«Macht und Politik sind heute voneinander geschieden»

Von Walter

Was früher zusammengehörte, hat sich immer mehr voneinander getrennt: Während die Politik im Wesentlichen lokal agiert, hat sich die Macht verflüssigt, vom Lokalen abgekoppelt und agiert global. So äussert sich der Sozialwissenschafter Zygmunt Bauman in einem Interview mit der spanischen Onlineportal eldiario.es. Übersetzung: Walter B.

Als wir in der Stiftung Rafael Pino zu einem Treffen mit dem polnisch-britischen Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman empfangen werden, bittet man als erstes die Fotografen, auf das fortgeschrittene Alter des Professors Rücksicht zu nehmen. Nur wenig später widerlegt Bauman seine vermeintliche Gebrechlichkeit. Ein grosser, gertenschlanker Herr in Schwarz durchquer ungeachtet des winterlichen Nieselregens mit aufrechtem Gang die ganze Terrasse und kommt auf uns zu. Seine geradlinige Erscheinung wird nur durch einzelne weisse Haarbüschel durchbrochen, die allseits von seinem kleinen Kopf abstehen.

Er scheint nur aus Nerven zu bestehen, ausgeglichen, ja, aber aus reinen Nerven, was sich etwa darin ausdrückt, dass seine langen Arme und hyperaktiven Hände nur mit Hilfe einer kleinen Pfeife und einem Feuerzeug zur Ruhe kommen. Dann wird sein Blick gesammelter und sucht unruhig Kontakt zu uns Journalisten, die wir um ihn herum absitzen.

Er ist umgänglich, ironisch und weder um ein Lächeln noch um einen Spass verlegen. Dieser freundliche Charakter steht im Gegensatz zu seinem pessimistischen Blick auf die Welt, gestützt von einer Vielzahl von Daten, die sein Buch «¿La riqueza de unos nos beneficia a todos?» enthält [etwa: «Nützt der Reichtum der einen uns allen?»], das soeben bei Paidós in spanischer Übersetzung erschienen ist. «Natürlich nicht», wird er während des Gesprächs ein ums andere Mal als Antwort auf die rhetorische Frage im Titel sagen und lange Ausführungen folgen lassen.

Bekanntlich verwendet Bauman den Begriff des Liquiden, Verflüssigten, um das Ende jeglicher Gewissheiten und der Integrität jener Institutionen zu bezeichnen, von denen man gemeinhin annimmt, dass sie die Grundlage unseres Lebenssystems darstellen. Noch beängstigender ist aber, dass seines Erachtens die Erfahrung ihren Wert verliert.

Das ganze gesammelte Wissen verliert seinen Nutzen, so sagt er, wenn man sich in einer verflüssigten Gesellschaft bewegt, in der die Arbeit ihren Wert verloren hat, ebenso wie das Wohlwollen, die Uneigennützigkeit und die Bindungsfähigkeit, und in welcher der Mitbürger im besten Fall reiner Konsument ist.

«Die Summe der Einkäufe eines Landes ist das Mass seines Glücks.» Dies ein Satz aus seinem neuen Buch. Der Autor erinnert daran, wie Expräsident George W. Bush, als die Zwillingstürme fielen, zu den Amerikanern sagte, um sie zu beruhigen: «Geht wieder einkaufen!»

Für Bauman hat die Zukunft nichts Erfreuliches: «Das Bild der künftigen Ungleichheit ist nicht wirklich vielversprechend.» Und diese Diagnose enthält wie alle anderen Überlegungen, auf die er sich einlässt, kein bisschen Optimismus. Auch getraut er sich nicht, einen möglichen Ausweg aus der grossen Krise aufzuzeigen. Womöglich kann man nur noch darauf hoffen, dass letztlich doch noch der gemeinsame gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnt und verhindert, dass wir an einen Punkt ohne Umkehr kommen. Vielleicht bemüht sich Bauman deshalb darum, äusserst didaktisch vorzugehen und keine einzige Frage summarisch zu beantworten.

Schon auf den ersten, an statistischem Material so reichen Seiten erhält man eine lapidare Antwort auf die Frage im Titel Ihres Buches.

