Lydia Tschukowskaja. Untertauchen

tschukowskaja_untertauchenDer Winter ist fast vorbei, in wenigen Tagen ist Frühlingsanfang. Wer sich noch ein letztes Mal verführen lassen möchte von den unzähligen Möglichkeiten, den Schnee zu beschreiben, der möge eintauchen in diese Geschichte. Puderiger Schnee. Schnee, der sich sanft auf alles legt. Diamanten glitzernder, scharfkantiger und eisig glänzender Schnee. Die junge Dichterin Nina Sergejewna erholt sich für einige Wochen in einem tief im Wald gelegenen Sanatorium und verwandelt mit ihrem besonderen Blick die Dinge um sich herum in reine Poesie … Tanzende Birken, mit Raureif besetzte Haselnusssträucher, schiefe Katen wie mit Kohle auf Papier skizziert.

Doch versteckt sich zwischen den Zeilen tiefe Melancholie. Auch die schönsten Naturbeschreibungen täuschen nicht darüber hinweg, dass in jenem Vorfrühling 1949 die Angst bestimmend war. Angst davor, die gesamte Intelligenzija könnte ein zweites Mal verhaftet und in Lager verbracht werden. Angst davor, es könnte ein “neues Jahr 1937″ geben.

Zwischen die Spaziergänge im Schnee und die klugen Gesprächen mit anderen Autoren und Literaturkritikern in diesem kleinen Ort Litwinowka, streut Nina Sergejewna die Gründe ihrer Angst. Bittere Passagen, kurzen harten Skizzen gleich, die in schmerzlichem Kontrast zu dem leuchtenden Weiß des zu Ende gehenden Winters stehen. Von unschuldigen Menschen in Lagern, denen ihre Angehörigen keine Briefe schreiben dürfen, weil sie längst erschossen worden waren. Von Denunziation und Angst, von Häftlingstransporten “in den Norden”. Von Professoren, die schuldlos ins Gefängnis gesteckt werden. Von einem jüdischen Verlag, der geschlossen wird und dessen Mitarbeiter ebenfalls verhaftet und ins Gefängnis gesteckt werden.

Dann wieder Verse von Lermontow, von Pasternak und Blok. Über russische Birken, heulende Nachtwinde und dichte Wälder. Eine zarte Hoffnung blüht auf, als sich zwischen Nikolaj Aleksandrowitsch Bilibin und Nina Sergejewna eine zarte Liebesgeschichte anbahnt . Doch zeigt sich, dass diese ebenso zerbrechlich ist, wie ein gefrorener Birkenzweig. Mit Schrecken wird mir wieder klar, dass die Dichter jener Zeit zwei Möglichkeiten hatten für ihr Schreiben: heroische Heldengeschichten über Menschen in der Produktion zu erzählen oder mutig die Wahrheit zu sagen und Repression und Verhaftung zu riskieren.

Lydia Tschukowskaja gehörte zu den mutigen Autorinnen ihrer Zeit. Sie wurde 1974 aus dem Sowjetischen Schriftstellerverband ausgeschlossen. Und wird von diesem Moment an zur Kategorie der Ausgestoßenen gehören, wie sie bitter in einer Rede vom 9. Januar 1974 bemerkt. Damit steht sie neben Autoren wie Achmatowa, Soschtschenko, Pasternak, Solschenizyn und vielen mehr. So sehr diese Namen sie mit Stolz erfüllen, so schmerzt Tschukowskaja das Gefühl, eine Ausgestoßene zu sein. Nicht gelesen. Nicht rezensiert. Vergessen.

Erst 1988 konnte der Roman Untertauchen in Moskau erscheinen. Die großartige Swetlana Geier hat ihn Jahre später ins Deutsche übersetzt. Und – endlich – in diesem Jahr ist er nun im Verlag Dörlemann erschienen. Was für ein langer Weg, damit wir ihn jetzt lesen und uns daran berauschen können. Ihn weiter geben, weiter empfehlen können. Ihn immer wieder in die Hand nehmen können. Denn liebevoll und ganz besonders gestaltet ist “Untertauchen” außerdem. Im hellen Leineneinband mit verschneiten Birken sowohl auf dem Cover als auch auf dem Vorsatzpapier. Ein Buch, das bleibt – auch im Frühling.

Eintauchen in “Untertauchen”: In ihrer Rezension schwärmt auch die Klappentexterin von diesem Roman und von der strahlenden, wunderschönen Poesie der Sprache seiner Autorin.

Lydia Tschukowskaja. Untertauchen. Aus dem Russischen von Swetlana  Geier. Mit einem Nachwort von Hans Jürgen Balmes. Dörlemann Verlag AG Zürich 2015. 256 Seiten. 18,90 €

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