsportal Market-Watch beschrieb im vergangenen Juli („Dow 17,000 is on the wrong side of history“) den gespenstischen Charakter dieser gegenwärtigen Blasenbildung, die zu einer Verdreifachung der US-Aktienpreise seit deren Tief von 2009 führte. Während der Aktienbesitz innerhalb der erodierenden amerikanischen Mittelschicht rasch zurückgehe, seien es wenige institutionelle Großanleger, die die Preise für Wertpapiere nun in die Höhe schnellen lassen. Dabei befinde sich der Aktienboom in keiner vernünftigen Relation zur durchwachsenen und bestenfalls stagnierenden realwirtschaftlichen Entwicklung.
Dieser Auftrieb der Aktienpreise ist ebenfalls durch die besagten Krisenmaßnahmen der Geldpolitik ausgelöst worden, mit denen die Folgen der geplatzten Immobilienblase bekämpft wurden. Die Gelddruckerei der Fed sorgte zusammen mit dem historisch niedrigen Zinsniveau dafür, dass Aktien nicht aufgrund einer ökonomischen Erholung attraktiv wurden, sondern weil sie die letzte Option für profitable Investitionen darstellten. Die Weltfinanzmärkte in den Zentren befinden sich in der Liquiditätsblase, die noch durch die eingeleitete Zinswende der Fed befeuert wird, da Kapital aus den kriselnden Schwellenmärkten zurück in die Zentren strömt. Wenn die Diskrepanz zwischen fiktiver Kapitalakkumulation an den Finanzmärkten und der anämischen Realwirtschaft zu groß wird, muss auch diese Blase platzen. Der Geld- und Wirtschaftspolitik, die jetzt all ihre Handlungsmöglichkeiten voll ausgeschöpft hat, werden dann keine Optionen mehr zur Verfügung stehen, um die Krisendynamik noch einmal abzufangen. Spätestens dann dürften sich die Befürchtungen vor einer Hyperinflation als zutreffend erweisen: Die einsetzende wilde Flucht des fiktiven Kapitals aus den Finanzmärkten in Sachwerte wird eine massive Entwertung der Ware Geld mit sich bringen, Deflation wird in Stagflation umschlagen.
Die zunehmenden geopolitischen Auseinandersetzungen, die dieses höchst labile spätkapitalistische Wirtschaftssystem zusätzlich destabilisieren, bilden gerade eine Reaktion auf diesen Krisenprozess. Das Ganze gleicht einem Showdown auf der Titanic. Es findet ein wilder geopolitischer Machtkampf der kapitalistischen Großmächte statt, da ihnen krisenbedingt ihre ökonomische Basis abhanden kommt, wie es gerade am Beispiel der westlichen Intervention in der Ukraine offensichtlich wird: Die USA wollen mit ihrer Intervention den eigenen Abstieg als Welthegemon verzögern und den Dollar als Weltleitwährung stützen, indem sie die Herausbildung eines geschlossenen eurasischen Machtblocks vereiteln. Die EU wiederum möchte durch die Westbindung der Ukraine eine von Putin angestrebte eurasische Konkurrenzorganisation zur EU verhindern, um die europäischen Krisenstaaten – für die „Europa“ inzwischen zu einem preußischen Kasernenhof verkommen ist – nicht auf dumme Gedanken kommen zu lassen.
Gerade in der Ukraine spiegelt sich daher die Krisendynamik des Spätkapitalismus geradezu paradigmatisch. Wie konnte Kiew zu einem bloßen Objekt des neoimperialen Großmachtpokers zwischen Ost und West verkommen? Doch nur wegen der schweren Wirtschafts- und Schuldenkrise, die aufgrund eskalierender Leistungsbilanzdefizite (allein 2013 waren es mehr al Acht Prozent des BIP) und einer abstürzenden Landeswährung das verarmte Land an den Rand des Staatsbankrotts führte. Der drohende wirtschaftliche Zusammenbruch ließ die ökonomische Grundlage der staatlichen Souveränität der Ukraine erodieren – und er zwang die Staatsführung, sich zwischen der Einbindung in das russische oder das europäische Bündnissystem zu entscheiden. Aus der Sicht des Westens hat der damalige Präsident Janukowitsch nur die falsche Entscheidung getroffen.