Wir können den Zustand der Welt einschätzen, indem wir statistische Daten heranziehen und einen Mittelwert errechnen. Es fehlt uns nicht an Statistiken, die uns einen Durchschnittswert liefern. Aber den mittleren Menschen gibt es nicht. Er ist eine Fiktion: Die Menschen aus Fleisch und Blut leben in Ungleichheit. Sie leben nicht in Gleichheit. Sie sind intelligent und können durchaus feststellen, dass es sehr zweifelhaft ist zu behaupten, der Reichtum verbessere ihre Lebensqualität. Denn während es einigen Leuten tatsächlich besser geht, geht es anderen umso schlechter. Und die Leute reagieren nicht auf die generelle Höhe des mittleren Wohlstands, sondern auf die Unterschiede in der Bevölkerung. Neueste Untersuchungen, inbesondere eine erhellende Studie von Richard Wilkinson und Kate Picket, zeigen, dass die Lebensqualität der Gesellschaft als Ganzes – nicht die der einen oder anderen Gruppe, sondern die allgemeine Lebensqualität, die beeinträchtigt sein kann durch pathologische Erscheinungen wie Alkoholismus oder Teenagerschwangerschaften, letztlich durch alle Krankheiten der Gesellschaft – dass die Lebensqualität der Gesellschaft als Ganzes nicht mit dem mittleren Einkommen korrelliert, sondern mit dem Grad der Ungleichheit.

Das heisst, dass der Reichtum nicht nur den Sozialkörper nicht stärkt, sondern zudem die Kluft zwischen den Armen und den Reichen vertieft.

Der jüngste Einkommenszuwachs in Spanien verbessert die Lebensqualität, die Gesellschaft nicht. Der Verlust an Lebensqualität, der Krankheitsgrad der Gesellschaft, beides hängt mit der wachsenden Ungleichheit zusammen.

In Europa gab es die sogenannten glorreichen dreissig Jahre, die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Staaten intervenierten damals nach den Rezepten von John Maynard Keynes, dem grossen Ökonomen. Sie wollten damit nicht nur den Reichtum des Staates als Ganzes fördern, sondern diesen Reichtum auch so verteilen, dass alle einbezogen waren und auch etwas zu einer besseren Gesellschaft beitragen konnten.

Während dieser dreissig Jahre begann in Europa die Ungleichheit kleiner zu werden. 1970 drehte dieser Trend. Und heute setzt sich der neue Trend exponentiell fort. Erlauben Sie, dass ich aus dem Evangelii Gaudium zitiere, dem apostolischen Schreiben des Papstes Franziskus, in dem er sagt: «Während die Einkommen einiger weniger exponentiell steigen, sind die der Mehrheit immer weiter entfernt vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit.»

Der mangelnde Wohlstand führt zu einem Phänomen, das Sie im Buch Prekariat nennen.

Vor nicht allzu langer Zeit – ich bin ein sehr alter Mann und erinnere mich an Dinge, an die Sie sich nicht erinnern können, weil Sie zu jung sind – dachten die Menschen in Begriffen, welche die Mittelklasse von den Proletariern unterschieden, also einerseits Menschen in sicheren Lebensverhältnissen, die Geld hatten und vorwärts schauten und daran glaubten, dass das Leben besser würde, und anderseits Menschen, die im Elend lebten, sehr nahe oder unter der Armutsgrenze.

Dieser Gegensatz löst sich langsam auf, so dass  Mittelklasse und Proletariat eine gemeinsame Klasse auszubilden beginnen. Und diese nenne ich Prekariat, was sich von Unsicherheit, Ungewissheit, Französisch précarité, herleitet. Prekariat bezeichnet Menschen, deren Zukunft ungewiss ist. Die rohen Gesetze des Marktes bringen mit sich, dass eine Firma die Firma nebenan verschlingt. Und in der darauf folgenden Sparrunde gibt es Leute, die entlassen werden und ihren Lebensunterhalt verlieren. Der Lebensunterhalt ist kein sicherer Wert mehr.

Die Soziologen haben nach dem Zweiten Weltkrieg von einer Generation des Booms gesprochen, von einer Generation X, einer Generation Y, einer Generation soundso. Und heute sprechen sie von einer Generation weder noch: von Jungen, die weder Ausbildung noch Arbeit haben.

Sie sind die erste Generation, die nicht die Erfolge ihrer Eltern als Sprungbrett für die eigene Karriere benutzen können. Im Gegenteil: Sie sind kämpfen darum, die Voraussetzungen wiederzuerlangen, unter denen ihre Eltern gelebt haben und sich entwickeln konnten. Sie schauen nicht vorwärts, sie schauen zurück und sind in der Defensive. Das ist ein kolossaler Wandel.

Ist so gesehen die Pyramide als Bild für die soziale Struktur veraltet?

Ja, diese Pyramide entspricht nicht mehr der Wirklichkeit. Besser trifft es das Bild einer Kalebasse mit einer kleinen Kirsche oben drauf. In der Kalebasse steckt jedermann: die Proletarier, die Mittelklasse. Wir alle befinden uns in derselben Stimmung der Unsicherheit und Unklarheit, was die Zukunft betrifft.

Nach dem Zusammenbruch von 2007, der Spanien sehr hart traf, aber auch globale Auswirkungen hatte, kam es zu einer teilweisen «Erholung». Diese Erholung sollten wir in Anführungszeichen setzen. Denn über neunzig Prozent des Reichtums, der erzeugt wird, also des zusätzlichen Reichtums, kommt nur einem Prozent der Bevölkerung zugute. Der Rest verarmt.

Natürlich, das sind Statistiken, wie wir gesagt haben, wo man den Mittelwert sucht. Wenn wir alles zusammennehmen und auf die gesamte Bevölkerung verteilen, ergibt sich ein wirtschaftliches Wachstum. Aber hinter diesem Wachstum verstecken sich ganz andere Wirklichkeiten. Leute werden gezwungen, ihre Wohnung zu verlassen, oder verlieren ihre Arbeit. Und es gibt nur sehr wenige Möglichkeiten, etwas an dieser Situation zu ändern.

So komme ich denn zurück auf das, was ich am Anfang gesagt habe: Als ich jung war, gab es den weit verbreiteten Glauben, dass der Reichtum, den es oben, in der reichsten sozialen Schicht gab, nach unten sickert und dass alle auf die eine oder andere Weise daran teilhätten. Doch dies ist heute nicht mehr so. Wir können sagen, dass die neuen Milliardäre einen Schutzwall aufgebaut haben, der sie vom Rest der Bevölkerung trennt. Sie sind ganz oben angekommen und haben die Zugbrücke hochgezogen.

Geht es in einer solchen Sphäre der Ungleichheit nicht nur noch ums reine Überleben? Ist eine solche Gesellschaft überhaupt noch denkbar?

Wir sind im Begriff, uns von einer Gesellschaftsform zu verabschieden, welche die Dinge gemeinsam angeht. Das zerbröckelt. Früher führten etwa die gemeinsamen Verhandlungen zu gemeinsamen Arbeitsbedingungen für alle. Die Verhandlungsergebnisse wurden einheitlich angewandt. Die Leute, die in die grossen Büros oder Fabriken kamen, schauten sich um und sahen, dass alle in derselben Situation waren. Das war die Voraussetzung für Solidarität, für das Zusammenstehen Schulter an Schulter, für das gemeinsame Marschieren und die vereinten Kräfte. Alle für einen!

Heute ist das zerstört. Wenn du für jemanden arbeitest, weisst du genau, dass er von dir erwartet, dass du mehr tust als du kannst. Du musst zeigen, dass du ganz und gar unersetzbar, unentbehrlich bist, um sicherzugehen, dass du bei der nächsten Sparrunde bleiben kannst und es die andern sind, die hinausgeworfen werden.

Du gewinnst nichts, wenn du versuchst, die Kräfte zu bündeln. Wenn du es wagst, dies zu tun, werden sie dich als Rebellen bezeichnen und als ersten auf die Strasse stellen. Es gibt keinen Sinn, solidarisch zu sein. Es gibt einzig Sinn, konkurrenzfähig und gnadenlos zu sein, jede Person um dich her als Rivalen zu betrachten, als persönliche Gefahr.

Der Mensch gegen den Menschen?

Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf – was für die Wölfe durchaus eine Beleidigung ist. So steht es um die Dinge. Die Frage ist nur, wie sich nun die Politiker bewegen, die gleich von zwei Seiten unter Beschuss sind. Auf der einen Seite sind da die Wähler, denen sie Dinge versprechen müssen, damit sie wiedergewählt werden. Doch auf der anderen Seite ist das, was Manuel Castells den flüssigen Raum[1] nennt, dort wo sich das Finanzkapital, die Terroristen und die Drogenhändler bewegen.

Die flüssigen Räume zeichnen sich dadurch aus, dass sie von keiner lokalen Macht abhängig sind. Sie verhandeln nicht, wenn sie in eine schwierige Situation geraten, etwa mit spanischen Politikern oder dem spanischen Parlament, sondern sie gehen woanders hin, wo man ihren Interessen gegenüber aufgeschlossener ist, wo man ihnen keine Probleme bereitet. Wenn die Politiker nun den Wünschen ihrer Wähler folgen, riskieren sie, dass sich die Mächte, die sich in diesem flüssigen Raum aufhalten, ganz einfach verflüchtigen. Das ist der zweifache Beschuss. Die Politiker müssen das Unversöhnliche zu versöhnen versuchen.

Hören die Politiker auf Sie?

Die Interessen auf beiden Seiten des Schutzwalls sind nicht einfach zu vereinbaren. Als erste Reaktion auf den wirtschaftlichen Zusammenbruch wurden die Banken rekapitalisiert, was etwa dasselbe ist, wie wenn man Benzin nimmt, um einen Brand zu löschen. Das geschieht zurzeit.

Die Frage ist heute nicht, was man tun soll. Das können wir vernünftig diskutieren und sogar zu irgend einer Einigung kommen. Die Frage ist heute, wer es tun wird.

Wer soll das Nötige heute tun? Denn noch vor dreissig, vierzig Jahren glaubte ich – wie meine Zeitgenossen auch, und wir hatten daran keinen Zweifel –, dass die Regierung etwas auch umsetzen würde, wenn wir uns nur zusammenraufen und darauf einigen könnten, was denn zu tun sei. Denn die Regierung hatte in ihren Händen, eine Sache auch wirklich zu Ende zu führen. Aber heute …

Was sind denn die Voraussetzungen, um eine Sache zu Ende zu führen?

Eine Voraussetzung ist Macht. Macht ist das Vermögen, Dinge zu tun. Und Politik ist die Fähigkeit zu entscheiden, welche Dinge zu tun sind. Und der Staat hatte sowohl die Macht wie die Politik in seinen Händen, mit der er entscheiden konnte, welche Dinge zu tun sind, und die er dann auch zu Ende bringen konnte.

Heute sind – und ich betone es immer wieder – Macht und Politik voneinander geschieden. Die Macht bewegt sich im flüssigen Raum, wie Manuel Castells sagen würde. Doch die Politik hält sich immer noch im lokalen Raum auf, genau so wie im 19. Jahrhundert. Da hat sich nichts geändert. Sie ist lokal, im Raum der Orte, wie es Castells auch nennt.

Und indem diese Trennung voranschreitet, blockiert uns die Frage: Wer wird es tun? Auch die Regierung ist eindeutig durch diesen zweifachen Beschuss blockiert und weiss nicht weiter.


Anmerkungen:

[1] Manuel Castells: Der flüssige Raum und der Raum der Orte

Im ersteren kommen die Macht und der Reichtum zum Ausdruck: die Ströme des Kapitals, die Führung der multinationalen Unternehmen, die audiovisuellen Bilder, strategische Informationen, die technologischen Programme, der Drogenhandel, die kulturellen Moden, die kosmopolitischen Eliten. All dies geschieht jenseits jeglichen kulturellen und örtlichen Bezugs. Auf der anderen Seite ist der Raum der Orte, wo die täglichen Erfahrungen der meisten Leute stattfinden. Dieser Raum ist zunehmend lokal, während der flüssige Raum immer globaler, planetarischer wird.

Quelle: http://rua.ua.es/dspace/bitstream/10045/19655/1/DELHOGAR_DIGITAL_A_LA_CASA_RED_2008res.pdf (PDF, 610 KB, 8 S.)

– Das Interview mit Zygmunt Bauman führte der Journalist Miguel Roig. Es ist im Original auf eldario.es erschienen.

– Bildnachweis: Zygmunt Bauman, 2005 in Warschau. Foto: Mariusz Kubik (CC-Lizenz)


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